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Nylon – Die Liebe kommt

02.07.2004
Ein musikalischer Ausflug. Ein Ansatz, das deutsche (Liebes-)Lied wieder mehr als Song oder Chanson zu begreifen. Eine sommerleichte Interpretation, die einen verlorenen Faden aufgreift. Was bereits seit einigen Jahren mit den Stilmitteln des Rhythm’n'Blues gelingt – bei durchaus respektablen Ergebnissen – bekommt auf diese Weise ein technoides Gegenstück: Zerbrechliche, zuweilen schwelgerische Texte erscheinen in einem digitalen Kontext – und wirken dabei zeitlos elegant.
Weimarer Republik, Wirtschaftswunder und Neue Deutsche Welle finden für den Moment in elektronischen Melodien zusammen. Dem ersten Anschein nach ein Blick zurück. Doch gleichzeitig auch einer nach vorn. Möglicherweise ein kleiner Wink an das moderne Songwriting, daß es auch jenseits von Gitarrenpop eine Zukunft gibt.
Im vorliegenden Fall geht es um Originalkompositionen, die in den letzten neun Jahrzehnten entstanden sind. Das älteste Stück “Die Liebe kommt” von den Comedian Harmonists stammt noch aus der Schellack-Ära. Auch Marlene Dietrichs “Johnny, wenn du Geburtstag hast” überdauerte die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Dazu kommen seltene Perlen wie etwa Daliah Lavis “Es ist zu spät”-Eindeutschung von Carol Kings 70er-Jahre-Großhit “It’s Too Late” oder Senta Bergers Ausflug in die Musikwelt “Vergiss mich, wenn du kannst”. Sie wurden reduziert und minimalisiert. Gleichzeitig kommen – in Kombination mit Samples und Beats – “klassische” Instrumente wie Kontrabaß, Trompete oder ein Wurlitzer-E-Piano zum Einsatz. Wenn man so will, eine elektronische Zeitreise.
Aus dieser Versuchsanordnung entstand Nylon. Die Musiker Hagen Demmin, Stefan Rogall, Arnold Kasar und Paul Kleber trafen sich mit der Sängerin Niku Sebastian in einem Berliner Studio. Die Vergangenheit des Teams im vielfältig schillernden Kosmos des Sonar Kollektivs führte bislang zu Bands/Projekten wie Micatone, dem Lisa Bassenge Trio oder Atomhockey. Und deren nu-groovige Einflüsse sind durchaus herauszuhören. Etwa, wenn gleich zu Beginn Hildegard Knefs Klassiker “Im achtzigsten Stockwerk” in einem schwebenden House-Track auflebt. Die Knef (Deutschland-West) und Manfred Krug (ehemals Deutschland-Ost) bilden mit jeweils drei Songs aus ihrem Repertoire so etwas wie die musikalische Achse, die mal mehr zum Bossa Nova (“Früh war der Tag erwacht”), dann wiederum in eine dubbige Richtung (“Wenn ich dich seh'”) schwenkt. Barbara Thalheims DDR-Original “Frühling in der Schönhauser Allee” entstand 1971 als Dixieland-Version. Bei Nylon wird daraus eine spröde, melancholische Großstadt-Symphonie ohne Pathos und große Gesten. Niku Sebastians klare, prägnante Stimme bildet die Konstante in dieser digitalen Revue altersloser Klassiker. Sie lebt mit den einzelnen Stücken, ist hier heiter-beswingt und dort reif für die blaue Stunde in der Bar.
In der US-amerikanischen Musikbetrachtung taucht zuweilen der Begriff “Retro Nuevo” auf. Wenn sich z.B. (Vokal-)Elemente aus Gospel und Soul im Deep House der Neunziger wiederfinden oder die atmosphärische Dichte aus dem Harlemer Apollo der sechziger Jahre auf dem Dancefloor-Events der Clubnacht “Body & Soul” zu spüren ist. Auf eine ganz ähnliche Art und Weise fusionieren auch Nylon den Charme und den Geist deutschsprachiger Chansons mit der Jetztzeit. Ein digitales Crossover der Epochen – Retro Nuevo Alemania.
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