Keith Jarrett | News | Ein Meisterwerk der Improvisation von geradezu enzyklopädischem Ausmaß

Ein Meisterwerk der Improvisation von geradezu enzyklopädischem Ausmaß

Fünf Konzerte gab der Pianist Keith Jarrett im Sommer 2016 auf seiner letzten, umjubelten Solotournee durch Europa. Daraus veröffentlicht ECM Records jetzt den Titel “New Vienna” auf CD und Doppel-Vinyl.
Keith Jarrett
Keith Jarrett(c) Roberto Masotti / ECM Records
08.05.2025
Das Album auf 2LP und als Sonderedition mit Art Card und mehr von Keith Jarrett und ECM Records finden Sie in unserem JazzEcho-Store.
Budapest, Bordeaux, Wien, Rom und München waren die Stationen der letzten Europatournee von Keith Jarrett im Juli 2016. Danach gab der Pianist nur noch ein Solokonzert am 15. Februar 2017 im Isaac Stern Auditorium der Carnegie Hall in New York. Es sollte, wie sich später herausstellte, sein allerletztes Konzert sein. Als erstes Album der Europatournee erschien 2019 “Munich 2016” mit dem Konzert, das Jarrett am 16. Juli 2016 in der Münchner Isarphilharmonie im Gasteig gegeben hatte. “‘Munich 2016' zeigt Jarrett von seiner geschmeidigsten und einfallsreichsten Seite”, schrieb Mike Hobart in der Financial Times. “Der Pianist setzt die Kernelemente seiner Ästhetik auf frische und unerwartete Weise neu zusammen.” Bereits ein Jahr später wurde mit “Budapest Concert” ein zweiter Konzertmitschnitt der Tournee veröffentlicht, über den Peter Rüedi in der Weltwoche schrieb: “Das neue Album präsentiert einen Jarrett auf dem Gipfel seiner Kunst… ‘Budapest’ könnte sein Testament sein, dieses Rezital von stupender Vielseitigkeit…” Zur gleichen Zeit wurde durch einen Artikel in der New York Times bekannt, dass Jarrett seine Karriere für beendet erklären musste, da er Anfang 2018 zwei Schlaganfälle erlitten hatte, von denen er sich leider nie wieder vollständig erholte. Umso erfreuter war die Musikwelt, als 2022 mit dem “Bordeaux Concert” eine weitere brillante Live-Aufnahme aus dem Jahr 2016 erschien. “‘Bordeaux Concert’ enthält mehrere hymnenartige Meditationen, die so vollständig wirken, dass man sie für durchkomponiert halten würde, wenn sie von jemand anderem gespielt würden”, bemerkte James Hale in DownBeat. Anlässlich des 80. Geburtstags von Keith Jarrett am 8. Mai erscheint nun “New Vienna”, das vierte Album dieser Tournee.
Warum “New Vienna”? Wie Jarrett-Kenner wissen, gibt es in seiner Diskografie bereits ein legendäres Wien-Konzert, das 1991 in der Wiener Staatsoper aufgezeichnet und ein Jahr später von ECM unter dem Titel “Vienna Concert” veröffentlicht wurde. In den Liner Notes zu diesem “Vienna Concert” schrieb Keith Jarrett damals: “Ich habe das Feuer sehr lange umworben, und in der Vergangenheit sind viele Funken geflogen, aber die Musik dieser Aufnahme spricht endlich die Sprache der Flamme selbst.” Als Keith Jarrett am 9. Juli 2016 in die österreichische Hauptstadt zurückkehrte, ließ er die Flammen der Inspiration an einem anderen historischen Ort mit lebendiger Akustik wieder auflodern. Diesmal trat er im Goldenen Saal des Musikvereins auf, wo zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Werke von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern uraufgeführt wurden, die den Kurs der modernen Musik verändern sollten. Die Musik, die Keith Jarrett bei seinem Auftritt im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins aus dem Stegreif formte, war von einer geradezu enzyklopädischer Bandbreite. Die langen Formen, die Jarretts frühere improvisierte Solokonzerte kennzeichneten (von “Solo Concerts: Bremen/Lausanne” über “The Köln Concert” und das erste “Vienna Concert” bis hin zu den 1996 entstandenen Aufnahmen der 4-CD-Box “A Multitude Of Angels”), waren in der letzten Phase seines Konzertlebens Darbietungen kürzerer, in sich geschlossener und kontrastierender Stücke gewichen, die in ihrer Gesamtheit oft einen suitenartigen Charakter besaßen. Und so war es auch am 9. Juli 2016 im Wiener Musikverein.
In “Part I” entfacht Jarrett einen spontanen Wirbelsturm aus Klängen, aufbrausend, dicht und vielschichtig – ungestüm wie eine Naturgewalt. In “Part II” lässt er zunächst Akkorde in der Stille schweben, bevor er langsam eine nachhallende Melodie entwickelt. Die Rhythmik steht hingegen in “Part III” im Vordergrund; Jarrett demonstriert hier seine herausragende Fähigkeit, mit jeder Hand äußerst unabhängig zu agieren und ineinander verwobene Muster zu entwickeln.
“Schon nach den ersten drei Stücken wurde deutlich, worin Jarretts große Stärke besteht”, bemerkte Helmar Dumbs in seiner Konzertkritik in der österreichischen Zeitung Die Presse: “Er vermag es, scheinbar die Zeit außer Kraft zu setzen und (…) dem Publikum sein Zeitmaß aufzuzwingen. Eines, dem man sich getrost überantworten kann. Über viele Minuten schafft es Jarrett etwa im zweiten Teil, die Linien in beiden Händen in einer unglaublichen Spannung gegeneinanderzuführen. Die intensive Beschäftigung mit Bach hat hier hörbar ihre Spuren hinterlassen. Bezwingend, wie es Jarrett immer wieder gelingt, zunächst zufällig erscheinende Bewegungen ganz unmerklich zu einem Pfad zu verdichten, der sich dann in der Rückschau ganz zwangsläufig ausnimmt.”
In “Part IV” findet Jarrett zu hymnischer Andächtigkeit, während “Part V” eine pure Balladendichtung mit perlenden Läufen und frei schwingenden, fantasievollen Melodiebögen ist. In “Part VI” verändert der Pianist die lyrische Grundstimmung und schafft abstraktere Klanggebilde. “Part VII” ist ein berührend schönes Stück, das auch gut in das Repertoire von Jarretts legendärem Belonging-Quartett gepasst hätte. Mit erdigem Blues überrascht der Pianist in “Part VIII”, bevor er uns in “Part IX” mit seinen Country- und Gospelanklängen daran erinnert, wie allumfassend seine musikalischen Visionen sein können. Das Programm endet mit “Somewhere Over The Rainbow”, einem Standard, den Jarrett bei seinen Konzerten oft als Zugabe spielt. Wie nicht anders zu erwarten, phrasiert er das Stück diesmal etwas anders als in den ebenfalls großartigen Versionen, die auf den Alben “La Scala”, “A Multitude Of Angels” und “Munich 2016” zu hören sind.
Weitere Veröffentlichungen mit Musik von Keith Jarrett sind in Vorbereitung.
 
  • Keith Jarrett: Klavier Solo Live Konzert, Tokio, 2002
  • Keith Jarrett Trio: Tokio ’96, Konzert, Orchard Hall
  • Keith Jarrett Trio: Standards II, Konzert, Tokio, 1986
  • Keith Jarrett Trio: Standards I, Konzert, Tokio, 1985
  • Keith Jarrett Trio: Live im Open Theater East, Konzert, Tokio, 1993 
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