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Shai Maestro – lieber menschlich als transzendent

Für sein zweites ECM-Album “Human” hat der israelische Pianist Shai Maestro sein ursprüngliches Trio durch den Trompeter Philip Dizack zum Quartett erweitert.
Shai Maestro
Shai Maestro
28.01.2021
In seiner Rezension von “The Dream Thief”, Shai Maestros ECM-Debüt als Leader, schwärmte Mike Jurkovic auf All About Jazz von “einer eindringlichen lyrischen Atmosphäre, emotionalen Eloquenz und gemeinschaftlichen Virtuosität, die der Musik dient”. All dies trifft auch auf das neue Album “Human” zu, für das Maestro seine kontaktfreudige und äußerst kommunikative Band mit seinem israelischen Landsmann Ofri Nehemya am Schlagzeug und dem peruanischen Bassisten Jorge Roeder durch den US-amerikanischen Trompeter Philip Dizack stimmig zum Quartett erweitert hat. Shais mitteilsames Klavierspiel wird durch Dizacks hellwachen, geistesgegenwärtigen Improvisationsansatz gut komplementiert.
“Philips Trompetenspiel klingt für mich wie eine menschliche Stimme, die zu einem spricht” , sagt Shai Maestro, “und seine Hinzunahme zum Trio  gelangen wir auf unser nächstes Level. Es ist, als hätten wir im Auto plötzlich einen bis dahin verborgenen Gang entdeckt. Es ist ein vollkommen neues Abenteuer, und ich liebe es total.”
Der in Milwaukee aufgewachsene Dizack hatte sich seinen Feinschliff bei Tourneen und Aufnahmen mit Bobby Watson, Dr. Lonnie Smith, Eddie Palmieri, Jimmy Cobb und vielen anderen geholt. In New York waren Maestro und Dizack Spielpartner bei Auftritten mit zahlreichen Bands. “Wir haben tatsächlich schon so oft zusammen auf der Bühne gestanden, dass wir uns nicht mehr daran erinnern kann, wann das erste Mal war. Aber zwischen uns gab es immer ein besonderes Verständnis darüber, wie wir die Musik und das Leben betrachten”, sagt Shai. “Es ist eine dieser Beziehungen, bei der es scheint, als hätte sie schon immer existiert.”
Der Pianist beschreibt den Trompeter als einen “hellwachen Zuhörer, der auch zu begleiten weiß. Und das ist eine schwierige Aufgabe, wenn man Trompete spielt. Es erfordert ein unglaubliches Gehör, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, einen riesigen Dynamikbereich abzudecken – du musst ein weiterer Architekt in der Band sein. Philip kann mit seiner Trompete schreien und flüstern. Er erlaubt mir, für ein paar Minuten in den Hintergrund zu treten. Jorge muss jetzt auf ein weiteres Melodieinstrument achten – Holz und Metall, das ergibt eine ganz neue Farbpalette. Sowohl Jorge als auch Ofri blühen auf. Ich habe das Gefühl, dass Ofri anfängt, die Musik ‘sieden’ zu lassen, auf kleiner Flamme zu kochen und sie aus sich selbst heraus wachsen zu lassen, ohne sich einzumischen. Wir werden alle mehr gefordert, sind aufmerksamer.”
Wie immer bringt Maestro die Musik voran, während er gleichzeitig ihren Sinn für die Tradition respektiert. Das Repertoire besteht beinahe komplett aus Originalen, in denen eine breite Palette von Stimmungen und Farben erkundet wird. In “Hank And Charlie”, einem Feature für den Bandleader und den Bassisten Jorge Roeder, zollt Shai zwei Legenden Tribut, die ihn musikalisch beeinflusst haben. "Hank Jones und Charlie Haden sind meine Helden. Ihre Finesse, ihr Minimalismus, ihre Erzählkunst und ihre Sounds sind atemberaubend. Ich höre mir schon seit Jahren geradezu obsessiv immer wieder ihr Duo-Album “Steal Away” an, auf dem sie Spirituals und Hymnen spielen. Obwohl ich kein religiöser Mensch bin, dachte ich beim Komponieren dieses Stücks an eine Art Anbetungslied, ein Gebet. Auf diese Weise möchte ich meine Dankbarkeit gegenüber zwei Giganten dieser Musik zum Ausdruck bringen."
Bei “In A Sentimental Mood”, dem einzigen Jazzstandard des Albums, verweist Maestro auf die Version, die Duke Ellington, der das Stück komponierte, 1963 bei seiner Zusammenarbeit mit John Coltrane spielte: “Ich bin natürlich ein großer Coltrane-Bewunderer, deshalb lässt mich dieser Song schon seit vielen Jahren nicht los.” Inspiriert ist Shais neues Arrangement aber auch von der ausdrucksstarken Spielweise des Vibraphonisten Joel Ross, der ein Freund und Zeitgenosse ist. Shai sagt, er habe versucht, dessen Sinn für “durch den Raum fliegende Noten, das Annehmen des Klangs und der Energie, die einem entgegenkommen,” zu berücksichtigen und “dieses Feeling in die Melodie und Form eines Songs, den ich leibe, einzuflechten.”
“Human” ist bereits Shai Maestros dritter Auftritt bei ECM. Den Anfang machte er 2016, als er an der Einspielung von Theo Bleckmanns gefeiertem Album “Elegy” mitwirkte. Dann folgte 2018 im Trio mit Jorge Roeder und Ofri Nehemya “The Dream Thief”. “Die Musik hat sich seit ‘The Dream Thief’ definitiv entwickelt. Wir sind jetzt alle andere Menschen, und wenn Musik so viel Raum für Interpretation und Improvisation zulässt, verändert sich die Musik mit dir. Du wächst als Mensch und die Musik wächst mit dir. Und das Leben in New York verändert dich sehr schnell. Jeden Tag habe ich neue Leute, neue Künstler, neue Arten, Musik zu machen, kennengelernt. Ich bin mehr in Harmoniestudien und avantgardistische Spielweisen vertieft, habe angefangen, selber Schlagzeug zu spielen, und habe mich der manchmal abstrakten Forschung gewidmet, wie man eine gute Melodie entwickelt. Der Großteil der Songs entstand im Laufe von kurzen Kreativitätsausbrüchen. Gewöhnlich nachts, wenn es scheint, als ob die ganze Welt um einen herum schläft, und man einen seltenen Moment hat, in dem auf den Straßen Ruhe herrscht, das Telefon ausgestöpselt ist und man wirklich etwas entwickeln kann.” 
Der Albumtitel “Human” hat für Shai Maestro eine besondere Bedeutung: “Ich habe viele Jahre lang Musik gespielt und versucht, sie ‘über’ dem Leben stehen zu lassen – es war eine einsame Erfahrung, bei der ich nach Transzendenz suchte, eine Art Flucht aus dem Alltag. Aber je mehr ich spiele, desto besser verstehe ich, dass gerade der Versuch, diesen Zustand zu erreichen, ihn verhindert. Also begann ich, das Musizieren als Teil meiner alltäglichen Erfahrung zu akzeptieren. Als ich an ‘Human’ gearbeitet habe, versuchte ich, nachdem ich jeden Song geschrieben und ein Universum für ihn erschaffen hatte, es einfach vorbehaltslos dabei zu belassen. Denn was ich präsentieren möchte, ist die menschliche Bemühung – und die ist voller Möglichkeiten, Kontraste, Farben, Energie und Leben und ist letztendlich unmöglich zu erklären.”