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Vielseitige Solokür: musikalische und persönliche Geschichten eines Ausnahmebassisten

Auf “Overpass”, seinem fünften Album für ECM Records, präsentiert sich der Bassist Marc Johnson erstmals als unbegleiteter Solist.
Marc Johnson
Marc JohnsonPriscila Silvestre / ECM Records
26.08.2021
Mit “Overpasss” steuert Marc Johnson einen bedeutenden und faszinierenden Beitrag zum Katalog der Solo-Bass-Aufnahmen von ECM bei. Das 2018 in Brasilien eingespielte Album zollt dieser Tradition des Labels Tribut – Johnson sagte einmal, dass Dave Hollands “Emerald Tears” zu den Soloaufnahmen gehörte, die seine Fantasie vor beinahe einem halben Jahrhundert beflügelt haben – und baut auf ihr zugleich in einer persönlichen, fantasievollen Weise auf.
Internationale Aufmerksamkeit hatte der aus Nebraska stammende Bassist erstmals in den späten 1970ern erlangt, als er mit 25 Jahren im letzten Trio des Pianisten Bill Evans in die großen Fußstapfen von Vorgängern wie Scott LaFaro, Chuck Israels und Eddie Gómez treten durfte. Zu Evans' Stammrepertoire gehörte die Miles-Davis-Komposition “Nardis”. Und diese Nummer diente Johnson damals praktisch als eine Art nächtlicher Workshop, anhand derer er bei jedem Auftritt das Potenzial des Basses als Lead-Stimme auslotete. Für “Overpass” hat er das Stück jetzt noch einmal aufgegriffen. “'Nardis' war tatsächlich der Ausgangspunkt für meine Erkundungen des Solobasses”, betont Johnson, “und bei dieser Darbeitung habe ich einen Großteil von dem Konzept und Vokabular zusammengefasst, das ich auf dem Album verwende.” Ein weiteres Stück, das Evans gerne spielte, war Alex Norths “Love Theme from Spartacus”. Johnson präsentiert die Nummer hier in einer Interpretation und mit einem Arrangement, das der Form der Komposition gerecht wird.
Die dritte Fremdkomposition, mit der sich Johnson auf “Overpass” auseinandersetzt, ist Eddie Harris' famoser “Freedom Jazz Dance”, dessen tänzerischer Puls Improvisationskünstler schon seit den 1960er Jahren immer wieder neu inspiriert. Darüber hinaus präsentiert er auf dem Album auch fünf eigene Stücke. Unter ihnen befindet sich eines mit dem Titel “Samurai Fly”, dass natürlich eine Neufassung von “Samurai Hee-Haw” ist. Die ungemein populäre östlich angehauchte Western-Nummer hatte er erstmals 1985 mit seiner Band Bass Desires (einem sehr einflussreichen Quartett mit den Gitarristen Bill Frisell und John Scofield sowie Schlagzeuger Peter Erskine) und später noch einmal mit dem John Abercrombie Trio für ECM aufgenommen. “Samurai Fly” ist einer von mehreren Tracks, bei denen der Bassist mit dezenten Overdubs arbeitet. Die neue Version ist schwerer als ihre Vorgänger und gleicht, wie Johnson verschmitzt anmerkt, vielleicht eher einem Sumo-Ringer als einem Samurai. Aber sie ist immer noch flink und effektiv und weist im Unterton eine deutliche Anspielung auf Bluegrass-Bassfiddles auf.
Marc Johnsons Musik war schon immer offen für Einflüsse aus verschiedenen Quellen. “Whorled Whirled World” zum Beispiel verweist mit seinen mosaikartigen Mustern und seiner sich drehenden, tänzerischen Energie sowohl auf eine Art erdige, globale Musik-Blaupause als auch auf die hypnotisierenden Qualitäten minimalistischer Wiederholungen. Der rhythmische Pulsschlag und Drive spielen immer wesentliche Rollen.
Zu “And Strike Each Tuneful String” merkt Johnson an: “In den frühen 80ern habe ich mich bewusst dafür entschieden, meinem Sound und meinem Konzept etwas Urwüchsiges zu geben. Ich hatte eine Field Recording entdeckt, die in den späten 60ern von Musikern aus Burundi gemacht worden war. Ein oder zwei Stücke von dieser Aufnahme erregten meine besondere Aufmerksamkeit. Die Musik wurde auf einer Inanga gespielt. Das ist ein zitherähnliches Instrument, das aus einem ausgehöhlten Baumstamm gefertigt und mit Saiten aus Ochsensehnen bespannt wird. Die Saiten wurden in verschiedenen Pattern gezupft, und der erdige Klang und die sich wiederholenden melodischen Motive wirkten ziemlich hypnotisierend. ‘And Strike Each Tuneful String’ spielt auf diese Field Recording an, ist aber auch eine Improvisation und kurze Reprise von ‘Prayer Beads’, einem Stück, das auf dem zweiten Album von Bass Desires erschien.”
Auf “Overpass” setzt sich Marc Johnson nicht nur mit seiner musikalischen und persönlichen Geschichte auseinander, sondern reagiert improvisierend auch spontan auf aktuelle Ereignisse. Bei seinen Reisen rund um den Globus traf er manchmal auf bemerkenswerte Instrumente. In São Paulo (übrigens die Geburtsstadt seiner Frau Eliane Elias) stieß er auf einen außergewöhnlichen Bass des Geigenbauers Paulo Gomes, den er seitdem jedes Mal, wenn er in der Gegend ist, bevorzugt spielt. Der Klang des Basses selbst, mit seiner vollmundigen Resonanz, war auch ein ausschlaggebender Faktor bei der Auswahl der gespielten Musik. Bei “Yin And Yang” beginnt er die Improvisation mit Flageolett-Tönen, die durch das Anschlagen aller vier Saiten dieses Basses erzeugt werden. “Die Kontinuität wurde dadurch erzeugt, dass ich die Saiten bis zum nächsten Anschlag ausklingen ließ. Ich habe zunächst eine lange Reihe von Anschlägen und Abklängen aufgenommen und dann eine Melodie und einige mit Bogen gespielte Effekte improvisiert. Das Ergebnis ist dieses Stück.”