British Jazz Explosion | News | The New Jazz Orchestra: ein Talentschuppen für die Jazz- und Rockstars der 1970er

The New Jazz Orchestra: ein Talentschuppen für die Jazz- und Rockstars der 1970er

Ohne die Pionierarbeit, die das mit jungen Musikern gespickte New Jazz Orchestra auf “Le Déjeuner Sur L’herbe” leistete, wäre die britische Jazzexplosion der 1970er Jahre kaum möglich gewesen.
British Jazz Explosion: The New Jazz Orchestra “Le Déjeuner Sur L'Herbe”
British Jazz Explosion: The New Jazz Orchestra “Le Déjeuner Sur L'Herbe”
09.09.2021
Wie in anderen europäischen Ländern orientierten sich die Jazzpioniere in Großbritannien auch lange Zeit eng an ihren US-amerikanischen Vorbildern. Die Emanzipation setzte erst in den 1960er Jahren so wirklich ein und mündete in einer kreativen “Explosion” der britischen Jazzszene. Dokumentiert wurde dies vor allem auf den Labels Decca, Deram, Argo, Lansdowne, Fontana, Mercury, Philips und Tempo. Auf ihren Alben, die heute von Künstlern wie Shabaka Hutchings und Kamasi Washington für ihre zeitlose Modernität gepriesen werden und sogar prägenden Einfluss auf ihre eigene Musik hatten, zeigten die britischen Jazzer plötzlich ihre ureigene Identität. Diese revolutionären Aufnahmen, die auf Vinyl meist seit langem vergriffen sind und zu Liebhaberpreisen gehandelt werden, erscheinen nun unter dem Signet “British Jazz Explosion” neu auf audiophilem Vinyl und außerdem digital. 
Sämtliche Aufnahmen ließ Decca von den Originalbändern durch die auf analoges Mastering spezialisierten Experten von Gearbox Records neu mastern. Jede LP steckt darüber hinaus in einer liebevollen Reproduktion der Originalverpackung mit Tip-on-/Flip-back-Hüllen und laminierten Covern mit dem ursprünglichen Artwork.
The New Jazz Orchestra – Le Déjeuner Sur L’herbe
Wenn man ein Album auswählen müsste, das das Beste des britischen Jazz der 1960er Jahre repräsentiert, wäre “Le Déjeuner Sur l’Herbe” vom New Jazz Orchestra ein ernsthafter Kandidat. Das im September 1968 aufgenommene Album vereinte nicht nur viele der wichtigsten Strömungen, die sich in den vorausgegangenen Jahren im britischen Jazz entwickelt hatten. Es nahm zugleich auch vieles von dem vorweg, was noch kommen sollte. Und das lag nicht zuletzt daran, dass das Orchester mit jungen Talenten gespickt war, die binnen kurzem zu internationalen Stars aufsteigen sollten; darunter Bassist Jack Bruce, die Saxofonistin Barbara Thompson und ihr Ehemann, der Schlagzeuger Jon Hiseman, die Trompeter Ian Carr, Harry Beckett und Henry Lowther, Posaunist Mike Gibbs und Saxofonist Dick Heckstall-Smith. Musikgeschichte schrieben diese Musiker als Mitglieder oder Leader von u.a. Alexis Korner’s Blues Incorporated, The Graham Bond Organisation, John Mayall’s Bluesbreakers, The Cream, Manfred Mann’s Earth Band, Paraphernalia, Nucleus und dem United Jazz + Rock Ensemble.
Das New Jazz Orchestra (NJO) war im Dezember 1963 von einer Gruppe junger Londoner Musiker gegründet worden, deren musikalische Leitung wenig später der Pianist, Komponist und Arrangeur Neil Ardley übernahm. Der Name des Orchesters spiegelte zum einen das niedrige Durchschnittsalter der Musiker wider, das bei nur 23 Jahren lag. Zum anderen signalisierte er aber auch, dass sie einen neuen orchestralen Jazz spielen wollten, den es in dieser Form damals noch nicht in Großbritannien gab. Als Vorbild diente vor allem das Gil Evans Orchestra. Seine Visitenkarte lieferte das NJO mit dem im März 1965 eingespielten Live-Album “Western Reunion” ab, dessen Repertoire – bis auf einen Original von Ardley – noch ausschließlich aus neu arrangierten Standards und modernen Jazzstücken von US-Komponisten bestand. Wenig später trat das Orchester eine Residency am University College of London an, wo es rund zwei Jahre lang einen Auftritt pro Woche absolvierte. Dadurch konnten die Musiker besonders eng zusammenwachsen und das Orchester zu einer ganz eigenen Sprache finden.
Und das zeigte sich deutlich auf dem im September 1968 entstandenen zweiten Album “Le Déjeuner Sur l’Herbe”. Denn diesmal wurden fast nur Originale von Musikern gespielt, die entweder selbst dem Orchester angehörten oder zu seinem direkten Umfeld zählten: Neil Ardley, Mike Gibbs, Mike Taylor (der auch einige Songs für die Rockband The Cream schrieb), Howard Riley und Michael Garrick. Bis auf Gibbs, der in erster Linie Posaune spielte, waren alle Komponisten reine Pianisten. Was kurios war, da die damalige Besetzung des NJO ohne Pianisten (und übrigens auch ohne Gitarristen) auskam. Die einzigen Harmonieinstrumente waren Vibraphon und Marimba, gespielt von Frank Ricotti. Unter die Originale mischte das NJO raffinierte Arrangements von zwei modernen Jazzklassikern, John Coltranes Naïma” und Miles Davis’ “Nardis”, sowie die Bearbeitung eines Werks des polnischstämmigen Komponisten Alexandre Tansman, das dieser 1962 für den spanischen Klassikgitarristen Andrés Segovia geschrieben hatte. Betitelt war das Album übrigens nach dem bekannten gleichnamigen Gemälde des modernen französischen Malers Édouard Manet, dem das Coverbild mit Bandleader Neil Ardley im Zentrum auch nachempfunden war.