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2018 im Rückblick – ein gutes Jahr für den Jazz

Bevor im kommenden Jahr das 80. Blue-Note-Jubiläum und neue Alben von Künstlern wie Jacob Collier bis Charles Lloyd unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, schauen wir hier noch einmal zurück auf das Jazz-Jahr 2018.
Jazzecho Jahresrückblick 2018
Jazzecho Jahresrückblick 2018
14.12.2018
“Es passiert eine ganze Menge im Jazz”, befand Reinhard Köchl schon zur Jahresmitte 2018 in DIE ZEIT. “Selten gab es derart viele großartige, zum Teil sogar innovative Veröffentlichungen wie in diesem Jahr.” Einen nicht unerheblichen Anteil hatten daran die drei Jazzlabels Verve, Blue Note und Impulse!, denen immer wieder der Spagat zwischen der Wahrung der Tradition und dem Aufbruch zu neuen Klangufern gelingt. Kein Wunder also, dass viele der Alben dieser Labels jetzt auch die nach und nach erscheinenden Jahresbestenlisten dominieren. Während in der NEW YORK TIMES  Wayne Shorters “Emanon” und Ambrose Akimusires “Origami Harvest” die beiden ersten Plätze belegen, werden die diesjährigen Top 20 von JAZZWISE von Charles Lloyd & The Marvels (“Vanished Gardens”), Wayne Shorter (“Emanon”) und Sons Of Kemet (“Your Queen Is A Reptile”) angeführt. An dieser Stelle werfen wir noch einmal einen Blick auf diese und andere Jazz-Highlights des Jahres.
Viele Legenden des Jazz haben leider schon das Zeitliche gesegnet. Doch immer noch lohnt es sich, sie wieder- oder neuzuentdecken. Das gilt ganz besonders für das Album “Both Directions At Once” des klassischen John Coltrane Quartet. 55 Jahre lang waren die Aufnahmen verschollen. Dann stieß Coltranes Label Impulse! auf sie, brachte sie heraus und erlebte eine faustdicke Überraschung: binnen einer Woche verkaufte sich “die Jazz-Trouvaille des Jahres” (STEREO) 100.000 Mal und eroberte u.a. in Deutschland Platz 3 der Pop-Charts! Noch weiter zurück in die Musikgeschichte führt einen “Frank Sinatra Sings For Only The Lonely”. Zum 60. Jubiläum wurde das Album, auf dem Sinatra “von dem emotional fragilen Zustand zwischen Einsamkeit und Alleinsein” (SZ) singt, in einer neu gemasterten Deluxe-Edition wiederveröffentlicht. Musik, die unter die Haut und ans Herz geht, machten 2007 bei einem “Jahrhundertkonzert” (BZ) in Mannheim auch Bassist Charlie Haden und Pianist Brad Mehldau. Auf “Long Ago And Far Away” hat das “bravouröse Improvisations-Pas de deux” (STEREO) nach über zehn Jahren endlich das Licht der Weltöffentlichkeit erblickt.
Zu den Legenden, die immer noch aktiv sind und unermüdlich nach neuen Audrucksmöglichkeiten suchen, zählen die Saxophonisten Wayne Shorter und Charles Lloyd, Gitarrist John Scofield sowie Bassist Marcus Miller. Der 85-jährige Wayne Shorter überraschte die Musikwelt mit “Emanon”, einem epischen Album, auf dem er in nie zuvor erlebter Weise modernen Jazz mit Science-Fiction und Comic-Kunst zusammenführte. Bildreich ist seit jeher auch die musikalische Sprache von  Charles Lloyd. Auf dem Album “Vanished Gardens” erhält sie durch die enge Zusammenarbeit mit Lucinda Williams noch dazu eine deutliche Americana-Einfärbung. Eine “exquisite und sehr besondere Einspielung. Zum Heulen schön” (Leipziger Volkszeitung). John Scofield gilt seit langem als stilistisches Chamäleon. Selten aber hat er das so eindrucksvoll und zugleich beiläufig gezeigt wie auf dem Album “Combo 66”, auf dem er sich mit einer agilen neuen Band gewitzt durch Swing, modernen Jazz, Country, Blues, Americana und Rock schlängelt, ohne je den Faden zu verlieren. Wie Scofield und Shorter ist Bassist Marcus Miller ein Miles-Davis-Alumni. Bei dem Trompeter lernte er, dass stilistische Grenzen nur dafür da sind, überwunden zu werden. “‘Laid Black’ – das Statement eines Vermittlers”, schrieb Jazzthing.
Nicht jeder Jazzmusiker ist ein kreativer Bilderstürmer, manche setzen mehr auf Emotionalität und Entertainment, um ihr Publikum zu erreichen. Dass dies keineswegs mit musikalischem Niveauverlust einhergehen muss, beweist zum Beispiel der unverwüstliche 92 Jahre junge Crooner Tony Bennett, der nach Lady Gaga in Diana Krall eine neue Duett-Partnerin auf Augenhöhe fand. Auf dem Album “Love Is Here To Stay” feiern sie zusammen den 120. Geburtstag von George Gershwin. Mit “bestens aufeinander abgestimmten Zwiegesprächen… holen sie die großen Kompositionen der Vergangenheit in die Gegenwart” (STEREO). Melody Gardot gibt Live-Auftritten den Vorzug vor Studioterminen, weil sie ihren Emotionen auf der Bühne ungefiltert freien Lauf lassen kann. Das Album “Live In Europe” stellte sie persönlich aus besonders bewegenden Aufnahmen zusammen, die zwischen 2012 und 2016 bei Konzerten in neun europäischen Ländern mitgeschnitten wurden. STEREO meinte: “Ihre Songs funkeln in schlichter Schönheit.” Das sind Adjektive, die auch bei der Beschreibung der Musik von Madeleine Peyroux immer wieder fallen. Für “Anthem” erprobte sie mit neuen Songwriting-Partnern für sie neue Stilformen. “Wenn man die zwölf neuen Lieder des Albums unvoreingenommen hört, ergeben sie eine Kollektion eingängiger, selbstvergessener, fast fröhlicher Melodien”. (Jazzthing) Mit Selbstvergessenheit hat der extrovertierte Kauz Jeff Goldblum wiederum wenig am Hut. Er hat es zur Kunst gemacht, unkonventionell zu sein. Auf seinem Debütalbum “The Capitol Studios Sessions” überrascht der Hollywood-Star als formidabler Jazzpianist und geistreicher Entertainer.
Exzellente Musik für Hirn und Herz und oftmals auch das Tanzbein produziert derzeit eine jüngere Musikergeneration, die zwar das Improvisieren von der Pike auf gelernt hat, auf die einschränkende Bezeichnung als Jazzer aber keinen großen Wert mehr legt. Im Klangkonzept des britischen Trios GoGo Penguin kollidierten auf lebhafte Weise schon immer verschiedene Welten. Doch nie zuvor war die Palette der verarbeiteten Einflüsse so breitgefächert wie auf “A Humdrum Star”. “Spannend, wie weit sich das altwürdige Jazzlabel Blue Note inzwischen elektronischer Musik geöffnet hat”, stellte FAZEMAG fest. Ein Aushängeschild der tanzbaren neuen Welle des britischen Jazz ist auch der Saxophonist Shabaka Hutchings mit seiner Band Sons Of Kemet. Auf “Your Queen Is A Reptile” serviert das mit Tenorsax, Tuba und zwei Schlagzeugen ungewöhnlich besetzte Quartett eine brodelnde Mischung aus Jazz, Afrobeat, Grime, Dub, Hip-Hop, karibischen und nahöstlichen Klängen. Die junge Sängerin und Pianistin Kandace Springs ist da schon eher etwas rückwärts gewandt. Obwohl sie den meist selbst geschriebenen, klassisch anmutenden Soul-, Rhythm’n'Blues-, Funk- und Jazz-Nummern auf “Indigo” einen durchaus modernen Anstrich verleiht. Ähnlich verfährt auch José James auf “Lean On Me”, seiner fantastischen Hommage an den einzigartigen Bill Withers. James feiert Withers, indem er etliche seiner Top-Ten-Hits, aber auch weniger bekannte Soul-Balladen und Rare-Groove-Nummern neu interpretiert – stets mit allergrößtem Respekt, aber zeitgenössischerem Ansatz. Der Pianist Jon Batiste taucht auf seinem Verve-Debüt “Hollywood Africans” wiederum tief in sein persönliches und kulturelles Erbe ein und webt aus Eigenkompositionen und Jazzstandards einen intimen und emotionalen Klangteppich, der den Hörer vom frühen New Orleanser Jazz bis in die Gegenwart trägt.