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Jamie Cullum – Catching Tales

23.09.2005
Auf seinem Verve-Debütalbum “Twentysomething” hatte Jamie Cullum noch überwiegend Jazzstandards und andere Stücke aus fremder Feder interpretiert. Diesmal präsentiert er seinem Publikum auf dem neuen Album “Catching Tales” vor allem Songs, die von ihm selbst geschrieben wurden. Und die brauchen sich hinter den Jazz- und Pop-Klassikern, die man von Jamie bereits kennt, wahrlich nicht zu verstecken.
Im Dezember 2004 hatte Jamie Cullum endlich einmal Gelegenheit, Atem zu holen und sich um ein paar grundlegende Dinge zu kümmern. Nachdem er etliche Monate auf Tournee verbracht hatte, kehrte er letztes Jahr kurz vor Weihnachten schließlich wieder nach Hause zurück, setzte sich dort an sein Piano und verspürte gleich das Kribbeln, die Erfahrungen der vorangegangenen zwei Jahre in neue Songs umzusetzen.

“Ich war richtig scharf darauf, neue Songs zu schreiben”, erinnert sich Jamie. “Ohne meine Liebe zur Musik hätte ich es wohl kaum geschafft, eine solch schlauchende Tournee durch die ganze Welt und die damit verbundene harte Arbeit zu überstehen. Ich hatte zwei verrückte Jahre hinter mich gebracht und war nun endlich wieder dort, wo ich mich am wohlsten fühle: vor meinem Klavier – und jetzt wollte ich dort einfach nur neue Musik schaffen. Aber ich habe andererseits wirklich keinen Grund zu klagen: Ich hatte in diesen zwei Jahren soviele verrückte Dinge getan und soviel Spaß gehabt, daß ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, wie mein Leben heute wäre, wenn diese zwei Jahre nicht gewesen wären. Diese Zeit hat mein ganzes Leben verändert und daran wird sich – komme, was wolle – auch nichts ändern.”

Jamie hätte sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, wie sich die Dinge für ihn entwickeln würden. Der in Essex geborene und in Wiltshire aufgewachsene Cullum hatte sich von jeher geradezu obsessiv für alle Arten von Musik interessiert, entdeckte den Jazz aber erst als Teenager, als ihm sein älterer Bruder Ben Aufnahmen von Miles Davis vorspielte. Während er – ein paar Jahre später – die Universität besuchte, um Anglistik zu studieren, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Sänger und Pianist in Pubs und Hotels, auf Kreuzfahrtschiffen und wo man ihn sonst noch auftreten ließ.

“In der Nacht vor meiner Abschlußprüfung an der Uni hatte ich einen Auftritt”, erzählt er. “Meine Abschlußfeier ließ ich sausen, um auf Tournee zu gehen und danach auf einem Kreuzfahrtschiff zu spielen. Ich hatte also schon damals eigentlich nur Musik im Kopf.” Um noch mehr Auftrittsmöglichkeiten zu ergattern, nahm Jamie sogar einen Kredit auf und spielte von dem Geld sein erstes Album ein.

Aber schon bald verbreitete sich die Kunde von seinem Talent. Jamie zog nach London, wo er bei dem auf Jazz spezialisierten Label Candid Records sein zweites (und ebenfalls mit größtenteils eigenen Mitteln produziertes) Album “Pointless Nostalgic” veröffentlichen konnte. Und das stieß im Londoner Jazzzirkel auf reges Interesse.
“Ich hatte nicht davon geträumt, ein Popstar oder ähnliches zu werden. Ich dachte nie, daß ich das dafür notwendige Talent oder Selbstvertrauen hätte. Mein plötzlicher Erfolg hat mich selbst vollkommen überrascht. Ich hatte zwar schon vorher ein Album aufgenommen, aber das hatte ich nicht einmal bei einer Plattenfirma unterbringen können. Das verkaufte ich nur bei meinen Gigs und machte mir darüber auch keine weiteren Gedanken.”

Auch in London spielte Jamie zunächst wo immer es ging (z.B. regelmäßig im Pizza Express) und war sich auch nicht zu schade, bei Hochzeitsfeiern aufzutreten. Bis die Jazzabteilung von Universal Music auf ihn aufmerksam wurde und ihm im April 2003 einen traumhaften Plattenvertrag über 1 Million britische Pfund (1,45 Millionen Euro) anbot.

Selbst zu diesem Zeitpunkt hätte noch niemand den überwältigenden Erfolg von “Twentysomething”, Jamie Cullums im Oktober 2003 veröffentlichtem ersten Album für ein Major-Label, vorhersehen können. Auf “Twentysomething” riß Jamie spielerisch die Grenzen zwischen Pop und Jazz nieder, kombinierte erfrischend einzigartige Arrangements von Jazzstandards mit ein paar eigenen Kompositionen und überraschenden Coverversionen von Jimi-Hendrix- und Jeff-Buckley-Songs. Es war ein Album von jemandem, der Musik in all ihren Formen liebt und allen anderen zeigen wollte, was möglich war. Innerhalb von wenigen Monaten verkaufte sich das Album unglaubliche 2,5 Millionen Mal und wurde damit zum schnellst- und bestverkauften Jazzalbum in der englischen Musikgeschichte.

“Das war alles eine totale Überraschung”, sagt er heute. “Ich hatte das alles nie erwartet und mir, ehrlich gesagt, auch nie in dieser Weise gewünscht. Ich war stets so obsessiv mit der Musik an und für sich beschäftigt, daß ich mir über die Dinge, die sie nach sich ziehen könnte, gar keine Gedanken machte.”

Der Erfolg ebnete ihm dann auch den Weg in die USA, wo er gleich bei seinem ersten Besuch drei Wochen lang in dem renommierten Oak Room des New Yorker Algonquin-Hotels auftrat. Anschließend ging er auf eine sechswöchige Tournee durch den Rest des Landes, wo er für seine frenetischen Live-Auftritte, bei denen so einige Pianos auf der Strecke blieben, nicht weniger frenetische Kritiken erntete. (Gerüchte besagen, daß Jamie schon 17 Pianos ramponiert hat – fünf davon total.) Auftritte hatte er dort auch in David Lettermans “Late Night Show” und Jay Lenos “Tonight Show”.

“Wir haben die ganze Tournee mit einem Bus gemacht, und das hat mir richtig gefallen”, schwelgt Jamie in Erinnerungen. “Wir sind in Colleges aufgetreten, in kleinen Clubs und Rock-Schuppen zwischen Nashville und Kanada, und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, einen Traum zu durchleben. Es war schlichtweg großartig!”

In Großbritannien absolvierte Jamie Cullum drei ausverkaufte Tourneen, trat in der äußerst populären “The South Bank Show” auf und wurde – worüber er sich besonders freute – zum Glastonbury-Festival eingeladen.

“Es war erstaunlich. Ich glaube, das war der beste Auftritt, den ich je hingelegt habe. Ich habe das ganze Konzert auf Video, und ich sah, als ich dort spielte, ein bißchen betrunken aus. Mit Eleganz hatte das alles nichts zu tun – am Ende der Show habe ich mich sogar noch mit Bier bekleckert -, aber es war einfach großartig. Und ich meine damit nicht nur den Gig. Ich habe dort das ganze Wochenende in meinem Zelt verbracht. Es war toll!”

Beim Festival in Glastonbury hatte sich genau das Publikum eingefunden, auf das Jamie gehofft hatte. Und alle waren von ihm begeistert, selbst diejenigen, die noch nie zuvor Jazz gehört hatten.

“Mich überraschte, wie sich die Leute auf meine Musik einließen. Natürlich gab ich mir Mühe, ihnen den Zugang zu meiner Musik zu erleichtern”, erläutert er. “Ich mag es, verschiedene musikalische Elemente auf abenteuerliche Weise miteinander zu vermischen, aber ich tu dies natürlich nicht auf diese disharmonische und ausufernde Art wie manche Hardcore-Jazzmusiker. Ich bevorzuge es, wenn die musikalische Mischung rund klingt, und – zu meinem Glück – mag ich es auch, diese eher abenteuerlichen Sachen mit Dingen zu vermischen, die etwas familiärer klingen. Ich liebe Popmusik, deshalb mische ich Jazz mit Popmusik. Ich mache das nicht, weil ich auf den kommerziellen Erfolg schiele, sondern einfach weil mir diese Musik gefällt. Und ich glaube, daß ich mit meiner Art, dies zu tun, bei den Leuten einen Nerv getroffen habe.”

Nach dem überwältigenden Erfolg, der Jamie einen Popstar-Status einbrachte, interessierten sich die Leute natürlich auch für die Person hinter der Musik. Es gibt kaum einen Zeitungsartikel, der nicht auf sein jungenhaftes Aussehen und seine charismatische Bühnenpräsenz eingeht. Jamie registriert dies alles mit einiger Belustigung.

“Es kommt schon vor, daß ich auf der Straße erkannt werde. Aber damit habe ich kein Problem. Ich kann immer noch an denselben Orten essen, trinken und scheißen, ohne mich durch irgendwen belästigt zu fühlen. Wenn man mich so auf der Bühne herumhopsen sieht, könnte man auf die Idee kommen, daß es mir nur darum ginge, Aufmerksamkeit zu erheischen – aber danach habe ich mich nie gesehnt. Ich genieße es einfach, Musik zu machen, und lasse mich dann gehen. Mehr steckt nicht dahinter.”

Einer der angenehmsten Nebeneffekte war, daß Jamie einige seiner Idole persönlich kennenlernte. Etwa den legendären Jazzpianisten Dave Brubeck (“Er umarmte mich wirklich sehr herzlich.”) oder Thom Yorke (“Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen, aber er schüttelte mir immerhin die Hand.”) Ein besonderes Highlight war das Zusammentreffen mit dem derzeit so angesagten Musiker und Produzenten Pharrell Williams (The Neptunes, N.E.R.D.) bei der Verleihung der Brit Awards.

“Den wollte ich wirklich einmal kennenlernen. Aber ich hätte nicht damit gerechnet, daß ich ihn so gut kennenlernen und soviel Zeit mit ihm verbringen würde, wie es dann der Fall war”, meint Jamie. “Wir haben zusammengearbeitet, wir sind zusammen ausgegangen. Wir haben uns angefreundet und zusammen Party gemacht.”

Auf seinem faszinierenden neuen Album “Catching Tales” zieht der mittlerweile 25jährige nun seine musikalische Bilanz dieser bemerkenswerten Periode. Er hatte in dieser Zeit soviele neue Erfahrungen gemacht und soviel neue inspirierende Musik kennengelernt, daß er innerhalb von nur vier Monaten genügend Songs zusammen hatte, um gleich zwei Alben damit zu füllen. Unterbrochen wurde sein kompositorischer Arbeitseifer nur von ausführlichen Pub-Besuchen mit Freunden und Familienmitgliedern. “Catching Tales” ist eine atemberaubend vollendetes Album, das den jungen Musiker sowohl bei seinen extrovertierten musikalischen Experimenten als auch in den intimeren Momenten selbstbewußter denn je zeigt – auch wenn es ihm an Selbstbewußtsein bisher wirklich nie gemangelt hatte.

Die meisten Stücke dieses in London und Los Angeles aufgenommenen Albums schrieb Jamie ganz allein, andere verfaßte er gemeinsam mit den Produzenten Dan The Automator oder Guy Chambers (Natasha Bedingfield, Texas, Kylie Minogue), dem Songwriter Ed Harcourt sowie seinem Bruder Ben. [Anmerkung: Einige im Vorfeld angekündigte Songs – darunter einer, den Jamie gemeinsam mit Pharrell Williams komponierte – konnten leider nicht auf das Album genommen werde, da es Differenzen über die Verlagsrechte gab.] Darüberhinaus interpretiert er auch wieder in ganz eigener Manier drei Standards (“Fascinating Rhythm”, “I Only Have Eyes For You” und “Our Day Will Come”) und eine Coverversion eines zeitgenössischen Songs (“Catch The Sun” von The Doves).

“Dieses Album zeigt sehr viel mehr von mir selbst und repräsentiert auch besser, wo ich als Musiker hingelangen möchte”, erklärt Jamie. “Ich wollte diesmal, daß die Musik für sich selbst spricht und keinerlei Erklärung von meiner Seite bedarf. Diese Mixtur aus Jazz und Pop bewegt sich in eine wesentlich progressivere Richtung. Es ist mir, glaube ich, auch gelungen, mich in dieser Musik besser selbst auszudrücken. Als Teenager versuchte ich das, in dem ich auf einer abgewrackten Gitarre herumklampfte. Heute kann ich das mit ganz anderen Mitteln sehr viel besser tun.”

“Anfangs dachte ich, daß gewisse Songs einfach nicht zu dem paßten, was ich mit den Jazzstandards anstellte. Aber das war ein Irrtum, sie passen dazu und machen eigentlich nur deutlich, daß der Jazz eine großartige Plattform ist, auf der man alles machen kann, was man will. Die Leute fragen mich, warum ich Jazz spiele. Ganz einfach: weil man ihn mit allen anderen erdenklichen Musikformen in Einklang bringen kann. Man kann ihm mit Tanzmusik, Rock, Popmusik, Klassik, Funk… einfach mit allem kombinieren. Und auf diesem Album streife ich all diese Stile.”
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