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Ein Trio von hypnotisierender Intensität

Alice Zawadzki, Fred Thomas und Misha Mullov-Abbado gehören zu den aufregendsten Talenten der jungen britischen Improvisations- und Jazzszene. Auf “Za Górami” stellen sie sich nun als ungemein fantasievolles und bestens harmonierendes Trio vor.
2810 Fred Thomas Trio PF1
2810 Fred Thomas Trio PF1Monika Jakubowska / ECM Records
12.09.2024
Die Sängerin und Geigerin Alice Zawadzki, der Pianist Fred Thomas (der hier auch mittelalterliche Fidel und Schlagzeug spielt) sowie der Bassist Misha Mullov-Abbado lassen auf ihrem Trio-Debüt mit einer seltenen Alchemie aufhorchen. In frei fließendem Zusammenspiel präsentieren die drei jungen Briten hier Folk-Idiome aus einer Vielzahl von Quellen. “Diese Lieder, die wir auf unseren Reisen gesammelt und über Freunde entdeckt haben, lernten wir gemeinsam kennen und lieben”, teilen sie mit. “Sie führen von Argentinien und Venezuela über Frankreich in das reiche Erbe der sephardischen Kultur und erzählen vom Mond, den Bergen, dem Regen, dem Wahnsinn der Menschen und den Prophezeiungen der Vögel.” Auf “Za Górami” ist es ihnen gelungen, ein eigenes stilistisches Reich zu erschaffen, in dem Volkslied, Kammermusik, Improvisation und Jazz sich auf natürliche und dennoch faszinierende Art zu einem Ganzen verbinden.

“Unser Trio beruht auf der Intimität des aufmerksamen Zuhörens und dem Vertrauen in unsere langjährige Freundschaft”, schreiben sie in den Liner Notes des Albums. “Um zu entdecken, was jeder einzelne Song sein wollte, bedurfte es eines geduldigen Prozesses des Nachdenkens, Weglassens und Destillierens von Ideen, der durch die Flexibilität unserer Instrumentierung belebt wurde: Stimme, Klavier, Kontrabass, Violine, Fidel und Perkussion.”

Die Hälfte der Stücke von “Za Górami” stammen aus der schier unerschöpflichen Schatzkammer des sephardischen Musikerbes. Die Themen dieser in Ladino (der romanischen Sprache der sephardischen Juden) verfassten Lieder kreisen um Liebe und Tragödie. Doch die Texte wirken verschlüsselt und verklärt. Ihre wahre Bedeutung und emotionale Tiefe offenbaren sie erst im Zusammenwirken mit dem ihn verliehenen musikalischen Ausdruck. Der wiederum erhält durch die Darbietungen von Alice, Fred und Misha eine fast schon spirituelle Verbindung und viele dynamische Details.

“Es gibt eine Art Abstraktion in den Texten”, erklärt Alice. “Und viele Metaphern und Bilder, die es einem ermöglichen, in die Welt einzutauchen, die diese Worte erschaffen. Sie werden zu einem erstaunlichen Medium für die eigenen Emotionen, denn in gewisser Weise – auch wenn sie mit Symbolen wie Wasser, Brot, Sonnenaufgang kodiert sind – kommt einem die Bedeutung der Lieder inhärent vor, sobald Musik und Text miteinander verschmelzen. Wir werden uns bewusst, dass Worte nicht unsere einzige Sprache sind, und diese Ladino-Lieder schaffen es, sich mit einem auf eine Weise zu verbinden, die man sonst nicht in Worte fassen kann.”

Die Eröffnungsnummer “Dezile A Mi Amor” handelt vom Flehen eines Liebhabers im Regen. “Los Bilbilikos” ist das Lied einer Nachtigall, die an den Frühling appelliert, die Seele zu wecken, und in dem Wiegenlied “Nani Nani” ringt die Protagonistin mit der Untreue ihres Liebhabers. Sowohl “Dame La Mano” als auch “Arvoles Lloran Por Lluvias” sind wehmütige Betrachtungen, in denen sich ein Hauch von Melancholie, ja sogar von Trauer mit beißender Nachhaltigkeit entfaltet. Jedes Lied wird musikalisch anders behandelt – Alices wechselt zwischen verschiedenen Gesangsstilen, die sie alle gleichermaßen beherrscht. und auch die Instrumentierungen sind sorgfältig durchdacht und an die einzelnen Stücke angepasst. Zugleich authentisch und innovativ, handhabt das Trio diese aufwühlenden Lieder spielerisch und mit viel Bedacht.

“Mit Manfred Eicher haben wir uns bemüht, zugleich frei und kontrolliert zu sein; sanft zu schreiten und die Nacht heraufzubeschwören”, sagt das Trio. In der Tat nächtlich, aber auch voller heller und leuchtender Farben, ist “Tonada De Luna Llena”, ein Lied des venezolanischen Sängers Simón Diaz. In den Händen des Trios gerät es zu einer betörenden Beschwörung. Fred Thomas’ funkelnde Klavierbegleitung und Misha Mullov-Abbados unbestechliches Bassspiel bilden dabei ein bewegendes Fundament für Zawadzkis inspirierte Vokalausschmückungen. Genauso beeindruckend ist allerdings auch die Interpretation von Gustavo Santaollas “Suéltate Las Cintas”.

Für das Stück "Gentle Lady" vertonte Fred Thomas Worte von James Joyce. Inspiriert von der monodischen Musik des Barock, entwickelt sich das Lied über eine sich wiederholende Figur in der linken Hand des Pianisten, die abwechselnd die Quinte und die Quarte spielt, bevor der Bass das Motiv aufgreift und ihm einen Bordun-ähnlichen Effekt verleiht. Gemeinsam umrahmen sie so Zawadzkis gefühlvolle modale Beschwörungen. Und mit "Je Suis Trop Jeunette" von Nicolas Gombert greift das Trio auf noch frühere musikalische Einflüsse zurück und unterstreicht damit einmal mehr die Zeitlosigkeit der Musik dieses Albums.

Das Stück, das dem Album seinen Titel gibt, basiert auf einem alten polnischen Volkslied, das Alice eigens für diese Aufnahme neu gestaltet hat. "Za Górami" heißt wörtlich übersetzt “Hinter den Bergen”, ist aber zugleich das polnische Pendant zu der Redewendung “Es war einmal”, mit der viele Märchen und Geschichten beginnen. Das Lied gehört zu den dramatischen und dramaturgischen Höhepunkten des Albums und spornt das Trio zu einer seiner mitreißendstes und aufregendsten Darbietungen an.