Die dritte Folge unserer Presseschau wirft einen Blick auf Alben von Gary Peacock, Enrico Rava, Tigran Hamasyan, dem Gurdjieff Folk Instruments Ensemble, Mette Henriette, John Abercrombie, Food und eine Hommage an Eberhard Weber.
Gary Peacock: Zwischen Magie und technischer Meisterschaft
Seit über 30 Jahren kennt man
Gary Peacock vor allem als kongenialen Partner von
Keith Jarrett und
Jack DeJohnette im sogenannten “Standards”-Trio. Nun hat er mit Pianist
Marc Copland und Schlagzeuger
Joey Baron ein eigenes Trio in genau derselben Besetzung formiert, das auf dem Album “
Now This” allerdings keine Standards interpretiert, sondern eine Mischung aus Peacock-Klassikern (wie “Moor”, “Vignette”, “Requiem” und “Gaya”) und neuen Originalen. “Er ist tatsächlich ein Magier”, befand
Ulrich Steinmetzger in der
Westdeutschen Allgemeinen Zeitung über Peacock. “In höchster technischer Meisterschaft verbindet er Themen und Songpartikel in unvorhersehbaren Improvisationslinien.
Alles ist da in seinem Kontrabassspiel, was ihn bis hin zum Saxofonrevolutionär
Albert Ayler und zu
Miles Davis zum begehrten Partner gemacht hat. Ein bloßer Sideman ist er nie, denn er beherrscht die Doppelfunktion des Basses und ist Pulshalter wie auch Impulsgeber für seine Mitspieler. Diesmal sind es Pianist Marc Copland und Schlagzeuger Joey Baron, mit denen er durch den aus Altem und Neuem gewebten Stoff eines Lebens navigiert.”
Enrico Rava Quartet feat. Gianluca Petrella: Synästhetisches Gesamtkunstwerk
“Wenn mir ein talentierter junger Musiker auffällt, dann möchte ich ihn sofort in meine Gruppe integrieren”, meinte
Enrico Rava einmal. Im Laufe von Jahrzehnen förderte der mittlerweile 76-jährige Trompeter in seiner Band unzählige junge Musiker, die heute zur Crème de la crème der italienischen Jazzszene gehören. Auf seinem neuen Album “
Wild Dance” stellt er an der Seite des Bassisten
Gabriele Evangelista (der erstmals 2011 auf Ravas “Tribe” hören war) den Gitarristen
Francesco Diodati und Schlagzeuger
Enrico Morello vor, zu denen sich als Gast außerdem noch Posaunist
Gianluca Petrella gesellt hat. In
Jazz thing schrieb
Josef Engels über die aufregende Band: “Das verhallt-reduzierte friselleske Spiel des Gitarristen Francesco Diodati, die klanglich wie ein Alter Ego des Bandleaders wirkenden Linien des Posaunisten Gianluca Petrella, die firme Grundierung des Bassisten Gabriele Evangelista sowie die unberechenbar flatternden Becken- und Fellschläge des Drummers Enrico Morello – das ist alles wie geschaffen für Ravas Spiel und die auf ‘Wild Dance’ versammelten Kompositionen älteren und neueren Datums. Man hört Luft, Licht, Feuerbälle, kühle Dunkelheit, Tarantella-Tanz, freie Formen und vergilbte Fotos von New Orleans wie in einem synästhetischen Gesamtkunstwerk.”
Tigran Hamasyan: Kunstvoll gewebte polyphone Klanggebilde
Seit seinem 16. Lebensjahr hat der armenische Pianist
Tigran Hamasyan fern der Heimat in Kalifornien gelebt. Und obwohl seine musikalischen Interessen vielseitig sind (alles von Jazz und Minimal Music bis Trash-Metal und Hip-Hop), reichen Hamasyans eigentliche kulturelle Wurzeln bis heute in seine Musik hinein, durchdringen sie und verleihen ihr so ihr einzigartiges Flair. Doch so tiefschürfend wie auf dem Album “
Luys i Luso” hat sich Tigran noch nie mit dem Musikerbe seines Vaterlandes auseinandergesetzt. “Mit ‘Licht vom Licht’, dem ECM-Debüt von Tigran Hamasyan, hat der Label-Chef nun erneut eine Aufnahme veröffentlicht, die das Zeug hat, grenzüberschreitend die Musikwelt zu erobern”, prophezeite
Gregor Willmes in
Fono Forum. “Der Staatliche Kammerchor Jerewans unter Harutyn Topikyan trägt die Werke ausgesprochen klar und vibratoarm vor. Hamasyan improvisiert dazu auf dem Flügel so stilgerecht und sensibel, als habe er die Vokalstücke seit langem tief verinnerlicht. So entstehen aus schlichten Melodien polyphone, kunstvoll gewebte Gebilde. Tigran Hamasyan legt hier sein Meisterstück vor! […] Wann hat religiöse Musik zuletzt so tief berührt?”
Hommage À Eberhard Weber: Eine Suite, die auf wunderbare Weise Eberhard Webers und Pat Methenys Spirit vereint
Welche Wertschätzung der Bassist
Eberhard Weber unter internationalen Kollegen genießt, zeigte im Januar ein einzigartiges Jubiläumskonzert anläßlich seines 75. Geburtstags, das für die CD “
Hommage à Eberhard Weber” live mitgeschnitten wurde. “Einige der bekanntesten Weggefährten aus Webers Karriere, darunter Jan Garbarek (Sopransaxophon), Pat Metheny (Gitarren) und Gary Burton (Vibraphon) ließen es sich nicht nehmen für ihn zu spielen, und doch wurde aus den Konzerten kein bloßes All-Star-Treffen”, notierte
Berthold Klostermann in
Stereo. “Denn auch die SWR-Bigband war mit von der Partie, geleitet von dem Norweger Helge Sunde, und so sollte Weber seine eigene Musik zum ersten Mal im Orchesterformat hören, mit solistischen Sahnehäubchen seitens der angereisten Stars. […] eine feine ‘Hommage’.” In
Jazzthetik berichtete
Katharina Lohmann: “Der Ausnahme-Gitarrist komponierte eine eindringliche, 30-minütige Hommage für seinen Freund, basierend auf Improvisationen von Eberhard Weber. Sie ist das Herzstück der CD [….] eine Art Suite, die auf wunderbare Weise Webers und Methenys Spirit vereint, die Eberhard Webers Bassspiel in den Mittelpunkt rückt und gleichwohl allen Beteiligten starke musikalische Parts zuspielt: eine ganz große, bewegende Arbeit.”
Levon Eskenian & The Gurdjieff Folk Instruments Ensemble: Musik mit Kultpotenzial
2011 verzauberten der Arrangeur Levon Eskenian und das von ihm geleitete Gurdjieff Folk Instruments Ensemble die Musikwelt mit einem Album, auf dem sie die Werke von Georges I. Gurdjieff, die heute vornehmlich als Klaviermusik bekannt sind, mit östlichen Volksmusikinstrumenten interpretierten. Auf ihrem zweiten ECM-Album “Komitas” widmeten sie sich nun der Musik von Komitas Vardapet, der als Begründer der zeitgenössischen Musik Armeniens gilt. “Die Kompositionen von Komitas (1869–1935) basieren auf überlieferter armenischer Volksmusik. Das zehnköpfige Gurdjieff Ensemble interpretiert sie heute auf traditionellen Instrumenten”, schrieb Thomas Rothschild in Faust-Kultur. "Die jetzt bei ECM erschienene CD ermöglicht die Begegnung mit einer in unseren Breiten kaum bekannten Musik, die ebenso befremdlich wie eingängig ist. Es sollte nicht verwundern, wenn sie Kult würde wie der Mann, der dem Ensemble den Namen gab und immerhin keinen Geringeren als Peter Brook zu einem viel beachteten Film inspiriert hat."
Mette Henriette: Regisseurin unverbrauchter und weiter Klanglandschaften
Von nicht wenigen Kritikern wird
Mette Henriette als die Entdeckung des Jahres auf der europäischen Jazzszene gefeiert. Die junge norwegische Saxophonistin, bisher ein fast unbeschriebenes Blatt, überrascht auf ihrem von
Manfred Eicher produzierten
Debüt-Doppelalbum “
Mette Henriette” sowohl als stilsichere Komponistin wie auch als einfallsreiche Improvisationskünstlerin. “Ihre Musik beeindruckt durch Konzentration, Intensität und Eigensinn”, fand
Ulrich Kriest in der
Stuttgarter Zeitung. “Die teilweise sehr kurzen Stücke – mitunter ist nur ein Atmen oder das Berühren des Mundstück zu hören – scheinen referenzlos zu schweben, schaffen Stimmungen, wie man sie vielleicht von Pärt oder Feldman kennt, und überraschen dann wieder durch einen rauen Primitivismus, der die Kritik an Albert Ayler oder Evan Parker denken lässt.” In der
Leipziger Volkszeitung schwärmte
Ulrich Steinmetzger: "Mette Henriette schafft etwas Originäres mit ihrem ‘Partner fürs Leben’, dem Saxofon, und als Regisseurin unverbrauchter und weiter Klanglandschaften, die sich aus mehr speisen als einer simplen Fusion von Jazz und Neuer Musik. Als die weit ausholende Einladung ‘Komm! Ins Offene, Freund!’ sollte man ihre Musik begreifen."
John Abercrombie Quartet: Diamantharte Klarheit und expressiver Lyrizismus
Seit er 1974 mit dem Album “
Timeless” bei ECM debütierte, gilt
John Abercrombie als einer der feinsten und individuellsten Gitarristen des Jazz. Drei seiner frühen Alben (“Arcade”, “Abercrombie Quartet” und “M”), die seinen Stil definierten, wurden nun zusammen in der Box “
The First Quartet” wiederveröffentlicht und sind dadurch erstmals weltweit auf CD erhältlich. “John Abercrombie, der amerikanische Jazzgitarrist, muss es schon seit langem satt sein zu hören, dass er so berühmt wie Pat Metheny oder John Scofield sein sollte”, schrieb
John Fordham im
Guardian. “Obwohl er sich nichtkommerziell für einen kammermusikalischen Stil entschied, hat er sich immer eine diamantharte Klarheit und einen expressiven Lyrizismus bewahrt. Dieses Set umfasst seine vernachlässigten frühen Arbeiten, die er im Quartett mit dem Pianisten Richie Beirach, dem Bassist George Mraz und dem Schlagzeuger Peter Donald aufgenommen hat. […] Abercrombie-Connaisseure und Fans von Gitarrenimprovisationen im Allgemeinen werden ihre helle Freude haben.”
Food: Ein Projekt an der Grenze von Electronics, Clubbing und Kammermusik
So bezwingend, groovy und pointiert wie auf ihrem neuen Album “
This Is Not A Miracle” hat man die elektroakustischen Pioniere von
Food noch nie zuvor gehört. “Das Album ist melodieorientierter und hat auch einen etwas heavier klingenden Mix”, meint der norwegische Schlagzeuger
Thomas Strønen, der sich wie seine beiden Food-Kollegen – der britische Saxophonist
Iain Ballamy und der österreichische Gitarrist
Christian Fennesz – auch als phantasievoller Elektroniktüftler betätigt. “Ein Projekt an der Grenze von Electronics, Clubbing und Kammermusik”, schrieb Ralf Dombrowski in Audio über das Album. “So entstehen reizvolle Kontraste aus Flow und Statik, Feinklang und Relativierung, Natursound und Synthetik, die mehr rhythmisch-melodisch basierte Impressionen als Kompositionen sind.”