Sein Vermächtnis lebt im Spiel der vielen Künstler weiter, die er über mehr als fünf Jahrzehnte hinweg zutiefst beeinflusst hat – angefangen bei der langen Linie der Trompeter, die er mit dem flüssigen, singenden Ton seines Horns inspirierte, bis zur noch viel größeren Gruppe von Musikern, deren eigene Synthesisansätze einen wichtigen Impuls durch Hassells elegante Experimente unter dem Dach seines “Fourth World”-Musikkonzepts erhielten.
Der 1937 in Memphis/Tennessee geborene Hassell machte erst seinen Master an der Eastman School of Music in Rochester/New York und studierte danach in Köln unter Karlheinz Stockhausen serielle und elektronische Musik. 1967 kehrte Hassell in die USA zurück und trat dort dem Zirkel um La Monte Young bei, dem auch Terry Riley angehörte. Noch im selben Jahr war er als Mitglied von Rileys Ensemble an der ersten Einspielung des minimalistischen Monoliths “In C” beteiligt. Durch La Monte Young lernte Hassell auch den klassischen nordindischen Sänger und Pandit Pran Nath kennen. Die Art, wie dieser seine Melodien in Ragas entfaltete, sollte schon bald großen Einfluss auf Hassells eigenes Werk ausüben. Als er die von Raga inspirierte Linien auf der Trompete mit dem Drive und Groove kombinierte, den er so sehr an Miles Davis' “Bitches Brew” und “On The Corner” liebte, begann Hassell neue künstlerische Horizonte zu erschließen. Miles' Musik, sagte er, “erweiterte das Vokabular” seiner Vorstellungskraft. “Ich konnte wie nie zuvor träumen und phantasieren.” Ähnlich äußerten sich später auch die Musiker einer ganzen Generation über Hassells Einfluss auf sie. Sein Werk öffnete ihnen neue Fenster, neue Blickwinkel auf die Musik der Welt, wenn er in seinen Aufnahmen Motive und Klangfragmente von überall her wie Wolken vorbeiziehen ließ.
Für ECM Records spielte Jon Hassell zwei Alben ein. “Power Spot”, in den Jahren 1983 und 1984 u.a. mit seinem oftmaligen Musikpartner Brian Eno, J. A. Deane, Jean-Philippe Rykiel, Michael Brook und Richard Horowitz aufgenommen, wirkt mit seinen elektronisch angereicherten Traumlandschaften immer noch sehr zeitgenössisch. 2008 erschien bei dem Münchener Label “Last night the moon came dropping its clothes in the street”. Das Album, dessen wunderbar poetischer Titel einem Gedicht des persischen Sufi-Poeten Jalaluddin Rumi entlehnt war, spiegelte Hassells Interesse an einer filmischen Herangehensweise beim Musikmachen wider. Wobei er den Schwerpunkt auf die Montage und Collage von Klangbildern legte sowie auf einen filmischen, atmosphärischen Sinn für Fluss. Seine Spielpartner waren diesmal u.a. Jan Bang, Jamie Muhoberac, Kheir-Eddine M’Kachiche, Eivind Aarset und Helge Norbakken.
Einige seiner besten Einspielungen steuerte Hassell zum “Siwan”-Projekt von Jon Balke und Amina Alaoui bei, das bei ECM im selben Jahr wie “Last night the moon came dropping its clothes in the street” veröffentlicht wurde. Seine Trompete schwebt dort über den massiven Klängen von Barockstreichern, Laute, Cembalo sowie Handtrommeln und tritt in einer Neuinterpretation der Ära von Al-Andalus in einen Austausch mit dem subtil kraftvollen Geiger Kheir-Eddine M’Kachiche. Hassell ist hier zwar nur Gastsolist, lieferte aber im Grunde die Blaupause für das Projekt, das einer Reise durch die Zeit und über Kontinente hinweg gleicht und ganz in der respektvoll kreativen transkulturellen Tradition steht, die er mit initiiert hatte.
Dass Jon Hassells Bedeutung weit über die Bereiche von Avantgarde und Jazz hinausreichte, machten zahlreiche Aufnahmen mit Pop- und Rockgrößen deutlich. Immer wieder ließ er seine unverwechselbare Trompetenstimme auf Alben von u.a. den Talking Heads, David Sylvian, Peter Gabriel, Ry Cooder, Ibrahim Ferrer, Tears For Fears, Hector Zazou, Jackson Brown, k.d. lang, Ani DiFranco und Duncan Sheik erklingen.