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ECM-Jahresrückblick 2016, Teil 2 – mal toben die Erdgeister, mal brauen die Hexen

ECM Records
ECM Records
15.12.2016
Im Fokus der zweiten Folge des ECM-Jahresrückblicks stehen u.a. Neueinspielungen von Jack DeJohnette und Miroslav Vitous, zeitlose Klassiker von Peter Erskine und ein “Tonarchivfund” von Keith Jarrett.

Jack DeJohnette, Ravi Coltrane & Matthew Garrison: Neuinterpretation der gesamten Geschichte der schwarzen Musik

“Wir sind auf einem sehr hohen, extrem persönlichen Level miteinander verbunden”, sagt Jack DeJohnette über Ravi Coltrane und Matthew Garrison, seine beiden Trio-Partner auf “In Movement”. “Und das kommt, glaube ich, auch in der Musik herüber.” Der Schlagzeuger, der vor über 50 Jahren mit ihren berühmten Vätern spielte, kannte die beiden schon als Kinder. 1992 traten sie erstmals zusammen live auf. Zwanzig Jahre später kamen sie für eine Reihe von Konzerten erneut zusammen. Und diese gaben den Ausschlag für dieses Album. Für sein wunderbares Solo im Titelstück “In Movement” wurde Ravi Coltrane gerade für einen Grammy nominiert. In der Süddeutschen Zeitung urteilte Andrian Kreye: “Für das neue Album ‘In Movement’ hat er nun mit dem Saxofonisten Ravi Coltrane (Sohn des übermächtigen John) und dem E-Bassisten und Experimental-Elektroniker Matthew Garrison (Sohn des Coltrane-Begleiters Jimmy) ein Trio zusammengestellt, das […] die gesamte Geschichte der schwarzen Musik einer neuen Interpretation unterzieht. Die Behutsamkeit, mit der sie so unterschiedliche Vorlagen wie John ColtranesAlabama’ oder ‘Serpentine Fire’ von Earth, Wind & Fire von jeglichem Kontext befreien, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ‘In Movement’ eine der fundiertesten Auseinandersetzungen mit dem ist, was Jazz auch in Zeiten der Retro-Seligkeit und elektronischen Möglichkeiten eben immer noch sein kann: ein Befreiungsschlag, ein Aufbruch. Auch wenn ‘In Movement’ keine Grenzen einreißt, sondern Kreise schließt.”

Golfam Khayam & Mona Matbou Riahi: introvertiert, intim und intensiv

Narrante” ist das faszinierende ECM-Debütalbum der beiden iranischen Musikerinnen Golfam Khayam (Gitarre) und Mona Matbou Riahi (Klarinette), die auch als Naqsh Duo bekannt sind. In der persischen Sprache Farsi bedeutet das Wort “Naqsh” so viel wie Ausschmückung, Form oder Gestalt und wird in der bildenden Kunst verwendet. Es umschreibt aber auch perfekt die Musik des Duos, die voller Verzierungen sowie form- und gestaltreich ist. “Introvertiert, intim und intensiv – so könnte man die Musik des Naqsh Duos nennen”, schlug Thomas Daun im WDR vor. “Gitarristin Golfam Khayam und Klarinettistin Mona Matbou Riahi stammen beide aus dem Iran und haben nach dem Studium am Konservatorium in Teheran ihre musikalischen Kenntnisse im Ausland vertieft. Als Duo beschäftigen sie sich kreativ mit den vielfältigen Traditionen ihrer Heimat. Alle Stücke auf der Erstlings-CD ‘Narrante’ stammen aus der Feder der beiden Frauen. Kompositionen, die die feine Verzierungskunst, die mikrotonalen Farben, die komplizierten Rhythmen der iranischen Tradition aufgreifen und sie in einen neuen musikalischen Kontext stellen.” Im schweizerischen Kulturtipp meinte Claudine Gaibrois: “Die beiden iranischen Musikerinnen integrieren in ihren Kompositionen persische Harmonien, Rhythmen und Improvisationspraktiken in einen zeitgenössischen musikalischen Rahmen. Gitarristin Golfam Khayan und Klarinettistin Mona Matbou Riahi ist ein rein instrumentales, berührendes Werk voller Tiefe und Spannung gelungen.”

Dominique Pifarèly: Verrückt. Seltsam. Sonderbar. Gespenstisch.

Dominique Pifarély ist ein Musiker, der im verschwimmenden Grenzbereich zwischen Improvisation und Komposition ganz besonders aufblüht. Genau dorthin führte er auf dem Album “Tracé Provisoire” auch sein neues Quartett, das er mit zwei alten Weggefährten -  Bassist Bruno Chevillon und Schlagzeuger François Merville  – und einem neuen Gesicht – Pianist Antonin Rayon – besetzte. Der freie Energiefluss ist von zentraler Bedeutung für diese Musik, deren Bogen sich von Kollektivimprovisationen über leuchtende Kontrapunktik und starkes inneres Pulsieren bis hin zu offenen, lyrischen Flächen spannt. “Verrückt. Seltsam. Sonderbar. Gespenstisch”, suchte Mike Greenblatt in Classicalite nach Adjektiven, um die Musik des Quartetts zu umschreiben. “All diese Worte sind zutreffend. Irgendwo zwischen den Konstruktionen totaler Improvisation – Musik, die im Moment geschaffen wurde – und kompositorischem Bewusstsein, Bach trifft Monk […] Es fängt so langsam an, dass man seine Gedanken umherschweifen lässt, aber […] durch die telepathische Empathie der Musiker wird eine Symbiose erreicht. Sie spielen schon seit Jahren miteinander, obwohl sie ihr Quartett erst 2014 gründeten. Es ist alles ziemlich unbeschreiblich, als ob man dem Flügelschlagen eines Schmetterlings zuhört, aber aus dem bescheidenen vagen Anfang kristallisiert sich ein Muster heraus, das die Sinne anfacht. Und wenn das Album schließlich mit einer zweiten – und komplett anderen – Version von ‘Vague’ ausklingt, sitzt man gebannt da und fragt sich, was man gerade überhaupt gehört hat.”

Glauco Venier: Einblicke in eine ganz eigene, besondere Klangwelt

Nach drei Trio-Alben mit der Sängerin Norma Winstone und dem Holzbläser Klaus Gesing legte der italienische Pianist Glauco Venier mit “Miniatures” sein Solodebüt bei ECM vor. Die achtzehn Stücke sind Episoden einer sich entfaltenden Erzählung, in der er atmosphärisch über Kindheitserinnerungen und frühe musikalische Erfahrungen reflektiert. Obwohl man Venier überwiegend solo am Klavier hört, scheint die Aufnahme außerhalb der Solo-Klavier-Tradition von ECM zu stehen. “Ich war mir der großen Klavieraufnahmen, die für dieses Label eingespielt wurden, sehr bewusst”, sagt Venier, “und ich wollte selbstverständlich etwas anderes ausprobieren.” Deshalb verwendete er bei der Einspielung seiner Miniaturen einige “somnambiente” Klangskulpturen des  italoamerikanischen Künstlers und Tonkunst-Bildhauers Harry Bertoia. “Manchmal schwebt über ‘Miniatures – Music for Piano and Percussion’ der Geist Erik Saties,” schrieb Tobias Schmitz im Stern, “andere Schattierungen erinnern an Chilly Gonzales’ minimalistisches Meisterwerk ‘Solo Piano’. Und dann wird es plötzlich wieder modern, fast experimentell. Diese Mischung macht Veniers Klangwelt so eigen, so besonders.”

Miroslav Vitous: Hexengebräu mit unberechenbaren Siedepunkten

Fast vier Jahre lang – von der Gründung 1970 bis Ende 1973 – war der tschechische Bassist Miroslav Vitous Mitglied der Jazzfusionband Weather Report, mit der er in diesem Zeitraum einige bahnbrechende Alben aufnahm. Auf “Music Of Weather Report” hat er sich noch einmal mit dem Repertoire der Band auseinandergesetzt. Dabei beschränkte sich Vitous keineswegs auf Stücke, die er einst selbst für sie komponierte, sondern überrascht auch mit Bearbeitungen von Weather-Report-Klassikern der Post-Vitous-Ära. “Vor allem geht es hier ums kreative Weiterdenken im Sinne einer weiter gewachsenen improvisatorischen Freizügigkeit”, merkte Stefan Pieper in der Jazzzeitung an. “Für größtmögliche Dichte beim Zusammenspiel sorgt hier allein schon das Konzept einer ‘Double Band’ – also mit gleich zwei Schlagzeugern (Gerald Cleaver und Nasheet Waits) und jeweils einem Saxofonisten, sauber links und rechts im Hörspektrum angeordnet, versteht sich (Gary Campbell und Roberto Bonisolo)! Das ist schon Grundlage genug, dass die Musik wie in einem Hexengebräu unberechenbare Siedepunkte ansteuert. […] Sämtliche aufgebotenen Referenzen sind ein Sprungbrett für Neues: Vitous und seine Mitmusiker zerlegen und variieren etwa ‘Scarlett Woman’, ‘Seventh Arrow’ oder das Wayne-Shorter-Stück ‘Pinocchio’, in welchem freie Strukturen einer totalen metrischen Auflösung auf die Spitze getrieben werden. Überhaupt blitzen immer wieder zeitlos geniale kompositorische Ideen in neuen Kontexten auf, bevor lustvoll in kühnen Kollektivimprovisationen interveniert wird.”

Mats Eilertsen: enorm eingängig und tief emotional

Der norwegische Bassist Mats Eilertsen hatte sich bei einem Dutzend Sessions für ECM an der Seite von so unterschiedlichen Musikern wie Tord Gustavsen, Nils Økland, Mathias Eick und Jacob Young als starke Stütze und verlässlicher Sideman erwiesen. Mit “Rubicon” trat Eilertsen, der von seinem Naturell her ein echter “Teamplayer” ist, bei ECM erstmals selbst ins Rampenlicht. Mit eigener Musik und einem international besetzten Septett, das u.a. den  Saxophonisten Trygve Seim, den aus New York stammenden Vibraphonisten Rob Waring und den niederländischen Pianisten Harmen Fraanje featuret. In der Leipziger Volkszeitung schrieb Ulrich Steinmetzger: “Die Akzente werden immer neu verschoben, schälen sich heraus, diffundieren ineinander, wandeln sich und halten die Dinge am Laufen, ohne dass je protzerisch mit den Muskeln gespielt werden müsste. Dennoch ergibt das keine verkopfte Avantgarde, sondern einen elegant, oft gravitätisch sich voran bewegenden Fluss. Mats Eilertsen hat eine ebenso luftige, wie eng verzahnte Gruppenmusik konzipiert, fern von Simplizität. Enorm eingängig ist sie dennoch und tief emotional.”

Sinikka Langeland: Musik von magischer, überwirklicher Wirkung

Zu einer faszinierenden Begegnung zwischen zwei sehr verschiedenen Ensembles ist es auf Sinikka Langelands Album “The Magical Forest” gekommen: dem panskandinavische Starflowers-Quintett der Sängerin und Kantele-Spielerin und den Vokalistinnen des Trio Mediæval. Gemeinsam präsentierten sie einen neuen Liederzyklus von Langeland, der auf alten Mythen und Legenden aus Norwegens südöstlicher Region Finnskogen basiert. “‘The Magical Forest‘ […] gelingt nicht weniger, als den Diskografien aller Beteiligten einen meisterhaften Höhepunkt hinzuzufügen”, zieht Ingo J. Biermann in Nordische Musik Bilanz. “Dies ist natürlich zu allererst Sinikka Langelands Kompositionen zu verdanken, die zum Teil auf überlieferten Melodien der Finnskogen-Region in Südostnorwegen, an der Grenze zu Schweden beruhen, wo die Musikerin seit Jahrzehnten lebt. […] ‘Der magische Wald’ ist natürlich Finnskogen, die nach dem ‘Finnenwald’ benannte Region in Hedmark. Der Wald und die Region werden in den Texten auf poetische, sinnliche und auch märchenhafte Weise lebendig, und die ergänzenden Erläuterungen im Beiheft bereichern das ganze Album zusätzlich. Dass Sinikkas Gesang und der berückend-zeitlose Klangkosmos der Kantele im Zusammenspiel mit den Frauenstimmen des Trio Mediaeval eine derart magische, überwirkliche Wirkung erzeugt, hätte man sich nicht ausmalen können.”

Peter Erskine Trio: Solisten, die nie solo spielen

Zwischen 1992 und 1997 nahm der ehemalige Weather-Report-Schlagzeuger Peter Erskine für ECM vier Soloalben auf, die nun in der populären Reihe “Old And New Masters” zusammen in einer CD-Box neu herausgegeben wurden. Eingespielt hatte Erskine die Alben “You Never Know”, “As It Is”, “Time Being” und “Juni” allesamt in derselben Besetzung mit dem britischen Pianisten John Taylor und dem schwedischen Bassisten Palle Danielsson. Das Trio interpretierte vor allem Kompositionen Taylors, hatte im Repertoire aber auch Stücke von Erskine, Danielsson, Vince Mendoza und Kenny Wheeler. Im DownBeat erhielt die Box die seltene Höchstwertung von fünf Sternen. In seiner Rezension merkte John Ephland an: “Wie Erskine im Begleittext schreibt, war seine Intention eine Spielweise zu finden, die das Publikum dazu bringen sollte, ‘sich in seinen Sitzen nach vorne zu lehnen’. Das Trio sollte außerdem ‘Soli als Non-Events’ betrachten und die ‘Melodiebögen keine sichtbaren Höhepunkte’ haben. Hatte er jene Weather-Report-Idee von ‘wir spielen Soli, aber nie solo’ genommen und sie auf das Klavier-Trio übertragen? Die vier CD-Titel scheinen eine solche Art der suspendierten Bewegung anzudeuten […] Dieses Material ist kein bisschen gealtert. Und wird es wahrscheinlich auch nie tun.”

Trygve Seim, Tora Augestad, Frode Haltli & Svante Henryson: delikate Schwermut

Der Titel des neuen Albums von Trygve Seim verrät es gleich: als Inspiration dienten dem norwegischen Saxophonisten und seinem neu formierten Quartett (mit Akkordeonspieler Frode Haltli, Cellist Svante Henryson und der Mezzosopranistin Tora Augestad)  für das weitgefächerte Programm von “Rumi Songs” Gedichte des persischen Sufi-Mystikers Rumi (1207–1273). Mit Stücken, die wechselweise von der klassischen Liedertradition, zeitgenössischer Kammermusik, arabischer, indischer und noch mancher anderer Musik beeinflusst sind, fällt es schwer, diese mal straff durchkomponierten, dann wieder von Improvisationen geprägten “Rumi Songs” präzise zu definieren. “Die Stücke”, meinte Karen Krüger in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, “lassen einen die Kargheit der anatolischen Steppe fühlen, in der Rumi wirkte, genauso fließen Elemente aus anderen Teilen der Welt, etwa Echos des argentinischen Tangos oder der klassischen indischen Musik, in sie ein. Trygve Seim ist ein Meister darin, Schwermut delikat zu musizieren; Rumis Poesie wurzelt in Trauer, und der sind, wie auch sonst in Rumis Gedanken, kulturelle und religiöse Gedanken fremd.”

Iro Haarla: Suite für Jazzquintett und Sinfonieorchester

Entstanden ist Iro HaarlasAnte Lucem”, eine Suite über den Kampf zwischen Dunkelheit und Licht, als Auftragskomposition für das Umeå Jazz Festival. Aufgenommen wurde das ambitionierte Werk von Haarla bei der Festival-Premiere und weiteren Sessions in den darauffolgenden Tagen mit ihrem Jazz-Quintett und einem Sinfonieorchester. “Die von ihr geschaffene Komposition ist voller prächtiger Melodien und faszinierender Texturen”, begeisterte sich CJ Shearn in Jazz Views. “Das eindrucksvolle Quintett-Zusammenspiel ist geschickt mit dem orchestralen Gefüge verwoben, den das Norrlands Operans Symfoniorkester liefert. Das mit Trompeter Hayden Powell, Saxophonist Trygve Seim, Pianistin und Harfenistin Iro Haarla, Kontrabassist Ulf Krokfors und Schlagzeuger Mika Kallio besetzte Quintett ist absolut erstklassig und fügt seine Improvisationen auf organische Weise zwischen den atemberaubenden orchestralen Momenten ein. […] ‘Ante Lucem’ ist bemerkenswert in der Art, wie mühelos Orchester und Quintett hier eingesetzt werden, wobei es keine klaren Trennlinien zwischen Ensemble- und Improvisations-Passagen gibt.”

Tigran Hamasyan, Arve Henriksen, Eivind Aarset & Jan Bang: ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Album

Intuition und Risikobereitschaft gehören zum Grundrüstzeug eines jeden Jazzmusikers. Pianist Tigran Hamasyan, Trompeter Arve Henriksen, Gitarrist Eivind Aarset und Live-Sampling-Spezialist Jan Bang verfügen über beides in reichlichem Maße. Doch so eindrucksvoll wie auf dem experimentellen Doppelalbum “Atmosphères”, das ein wahres Gemeinschaftsprojekt ist, haben sie das noch nie zuvor zur Geltung gebracht. “Spürbar stimmt die Chemie zwischen allen Beteiligten”, konstatierte Peter Füssl in der österreichischen Zeitschrift Kultur. “So können sich aus den gemeinsamen Improvisationen detailreiche Stimmungsbilder und farbenreiche Klangwelten entwickeln – mal luftig zart dahinschwebend, dann wieder spannungsgeladen verdichtetet -, die selten, aber umso wirkungsvoller von sich dramatisch aufbauenden Passagen unterbrochen werden. Frappierend ist aber auch, wie perfekt die kristallklaren akustischen Klänge mit den elektronisch generierten Sounds harmonieren, wie sich Archaisches und Zeitgenössisches, Traumhaftes und handfest Zupackendes in ihrer musikalischen Wirkung potenzieren. Ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Album, das konzentriertes Zuhören erfordert und belohnt.”

Giovanni Guidi, Gianluca Petrella, Louis Sclavis & Gerald Cleaver: abwechselnd extrovertiert und atmosphärisch

Als Giovanni Guidi und Gianluca Petrella vor sechs Jahren in der Band von Enrico Rava zusammenspielten, entwickelte sich zwischen ihn sofort eine außergewöhnliche improvisatorische Komplizenschaft. Seitdem haben sie diese in dem Duo Soupstar vertieft, wobei sie immer wieder auch den Austausch mit anderen Improvisatoren suchen. Auf “Ida Lupino” stießen zu ihnen, so Petrella, “zwei Meister des zeitgenössischen Jazz, die wirklich auf unserer Wellenlänge liegen”. Auf All About Jazz schrieb Mark Sullivan über das Album: “Dieses weitgehend improvisierte Quartett-Projekt fußt auf der engen Improvisationsbeziehung zwischen dem italienischen Pianisten Giovanni Guidi und dem Posaunisten Gianluca Petrella. […] Hier taten sie sich mit dem amerikanischen Schlagzeuger Gerald Cleaver und dem französischen Klarinettisten Louis Sclavis für ein Musikprogramm zusammen, das abwechselnd extrovertiert und atmosphärisch ist. Es gibt keinen Bass, doch die erste Hälfte des Programms zeichnet sich trotzdem durch eine klare rhythmische Richtung aus. Selbst in den improvisierten Stücken klingen sie wie eine Jazzband und spielen mit einem Puls, der so stetig ist, als hätte die Gruppe einen Bassisten. […] Ein weiterer improvisatorischer ECM-Triumph. Mit Cleaver hatten die beiden Italiener bereits vorher gespielt, Sclavis aber war vor diesen Aufnahmesessions noch mit keinem der anderen Musiker zusammengetroffen. Die Herangehensweise war vollkommen offen und brachte aus den Musikern dieser Band das Beste hervor, sowohl individuell als auch kollektiv.”

Jakob Bro, Thomas Morgan & Joey Baron: der neue Fixpunkt der europäischen Jazzgitarre

Ein Jahr nach seinem mit mehreren Preisen ausgezeichneten ECM-Debüt “Gefion” meldet sich der dänische Gitarrist Jakob Bro schon mit einem atemberaubenden neuen Album zurück. “Die Musik möchte ihre eigene Richtung einschlagen. Unsere Aufgabe ist, ihr zu folgen”, erläutert Bro die Vorgehensweise seines neuen Trios, die sich auch im Titel des Albums “Streams” widerspiegelt. Mit dem Bassisten Thomas Morgan, der schon auf “Gefion” mit von der Partie war, hat Bro inzwischen ein dermaßen inniges musikalisches Verständnis, dass es die beiden nun schaffen, ad hoc improvisatorische Ideen zu entwickeln. Den Platz von Jon Christensen hat nun Joey Baron eingenommen, der dem Trio viele andere Impulse gibt. “Der dänische Gitarrist Jakob Bro mauert sich immer mehr zu einem Fixpunkt der europäischen Jazzgitarre”, meinte Wolf Kampmann in Eclipsed.  “Bros Begleiter agieren äußerst zurückhaltend, sodass sich die Melodien unverstellt in  die Synapsen des Hörers eingraben können. Mehr denn je überzeugt Jakob Bro mit karger Schönheit, hinter der seine Vorbilder Bill Frisell und Eivind Aarset mehr und mehr verschwinden. Ein wundervolles, gediegenes und doch völlig unschuldiges Album.”

Andrew Cyrille Quartet: Rebellion des Rhythmus gegen das Metrum

Andrew Cyrille ist in der internationalen Jazzszene seit beinahe sechs Jahrzehnten als musikalischer Freigeist bekannt. Eine musikalische Unabhängigkeitserklärung müsste der mittlerweile 76-Jährige also eigentlich nicht mehr abgeben. Auf seinem ersten ECM-Album unter eigenem Namen tut er es dennoch. Denn “The Declaration Of Musical Independence” rückt diesen Meister des Rhythmus, der ein Schüler des goßen Philly Joe Jones war und selber schon ganzen Generationen von Jazzschlagzeugern als Inspiration diente, verdientermaßen ins Scheinwerferlicht. Zur Seite stehen ihm dabei mit Gitarrist Bill Frisell, Keyboarder Richard Teitelbaum und Bassist Ben Street drei außerordentliche Partner. In der Weltwoche schrieb Peter Rüedi über die Platte: “Sie trägt den programmatischen Titel ‘The Declaration Of Musical Indepence’, und das heisst in Cyrilles Fall die Entscheidung für eine freie, aber keineswegs anarchische oder gar beliebige Perkussion. Sie ist, könnten wir sagen, die Rebellion des (gefühlten) Rhythmus gegen das (gesetzte) Metrum, inspirierend offen im Interplay mit all seinen Partnern, mit eindringlich hymnischen Passagen (‘Coltrane Time’, oder Frisells ‘Kaddish’) und einer Reihe kollektiv entstandener quecksilbrig changierender Stücke wie der Hommage an den Produzenten, ‘Manfred’. Heavy stuff.”

Wolfgang Muthspiel: traumwandlerisch sicher, wunderschön – und nirgends harmlos

“Ich liebe es, Stücke zu schreiben, die die Qualität eines Songs besitzen”, erklärt Wolfgang Muthspiel. “Stücke, an die man sich erinnern und die man mitsingen kann.” Für sein zweites ECM-Album “Rising Grace” hat der Österreicher, der vom New Yorker einst als “Lichtgestalt” unter den zeitgenössischen Jazzgitarristen bezeichnet wurde, nun genau solche Stücke mit Songqualitäten geschrieben. Sein Trio mit Bassist Larry Grenadier und Schlagzeuger Brian Blade hat er eigens für diese Aufnahme um den Pianisten Brad Mehldau und den Trompeter Ambrose Akinmusire zum Quintett erweitert. “Immer wieder verblüffen die Farben und Temperaturen dieser Band”, wunderte sich Roland Spiegel auf BR Klassik. " Bei aller Feinheit entsteht enorme Intensität. Es brodelt im Untergrund: ein Zusammenspiel, das sich immer mehr verdichtet. Traumwandlerisch sicher, wunderschön – und nirgends harmlos. Musikalische Höchstklasse, in die sich auch augenzwinkernder Humor mischt. Sehr typisch: ‘Den Wheeler, den Kenny’, heißt Muthspiels Hommage an den Trompeter Kenny Wheeler – in der Ambrose Akinmusire verhangen schöne Linien im Geiste des 2014 verstorbenen Gehuldigten spielt. Überhaupt ist es spannend zu hören, wie gut der weiche und nuancenreich abschattierte Klang dieses Trompeters zu den geschmackvoll-lyrischen Stücken Wolfgang Muthspiels passt: Raffinement und eElastizität, die sich nicht doppelt, sondern potenziert."

Keith Jarrett – Wenn die Erdgeister des Jazz über den Resonanzboden des Flügels toben

Ende Oktober wurde der Pianist Keith Jarrett für sein Lebenswerk mit dem Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Wenige Tage später brachte ECM Records die vier CDs umfassende sensationelle Box “A Multitude Of Angels” heraus, auf der sich die letzten komplett improvisierten Solokonzerte Jarretts befinden. Zwanzig Jahre lang hatten die in Italien mitgeschnittenen Aufnahmen im privaten Tonarchiv des Künstlers geschlummert. Mit den vier Konzerten beendete Jarrett 1996 den Zyklus seiner ungezügelten, frei fließenden, weit ausholenden Improvisationen. “Dies waren die letzten Konzerte, bei denen ich jedes Programm ohne Pausen spielte”, erklärt der Pianist. “Wenn der Einfluss der Klassik im ‘Paris Concert’ am deutlichsten zu vernehmen ist und die schönsten lyrischen Improvisationen auf ‘La Scala’ zu hören sind,  dann liegt ‘A Multitude of Angels’ in der Mitte”, urteilte Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung, “und hoch über alle vergleichbaren Aufnahmen erhebt sich ‘Ferrara, Part I’, das fast eine halbe Stunde mit wellenförmig ausgespielten Akkorden dahingleitet, meist harmonisch, zuweilen spröde, bis dann, einer nach dem anderen und zuerst im Diskant, die Erdgeister des Jazz geweckt sind und über den Resonanzboden des Flügels toben.”