Keith Jarrett | News | Keith Jarrett über "A Multitude Of Angels": "Ich spielte, als ob es für mich das letzte Mal war."

Keith Jarrett über “A Multitude Of Angels”: “Ich spielte, als ob es für mich das letzte Mal war.”

Die 4-CD-Box “A Multitude Of Angels” enthält die letzten komplett improvisierten Solokonzerte, die Keith Jarrett 1996 in Italien gab und als Karrierehöhepunkte bezeichnet.
Keith Jarrett
Keith Jarrett© Henry Leutwyler/ECM Records
04.11.2016
Mit den 1973 auf drei LPs veröffentlichten “Solo Concerts Bremen/Lausanne” schlug Keith Jarrett ein völlig neues Kapitel in der Jazzgeschichte auf. Nie zuvor hatte ein Pianist es gewagt, so ungebunden und ohne Pausen einzulegen über einen ganzen Konzertabend hinweg zu improvisieren. "Diese Marathone bewiesen, dass Jarrett einer der größten Improvisatoren des Jazz ist2, meinte der britische Trompeter und Jazzjournalist Ian Carr später. “Er verfügt offensichtlich über einen unerschöpflichen Fluss rhythmischer und melodischer Ideen, eine der brillantesten pianistischen Techniken überhaupt und die Fähigkeit, komplexe und profunde Gefühle zu artikulieren.” In den folgenden zwanzig Jahren wurden noch etliche Solokonzerte für atemberaubende Alben wie “Sun Bear Concerts”, “Paris Concert”, “Vienna Concert” und natürlich das legendäre “Köln Concert” aufgezeichnet. Das letzte dieser Solokonzerte war 1995 imTeatro alla Scala in Mailand aufgenommen worden und erschien zwei Jahre später unter dem Titel “La Scala”. Im darauffolgenden Jahr kehrte Jarrett aber noch einmal nach Italien zurück, um im Oktober 1996 vier weitere Soloauftritte in Modena, Ferrara, Turin und Genua zu absolvieren. Nicht bekannt war, dass er diese damals selbst auf seinem DAT-Rekorder mitschnitt. Nun, zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung, erscheinen die Aufnahmen, die ein immens wichtiges Kapitel in der Karriere des Pianisten abschlossen, endlich in der vier CDs umfassenden Box “A Multitude of Angels”. Der Pianist selbst bezeichnet diese Konzerte, die unter erdenklich günstigen Rahmenbedingungen stattfanden, als “Höhepunkte in meiner Karriere”.
“Der Jazz ist hier stets präsent”, sagt Keith Jarrett über die Musik von “A Multitude Of Angels”,  "aber man spürt auch meine große Nähe zur klassischen Musik (moderner und alter, Ives und Bach)." Der Bogen der Musik war bei jedem dieser vier italienischen Konzerte besonders weit gespannt. “Ich konnte die Energie spirituell spüren, fühlte mich manchmal wie in einer Baptistenkirche, manchmal wie in einer Moschee, oder in Irland, Spanien oder Afrika.... Natürlich ging mir nichts von all dem durch den Kopf, während ich spielte. Denn ich spielte, als ob es für mich das letzte Mal war.” In gewissem Sinne war es das in dieser Form auch. Denn mit diesen Konzerten beendete Jarrett den Zyklus seiner ungezügelten, frei fließenden, weit ausholenden Improvisationen. “Dies waren die letzten Konzerte, bei denen ich jedes Programm ohne Pausen spielte”, erklärt der Pianist in seinen Anmerkungen zu “A Multitude of Angels”.
Nach diesen Konzerten sollten mehr als zwei Jahre verstreichen, bevor Jarrett wieder in der Öffentlichkeit auftrat. In seinem Heimstudio nahm er 1997 noch solo “The Melody At Night With You” auf, eine Meditation über die Reinheit der Melodie. Zur Bühne kehrte erst Ende 1998 mit seinem “Standards”-Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette zurück. Nach und nach nahm er dann auch wieder Solokonzerte in seinen Terminkalender auf. Die ersten, 2002 in Japan mitgeschnitten, wurden 2005 auf der Doppel-CD “Radiance” veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jarrett bereits sein Spielformat geändert: denn auf dem Programm standen bei ihm nun Abfolgen von improvisierten, kürzeren “Stücken”.
Mit den Konzerten, die jetzt in der Box “A Multitude Of Angels” vorgelegt werden, schloss Jarrett ein ungemein wichtiges Kapitel seiner Karriere ab. Über seine frühen Solokonzerte meinte der Pianist einmal: “Wenn ich reine Improvisationen spiele, steht jegliche Art von intellektuellen oder emotionalen Haltegriffen dem freien Fluss der Musik im Weg.” Die jetzt neu erscheinenden Aufnahmen, die Jarrett damals selbst mit einem DAT-Rekorder aufzeichnete, erlauben dem aufführenden Künstler und dem Hörer wieder in den Fluss hineinzufinden. “Ich kann nur hoffen, dass jeder Hörer dasselbe außerordentliche Erlebnis hat wie ich es verspürte, als ich die Musik wiederentdeckte.”
 
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