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Billie Holiday – The Complete Verve Studio Master Takes

18.01.2006
Billie Holiday. Armes Mädchen, tolle Frau, die größte aller Jazzsängerinnen, Junkie, Hure, Protestlerin, Naturgewalt, Schicksalswesen, Idol. Vor fast genau neunzig Jahren in Baltimore auf den Namen Eleanora Fagan getauft, verkörperte die als Billie Holiday oder auch Lady Day berühmt gewordene Künstlerin nicht nur den Prototypen der Jazzsängerin, sondern auch alle damit zusammenhängenden Klischees. Man muß also leiden, je mehr, desto besser, einen Hang zum Selbstzerstörerischen haben, Musik eher fühlen als studieren und vor allem schwarz, unbändig und rebellisch sein, um Jazz singen zu können.
Alles richtig, alles Quatsch. Robert G. O’Meally, Direktor der Abteilung für Jazzstudien an der New Yorker Columbia University und Grammy-prämierter Begleittextschreiber, fragt in seinem fabelhaften Essay zu dieser auf 400 Exemplare limitierten CD-Ausgabe der “Complete Verve Studio Master Takes” unter anderem: Was sagt uns das alles – ihre schlimme Jugend, die Drogenabhängigkeit, ihre Männerprobleme und der Umgang mit dem alltäglichen Rassismus – über ihre Kunst? Vielleicht nichts, außer daß es erklärt, warum sie sich manchmal nicht gut genug fühlte, um auf ihrem besten Level zu performen, und warum sie manchmal bei einer Publicity mitspielte, die ihre Schwächen herausstellte und sie so eher als Spektakel denn als Künstlerin vermarktete. Tatsächlich stellt O’Meally einige sehr treffende und unangenehme Fragen und hat dazu auch die entsprechend einleuchtenden und unbarmherzigen Antworten, so daß man vielleicht auch seinen eigenen Umgang mit dem Mythos dieser faszinierenden Frau hinterfragt.

Die sechs CDs dieser Box enthalten die Musik, die Billie Holiday in den letzten sieben Jahre ihres zu kurzen Lebens machte, alle neu bearbeiteten Mastertakes ihrer vielen Verve-Aufnahmen der Jahre 1952 bis 1959. Und diese klingen tatsächlich fast noch besser, wenn man sie hört, ohne die alten Klischees im Hinterkopf zu haben. Fantastisch, unerreicht und bahnbrechend sind und bleiben diese Songs allemal. Wie Lady Day hier mit Oscar Peterson und seinem schlagzeuglosen Trio mit Ray Brown und Barney Kessel sowie mit Solisten wie Ben Webster, Johnny Hodges, Joe Newman, Benny Carter, Harry “Sweets” Edison, Jimmy Rowles, Hank Jones und Paul Quinichette musiziert, gehört zum Bewegendsten, Schönsten und Besten, was diese oder irgendwelche anderen Musiken zu bieten haben.

Als lebenslange Reisende durch die Kreise des Jazz, von denen einige zugegebenermaßen gefährlich waren, bekam sie eine Ausbildung, die sie zu einer der führenden Figuren des Jazz machte, eine wirklich innovative Stimme, gleichermaßen einflußreich für Sänger und Instrumentalisten, beschließt O’Meally seinen Essay im Booklet. Es ist kein Wunder, daß der Pianist und Komponist Thelonious Monk zu dieser Zeit – wie Billie ein Freund des American Songbook und ein Meister des untertriebenen und experimentellen Auslotens von Raum, Zeit und Melodie – ein Bild von Billie Holiday direkt an der Decke über seinem Piano hängen hatte. Denn sie repräsentierte nicht nur die Wurzeln und die Wege des Jazz; diese schöne Reisende war auch der Himmel selbst. Im Pantheon des Jazz gebührt Billie Holiday ein Platz an der Seite von Duke Ellington, Louis Armstrong und Charlie Parker.
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