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Vijay Iyer Sextet – wild funkige Freigeister

Auch auf “Far From Over” seinem fünften Album für ECM, überrascht der Pianist Vijay Iyer wieder mit einer neuen Besetzung und einem völlig anderen musikalischen Kontext.
Vijay Iyer
Vijay Iyer© Lynne Harty / ECM Records
23.08.2017
Für die spannungsgeladene Sequenz seiner ECM-Veröffentlichungen wurde der Keyboarder und Komponist Vijay Iyer international mit Lob überschüttet. Doch mit “Far From Over”, seinem fünften Album seit 2014, schafft er es tatsächlich noch einmal neue Höhen zu erreichen. Zu hören ist Iyer, der 2012, 2015 und 2016 von DownBeat zum Künstler des Jahres gekürt wurde, diesmal mit einem neuen Sextett, das sich aus virtuosen Improvisationsmusikern zusammensetzt: aus Kornettspieler Graham Haynes, den Saxophonisten Steve Lehman und Mark Shim, Bassist Stephan Crumb und Schlagzeuger Tyshawn Sorey. Diese dynamische Band macht sich den ganzen Reichtum der Jazzgeschichte zunutze, obwohl sie musikalisch kühn auf unerkundete Territorien vorprescht. Die Musik – von der Los Angeles Times als “ungestüm” und “wild funky” beschrieben – ist mal aufregend explosiv (“Down To The Wire”, “Good On The Ground”), dann wieder karthatisch elegisch (“For Amiri Baraka”, “Threnody”). Sie bietet melodische Hooks, berückende Atmosphären, rhythmische Muskulosität und eine elementare Beseeltheit. “Diese Gruppe hat eine Menge Feuer in sich, aber auch Erdiges, denn ihre Klänge, Timbres und Texturen haben eine solche Tiefe”, sagt Iyer. “Und es gibt auch Luft und Wasser – diese Musik ist in Bewegung.”
Seit Vijay Iyer 2014 bei ECM Records eine neue musikalische Heimat fand, legte er vier faszinierende Alben vor. Und auf jedem präsentierte sich der Pianist mit einer anderen Besetzung und in einem völlig neuen Kontext. Mal mit einem Streicherquartett und zusätzlicher Elektronik (“Mutations”, 2014) oder dem renommierten International Contemporary Ensemble (“Radhe Radhe: Rites of Holi”, 2014), dann in einem klassisch anmutenden Klavier-Trio mit Bassist Stephan Crump und Schlagzeuger Marcus Gilmore (“Break Stuff”, 2015) oder im Duo mit dem Trompeter Wadada Leo Smith (“A Cosmic Rhythm with Each Stroke”, 2016).  Auf “Far  From Over” reizt Iyer die melodischen und rhythmischen Möglichkeiten des eingespielten Materials in einer für ihn typischen engagierten Weise aus. Beste Beispiele dafür sind seine Soli in dem groovenden “In Action” und in “Nope”. Seine Orchestrierung mit den Blasinstrumenten ist sowohl strukturell als auch aufregend, doch beim Kreieren seiner Sextettmusik neigte Iyer dazu, “zuerst auf dem Rhythmus aufzubauen, auf der Identität des Grooves”, wie er erläutert. “Viele der Rhythmen sind ethnischen Ursprungs, basieren auf westafrikanischer Trommel- oder indischer klassischer Musik – ‘Good On The Ground’ greift mit seiner einfachen, aber zerklüfteten Tanzqualität auf Rhythmen südindischer Volksmusik zurück. Es gibt einem beinahe das Gefühl, sich bei irgendeinem Outdoor-Festival zu befinden.”
Im Begleittext zum Album verweist Iyer auf den treibenden, freien Geist des Albums, indem er Wadada Leo Smith zitiert. Der Trompeter meinte einmal, dass die ideale Funktion von Musik ist, wenn sie das Leben der Hörer verwandelt, und sei es nur für einen Moment, “so dass sie, wenn sie dann wieder zur Routine ihres Lebens zurückkehren, ein kleines Stückchen von etwas Anderem mitnehmen können.”
Iyer geht auf den Gedanken näher ein, wenn er über das problematische soziopolitische Klima in der Welt reflektiert: “Es gibt Widerstand in dieser Musik, ein Insistieren auf Würde und Mitgefühl, eine Weigerung sich zum Schweigen bringen zu lassen. Die Musik kann hart zuschlagen, aber auch eine eindringliche Qualität, eine Sehnsüchtigkeit haben – was im Grunde eine Bluesästethik ist, die abstrahiert und dann von den verschiedenen Spielern dieser Gruppe auf verschiedene Weisen verkörpert wurde. Es gibt eine gewisse Renitenz, die aber durch die Einheit, die das Sextett bildett, irgendwie zusammen aufgewogen wird – das ist für mich der Sound dieser Band. Freude und Gefahr – auch dieses Spektrum der Möglichkeiten gibt es. Manchmal ist das Spiel von wirklicher Ausgelassenheit geprägt, obwohl die Musik höllisch schwer zu spielen ist. Manchmal wissen wir nicht, wie wir uns noch aus der Affäre ziehen sollen, was uns verletztlich macht. Aber diese Verletzlichkeit ermöglicht uns dann, auf Emotionen zuzugreifen und diese in die Musik einzubringen. Es geht nicht darum, irgendwelche Fähigkeiten zu demonstrieren oder ‘wütend’ zu sein. Es geht darum, verletzlich zu sein - das muss in der Musik zum Ausdruck kommen. Wenn ich das bei jemand Anderem höre, wirkt es auf mich wie eine Einladung. Wenn man beim Musikmachen etwas von sich offenbart, bringt es einen den Hörern gleich näher. Sie können das Gefühl gewinnen, in die Musik involviert zu sein, so dass es eine gemeinsame Erfahrung ist. Genau das ist die Idee.”
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