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ECM-Jahresrückblick 2016 – What was played

Auch 2016 brachte ECM Records einige der markantesten Jazzalben des Jahres heraus, u.a. von Vijay Iyer, Tord Gustavsen und Jack DeJohnette sowie sensationelle Archivaufnahmen von Keith Jarrett.
ECM Records
ECM Records
08.12.2016
Mit Vijay Iyer, der erst 2014 mit dem Album “Mutations” seinen Einstand bei ECM Records gab, hat das von Manfred Eicher geleitete Münchner Label ECM Records zweifellos einen der großen neuen Stars des Jazz in seinen Reihen. Gerade erst erhielt der Pianist ein mit 50.000 US-Dollar dotiertes Künstler-Stipendium (USA Fellowship) der philantropischen Organisation United States Artists. Und in der jüngsten Down Beat Critics Poll wurde er – wie schon 2015 – erneut zum Jazzkünstler des Jahres gekürt. “a cosmic rhythm with each stroke”, Iyers Duo-Album mit dem Trompeter Wadada Leo Smith, war folglich auch eines der Highlights unter den diesjährigen ECM-Veröffentlichungen. Sehr viel positives Echo fanden im Laufe des Jahres aber auch neue Alben von Jack DeJohnette mit Ravi Coltrane und Matthew Garrison, Tord Gustavsen mit Simin Tander und Jarle Vespestad, Nik Bärtsch’s Mobile, Carla Bley, Wolfgang Muthspiel, der ehemaligen Weather-Reporter Miroslav Vitous und Peter Erskine, ein Gemeinschaftsprojekt von Tigran Hamasyan, Arve Henriksen, Eivind Aarset und Jan Bang sowie sensationelle Archivaufnahmen von Keith Jarrett. In einer dreiteiligen Presseschau lassen wir die wichtigsten ECM-Alben des ausklingenden Jahres noch einmal chronologisch Revue passieren.
Ches Smith, Craig Taborn & Mat Maneri: Geisterstunde besonderer Art
Schlagzeugern wird in Musikerwitzen stereotyp mangelndes Einfühlungsvermögen unterstellt. Dass solche Witze nichts mit der Realität gemein haben, beweist das Debütalbum von Ches Smith, den ECM-Fans bereits als Drummer von Time Bernes Band Snakeoil kennen. Denn Smith besticht auf “The Bell”  mit jazziger Kammermusik von ungewöhnlicher Dynamik. Zur Seite standen ihm bei den Aufnahmen mit Pianist Craig Taborn und Bratschist Mat Maneri zwei wahre Meister der modernen Improvisation. “Eine Geisterstunde besonderer Art”, befand Karl Lippegaus in Stereo, “wobei sich als eigentlicher Motor des Ganzen der Pianist Craig Taborn entpuppt. Um dessen gezielt platzierte Strukturen rankt sich schön das mikrotonale Spiel des Bratschisten Mat Maneri. Während Ches Smith vor der Aufgabe steht, so minimalistisch wie möglich diese feinen Interaktionen zu kommentieren – was den dreien glänzend gelingt.”
Ben Monder: Faszinierendes Wunderwerk im schwerelosen Raum
Die hohe Kunst der vornehmen Zurückhaltung beherrschen auch die beiden Schlagzeuger, mit denen der Gitarrist Ben Monder "Amorphae", sein erstes Soloalbum für ECM, eingespielt hat: Paul Motian und Andrew Cyrille. Im Bayerischen Rundfunk meinte Markus Mayer über das Album: “Der New Yorker Gitarrist Ben Monder improvisiert auf seinem Solo-Album nur über eine geschriebene Melodie, nämlich über das hymnische ‘Oh What A Beautiful Morning’ aus dem Musical Oklahoma. Der Rest von Monders Album sind freie Improvisationen, sparsam inszenierte Klang-Installationen, spröde und abstrakt, erzeugt auf Analog-Synthesizern, auf E-Gitarre und Effektgeräten, unterlegt von gelegentlichen Trommelschlägen und vibrierenden Becken. Als würde sich Ben Monder im schwerelosen Raum bewegen, so klingt die Musik. Kein Wunder, dass David Bowie den ungewöhnlichen Gitarristen für die Aufnahmen seines letzten Albums ins Studio lud. ‘Amorphae’, Ben Monders faszinierendes Wunderwerk ist beim Münchner ECM-Label erschienen.”
Michel Benita & Ethics: Wie ein sanft mäandernder Fluss
Der aus Algerien stammende Bassist Michel Benita gründete sein multinationales Ethics-Ensemble 2010 mit dem ausdrücklichen Vorsatz, mit ihm eine Vermählung von Jazz und globaler Folkmusik herbeizuführen. Mit “River Silver” legte die fünfköpfige Band 2016 endlich ihr lange erwartetes zweites Album vor. “Mit dem Schweizer Flügelhornisten Matthieu Michel, der japanischen Koto-Spielerin Mieko Miyazaki, dem norwegischen Gitarristen und Soundtüftler Eivind Aarset und dem französischen Schlagzeuger Philippe Garcia hat Benita eine außergewöhnliche Truppe um sich geschart, die, einem sanft mäandernden Fluss gleich, Grenzen überschreitet”, beobachtete Andreas Collet in der Badischen Zeitung. “Gerade die Verbindung von Miyazakis 13-saitiger Wölbbrettzither und den flächigen Klangteppichen Aarsets erweist sich als glückliche Fügung. […] eine musikalische Perle.”
Tord Gustavsen, Simin Tander & Jarle Vespestad: Vision einer neuen Art von musikalischer Fusion
Pianist Tord Gustavsen ist kein Freund radikaler Umbrüche. “Die Musik”, meint er, “muss aus meinem inneren Kern kommen und einen Bezug zu dem haben, was ich vorher gemacht habe.” Und so nahm er auf seinem jüngsten Album “What was said”, das gerade mit dem Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde, im Prinzip nur eine kleine Umbesetzung vor, die allerdings große Wirkung entfaltete. Denn Mats Eilertsen, der zuvor auf Gustavsens drei Trio- und drei Quartett-Alben für ECM mitgespielt hatte, ersetzte er nicht etwa durch einen anderen Bassisten, sondern durch die deutsch-afghanischen Sängerin Simin Tander. Auf “All About Jazz” meinte Mark Sullivan: “So unorthodox die Überkreuz-Übersetzungen zunächst auch scheinen mögen, Tander schafft es, sie vollkommen natürlich klingen zu lassen. Ihre intime, lyrische Stimme ist in beiden Sprachen [Pashto und Englisch] gleichermaßen zuhause, sie versteht es aber auch wortlose Vokalisen zu singen und zu improvisieren. Gustavsen setzt das Klavier immer noch als sein Hauptinstrument ein, erweitert es jedoch durch diskrete Elektronik und gelegentliche Einsätze eines Synthesizer-Basses, während Vespestad – je nach Bedarf – perkussive Strukturen beisteuert oder als reiner Taktgeber fungiert. Die Gruppe ist also ein echtes Trio, nicht nur eine Sängerin mit Begleitern […] ‘What was said’ offenbart eine leise überraschende Vision einer neuen Art von musikalischer Fusion.”
Avishai Cohen: Melancholie gespeist aus privatem Schmerz
“The most beautiful sound next to silence”lautete einst das Motto von ECM Records. Daran fühlt man sich spontan erinnert, wenn man “Into The Silence” hört, das ECM-Solodebüt des israelischen Trompeters Avishai Cohen hört. Das Album ist ein ungeheuer bewegender Tribut an den kurz vor den Aufnahmen verstorbenen Vater des Protagonisten. “Der Trompeter Avishai Cohen zeigt auf seinem grandiosen neuen Album, wie man Vorbildern entkommt”, befand Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung. “Es ist für einen Trompeter mit Hang zu Melancholie wie Avishai Cohen nicht leicht, dem Schatten von Miles Davis zu entkommen. Man stutzt bei seinem neuen Album ‘Into The Silence’ auch erst einmal. Da spielt er gleich zu Beginn auf der gestopften Trompete über Pausen, mit denen die Rhythmusgruppe fast stärkere Akzente setzt als mit ihrer minimalistischen Begleitung. Das fesselt vom ersten Moment an, weil da eine Vertrautheit entsteht […] Die Melancholie speist sich hier nicht aus dem Kanon des Cool, sondern aus einem Moment des sehr privaten Schmerzes. Cohen schrieb die Stücke in der Zeit nach dem Tod seines Vaters. Wie manisch hörte er damals die Klaviermusik von Sergej Rachmaninow. Diese Wucht reduzierte Cohen auf dem Album konsequent. Zurückhaltung ist Programm. Klavier, Kontrabass und das extrem sparsame Schlagzeug halten die Spannung über das gesamte Album mithilfe dieser strategischen Pausen.”
Michael Formanek & Ensemble Kolossus: charakteristische Stimmen zu einem Ganzen vereint
Mit ECM Records assoziieren viele Musikfans zunächst einmal unzählige bahnbrechende Soloaufnahmen und Einspielungen diversester kleiner Ensembles. Aber das Label ließ auch immer wieder mit ambitionierten Orchesteralben im Bereich des Jazz und der improvisierten Musik aufhorchen. Ein solches legte der Bassist Michael Formanek dieses Jahr unter dem Titel “The Distance” mit seinem Ensemble Kolossus vor, in dem er einige der markantesten Musiker der New Yorker Szene um sich sammelte."Bei Musikern wie Tim Berne, Ralph Alessi oder Mary Halvorson denkt man nicht in erster Linie an Satzspieler in einem genau auskomponierten Klangbild", meinte Peter Bürli im Kulturtipp. “Diese US-Jazzer sind bekannt als kraftvolle Improvisatoren mit eigenem Sound. Der Bassist und Komponist Michael Formanek hat es mit seinem Ensemble Kolossus geschafft, diese charakteristischen Stimmen zu einem Ganzen zusammenzubringen. Dazu braucht es große Ohren und eine präzise Vision.”
Jon Balke: Improvisationen zwischen Poesie und Impressionismus
“Ich bin am Klang von Räumen interessiert und daran, wie er uns beeinflusst”, sagt Jon Balke. Auf jedem seiner ECM-Alben hat einem der norwegische Pianist einen anderen Blick auf den Prozess der Improvisation eröffnet. Auf “Warp” meditiert er über die Natur des Solospiels und den Einfluss von Außenklängen. Balke prüft hier, auf welche Weisen “ein einsamer Musiker, in seine eigene ästethische Wolke eingehüllt, mit der Welt interagiert, oder wie die Welt in seinen Raum eindringt. Wie die Welt in der Kunst widerhallt und umgekehrt.” Für “Nordische Musik” notierte Ingo J. Biermann über das Album: “Zu hören sind die unterschiedlichsten ‘Environments’: atmosphärische Field Recordings aus der Natur am Randsfjord, wo Balke und Audun Kleive nach den Pianoaufnahmen im Rainbow Studio an den Sound Images bastelten, aus der Straßenbahn in Oslo, elektronische Elemente, ferne Gesangaufnahmen mit Mattis Myrland und Wenche Losnegaard oder auch mal die akustische Kulisse eines Spielplatzes, nie aufdringlich und vordergründig wohlgemerkt. […] Doch der Fokus ist zu jedem Zeitpunkt der Flügel, die poetischen, ebenfalls impressionistischen Improvisationen, die Balkes hohe Meisterschaft als Maler am Flügel ausweisen. Der Interpret und die künstlich geschaffenen Räume gehen eine faszinierend emotionale, sich durchweg gegenseitig bereichernde Beziehung miteinander ein, eine Einladung, sich das alltägliche Hören zu erleben.”
Ralph Alessi Quartet: eine Einheit von blindem Einverständnis
Ralph Alessi ist seit langem als “musician’s musician” bekannt, ein gefragter Trompeter in New York, der buchstäblich alles vom Blatt spielen kann und schon in Gruppen von Steve Coleman, Uri Caine, Ravi Coltrane, Fred Hersch und Don Byron glänzte, aber natürlich auch mit eigenen Bands auftritt und Alben macht. Seine Qualitäten als Leader zeigte er auf seinem zweiten ECM-Album “Quiver”. “Die schönsten Momente stellen sich ein, im dichten, rational nicht zu quantifizierenden Interplay eines fabelhaften Quartetts, das insgesamt die Equilibristik meistert, die Alessi selbst in seinem vitalen und subtilen, strahlenden und poetischen Trompetenspiel auszeichnet”, schrieb Peter Rüedi in der Weltwoche. "Seine Kompositionen sind tricky, aber sie gewinnen im Lauf ihrer improvisatorischen Entfaltung eine erzählerische Logik, die auf Anhieb einleuchtet. Dieses Quartett (mit Alessis altvertrauter Rhythmik, dem fundamentalen Drew Gress am Bass und dem fliegenden Nasheet Waits am Schlagzeug, am Piano anstelle des explosiven Jason Moran der eine Nuance lyrischere, sparsamere Gary Versace) – diese Band, eine  Einheit von blindem Einverständnis, macht eine Musik, die eine Art Quadratur des Kreises ist: gleichzeitig evident und überraschend."
 Anat Fort Trio & Gianluigi Trovesi: Gelungenes Integrationsprojekt
Seit rund fünfzehn Jahren spielt die israelische Pianistin Anat Fort nun schon im Trio mit dem US-Bassisten Gary Wang und dem deutschen Schlagzeuger Roland Schneider zusammen. In dieser Zeit haben die drei Musiker natürlich eine ganz eigene Chemie entwickelt. Für einen Außenstehenden wie den italienischen Klarinettisten Gianluigi Trovesi ist es da kein Leichtes, sich voll zu integrieren. Doch genau dies ist ihm auf dem gemeinsamen Album “Birdwatching” exzeptionell gelungen. "Es gibt Momente auf ‘Birdwatching’, in denen Anat Forts Heimatland kurz aufblitzt, hörbar durch ihre Art und Weise, Melodien zu formulieren, wie man sie auch vom israelischen Folksong kennt”, meinte Jonathan Scheiner von Deutschlandradio Kultur. “Doch Anat Forts Neigung zu einfachen singbaren Melodien wird spätestens durch Trovesis herzhaft-knackigen Klarinetten-Sound konterkariert. Ohnehin wird auf den zwölf Song ein weites musikalisches Feld beackert, indem neben improvisierten Solostücken auch das Trio ausgiebig Platz hat, sein langjähriges Eingespieltsein zu demonstrieren.”
 Vijay Iyer & Wadada Leo Smith: Einmalig, jenseits aller Kategorien
“Held, Freund und Lehrer” – für den Pianisten Vijay Iyer ist der Trompeter Wadada Leo Smith all dies in Personalunion. Auf dem Duo-Album “a cosmic rhythm with each stroke” vertiefen sie ihre improvisierten Zwiegespräche, die sie vor ein paar Jahren in Smiths Golden Quartet begannen. Herzstück des Albums ist die faszinierende siebenteilige Suite, die dem Album auch ihren Titel gab und der indischen Künstlerin Nasreen Mohamedi (1937–1990) gewidmet ist. Der Guardian nahm “a cosmic rhythm with each stroke” Ende Juni überraschend in seine Halbjahresbestenliste auf – Seite an Seite mit Alben von Beyoncé, Kanye West, Rihanna, Drake, Radiohead, Megadeth, Anohni und David Bowie. “Smith ist ein ungemein intensiver, immer melodiebezogener freier Improvisator mit einem jenseitig glänzenden Trompeten-Sound, agil wie Don Cherry und mächtig wie Lester Bowie”, urteilte Peter Rüedi in der Weltwoche, “und Iyers verwobene Klavierkunst, mal einfühlsam bis an die Grenzen der Selbstpreisgabe, dann wieder als starker Gegenpart sich prägnant behauptend, ist, wie diese Musik insgesamt, un-erhört. Einmalig, jenseits aller Kategorien.”
Ferenc Snétberger: unaufdringlich brillanter Geschichtenerzähler
Auf seinem ECM-Debütalbum “In Concert offenbart der ungarische Gitarrenvirtuose Ferenc Snétberger  ein schillerndes Spektrum an Einflüssen: von Jim Hall und Django Reinhardt über Egberto Gismonti und Johann Sebastian Bach bis zu Tango Nuevo, Flamenco und freier Improvisation. In Jazzthing merkte Ulrich Steinmetzger an: “Obwohl in freien Entwicklungen aus dem Moment heraus entstanden, ist das Jazz nur unter anderem, denn dieser mit Intimität und Integrität beeindruckende Musiker fusioniert Elemente von Bach, Bossa, Flamenco und Klängen seiner Herkunft in seinen Gedankenströmen. Jenseits der Genregrenzen also bricht dieser Gitarrist auf und fügt alles zu einem seltenen Solitär des Wohlklangs […] Snétberger ist ein unaufdringlich brillanter Geschichtenerzähler.” Im SüdwestRundfunk urteilte Georg Waßmuth: “Ferenc Snétberger ist im Lauf seiner langen Karriere an der Seite vieler herausragender Künstler gereift, das kann man auch bei der Solo-Produktion ‘In Concert’ deutlich heraushören. Man spielt nicht gemeinsam mit dem Trompeter Markus Stockhausen oder dem legendären Gitarristen Charlie Byrd ohne Rückkoppelung auf das Eigene. Trotzdem fällt auf, dass Snétberger einen ganz eigenen Stil kultiviert hat. ‘Con eleganza’ spielt dieser Meister auf höchstem Niveau, jenseits aller technischen Hürden.”
Nik Bärtsch’s Mobile: Magie eines fein getunten Mechanismus
Geschlagene fünfzehn Jahre sind verstrichen, seit der Schweizer Pianist und Komponist Nik Bärtsch mit dem akustischen Quartett Mobile “Ritual Groove Music” veröffentlichte. Nun belebte er dieses Ensemble in leicht geänderter Besetzung wieder, um mit ihm und einem Streichquintett auf “Continuum” erstmals das kammemusikalische Potenzial seiner rituellen Groove-Musik auszuloten. “Das neue Album”, schrieb Üeli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung, “hat Bärtsch mit seinem Quartett Mobile aufgenommen – mit den Schlagzeugern Kaspar Rast und Nicolas Stocker sowie mit Sha an der (Kontra-)Bassklarinette; in drei Stücken stösst überdies ein Streichquintett dazu. Bärtsch weiss von diesen klanglichen Möglichkeiten zu profitieren. In der klanglichen Verdichtung von Mobile schlägt der fein getunte Mechanismus der Instrumente nicht selten in etwas Magisches um, das den rituellen Charakter dieser Musik unterstreicht. Doch wird die Strenge und Prägnanz der Vorgaben nun immer wieder durch klangliche Vielfalt und stilistische Varianten umspielt. Wo der Flügel zunächst für flirrende Impressionen sorgt, erhitzt er sich später zu einem wütenden Furor, der sich in tremoloartigen Fugen entlädt. Und wenn Mobile einen Klang kultiviert, der den Raum einbezieht, um in ihm quasi die Zeit atmen zu lassen, so schaffen die diskret und doch pointiert eingesetzten Streicherklänge flächige Farbigkeit und pulsierende Expressivität.”
Wolfert Brederode Trio: schlanker, unaufgeregter Spielfluss
Nach zwei abenteuerlichen Quartett-Alben ist der niederländische Pianist Wolfert Brederode auf “Black Ice” wieder zum Trio-Format zurückgekehrt. Der Titel ist eine treffende Metapher für die neue Musik mit ihrem schimmerndem Lyrismus, ihrer Transparenz und einem Hauch von Bedrohlichkeit. “Ich finde die Kombination von Bedrohlichkeit und Schönheit faszinierend”, meint der Pianist. Sowohl Brederode als auch der isländische Bassist Gulli Gudmundsson warten mit geschmeidigen melodischen Einfällen auf, während sich der einfallsreiche, feinfühlige Schlagzeuger Jasper van Hulten als kongeniale Ergänzung des eingespielten Teams erweist. “Brederode”, so Stefan Pieper in Jazzthetik, “besinnt sich auf den schlanken, unaufgeregten Spielfluss, der viel melodische Gabe und durch subtilen Einsatz von Dur/Moll-Kontrasten auch solide klassische Prägung erkennen lässt. Also wirkt die Interaktion auf dieser schwarz-becoverten Platte doch alles andere als ‘eisig’ – viel Wärme hat sie vor allem, wenn Bass und Klavier um die Wette singen. Unaufdringlichkeit ist angesagt. Spektakulär sein darf man ruhig mal anderen überlassen. Dafür hat jeder Ton genug Luft zum Atmen, jede Harmonie genug Raum, um sanfte Farben zu kreieren.” In Audio schrieb Werner Stiefele: “Für Wolfert Brederode und sein Trio existieren keine wertlosen Töne. Im Gegenteil: Die drei Musiker gewähren jedem Klang die nötige Zeit, um sich zu entfalten. Entsprechend ausgeglichen und besonnen wirken die acht Miniaturen auf dem neuen Album ‘Black lce’.”
Masabumi Kikuchi: anmutige Schönheit und enorme Suggestivkraft
Als Masabumi Kikuchi im Juli 2015 im Alter von 75 Jahren verstarb, verabschiedete sich einer der letzten großen Individualisten von der Jazzszene. “Sein Spiel war von einer Art weltabgeschiedener Originalität”, schrieb Ben Ratliff damals in einem Nachruf in der New York Times, “mit langen Pausen und einem Tastenanschlag, der ebenso delikat wie kämpferisch sein konnte.” Auf dem Album “Black Orpheus” ist das letzte Solorezital dokumentiert, das der japanische Pianist im Oktober 2012 in Tokio gab. Die hier zu hörende Musik ist größtenteils delikat und raumbewusst und bewegt sich nach ihren eigenen inneren Logikgesetzen. “Black Orpheus” präsentiert tatsächlich einen Pianisten, der völlig in sich ruht,", meint Reiner H. Nitschke im Fono Forum, “der sich von allen Mustern und Klischees befreit hat, der den Piano-Inventionen eines György Kurtág näher ist als den Tasten-Girlanden der berühmten Jazzpianisten. Rund um den Bonfa/Maria-Filmklassiker ‘Orfeo Negro’, den er quasi in Zeitlupe auf seine essenziellen Schwingungen reduziert, hat er zehn eigene Improvisationen gruppiert, die in ihrer anmutigen Schönheit eine enorme Suggestivkraft entwickeln.”
Markus Stockhausen & Florian Weber: mal träumerisch romantisch, mal elegant beschwingt
Als Ableger des Weltmusik-Ensembles Eternal Voyage gründeten Trompeter Markus Stockhausen und Pianist Florian Weber 2010 ihr Duo Inside Out. Der Name skizzierte gleich ihr musikalisches Anliegen: nämlich in ihrem tiefsten Inneren nach Klängen und Ideen zu suchen, um diese dann nach außen zu tragen. Mit “Alba” legen die beiden Musiker, die sich dem Idiom des Jazz in ihren Karrieren aus unterschiedlichen Richtungen genähert haben, ihr erstes, äußerst intimes Duo-Album bei ECM vor. “Sechs Jahre und einen Umweg über elektronische Versuche dauerte es, bis das virtuose Duo nun seinen idealen, rein akustischen Klang gefunden hat”, bemerkte Peter Füssl in Kultur. “Beide Duo-Partner lieferten Kompositionen für das nunmehr vorliegende Debüt ‘Alba’, fünfzehn farbenreiche Stücke, die ein breites Spektrum an Stimmungen und sich niemals verselbständigender Virtuosität bereit halten. Selbst spontan, ohne jegliche Minimalabsprache improvisierte Stücke klingen in ihrer absoluten, aber keineswegs steril wirkenden Perfektion wie durchkomponiert. Ob von träumerischer Romantik oder von eleganter Beschwingtheit getragen, ob kunstvoll unterkühlt oder emotional aufwühlend – das Hörvergnügen ist stets ein intimes, das sich proportional zur Konzentrationsbereitschaft des Zuhörers steigert.”
Carla Bley, Andy Sheppard & Steve Swallow: höchst delikater Kammerjazz
Am 11. Mai feierte Carla Bley ihren 80. Geburtstag. Und pünktlich zum Jubiläum erschien mit “Andando El Tiempo” ein neues Album ihres hervorragenden Trios mit Andy Sheppard und Steve Swallow, das schon seit über zwanzig Jahren besteht und heute ihr bevorzugtes Ensemble ist. “Wenn ich für das Trio schreibe”, erklärte Bley, “ist es tatsächlich eine Art reduzierte Bigband-Musik. Ich muss da wirklich alles geben, und den Jungs geht es nicht anders. Sie müssen sehr viel mehr Aufgaben übernehmen, als es der Fall wäre, wenn ich noch immer eine Bigband hätte.” Und Bley glänzt in diesem Kontext nicht nur als Komponistin und Arrangeurin, sondern vor allem auch als Pianistin. “Wie stets reiht die Dame am Flügel sehr reduziert und melodisch Note an Note, derweil Swallow seinen singenden E-Bass mit viel Liebe und Feingefühl in die elegischen Kompositionen einwebt”, meinte Sven Thielmann in HiFi+Records. “Darüber schwebt das zauberhaft duftige Horn von Sheppard, der den Wohlklang elegant überglänzt. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das sanft swingt, einen Rhythmus und Höhepunkt findet und immer wieder still ausklingt – als höchst delikater Kammerjazz!”