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Verspielter und einfallsreicher denn je

Mit “Yeraz” legten der Saxofonist Trygve Seim und der Akkordeonist Frode Haltli 2008 ein Duo-Album von “purer Schönheit” vor. Nun erscheint mit “Our Time” der zweite musikalische Geniestreich der beiden Norweger.
2813 Trygve Seim Frode Haltli PF1
2813 Trygve Seim Frode Haltli PF1Hubert P. Klotzeck / ECM Records
12.09.2024
Auf “Our Time” lassen der Saxofonist Trygve Seim und der Akkordeonist Frode Haltli ihre langjährige musikalische Partnerschaft wieder aufleben, die sie vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert begonnen haben. Für das neue Album, mit dem an ihre erste Duo-Aufnahme “Yeraz” aus dem Jahr 2008 anknüpfen, haben Seim und Haltli ein Programm mit nachdenklich stimmenden improvisierten und komponierten Stücken – darunter ein ukrainisches Wiegenlied und ein traditionelles nordindisches Stück – zusammengestellt, in dem sie ihre erstaunliche Kreativität beweisen können. Die erste gemeinsame Aufnahme der beiden Norweger erschien 2002 unter dem Titel “The Source And Different Cikadas” und featurete Trygve Seims Ensemble The Source im Zusammenspiel mit dem Cikada String Quartet. Seitdem waren Seim und Haltli bei einer ganzen Reihe unterschiedlicher Projekte musikalische Partner. Im intimen Rahmen von “Our Time” führen die größeren Freiheiten und dynamischen Möglichkeiten jedoch zu noch verspielteren, einfallsreicheren, aber auch fragileren Darbietungen. Was das Magazin DownBeat über das erste Album des Duos geschrieben hatte, gilt für das zweite noch viel mehr: “Die Improvisationen entfalten sich mit exquisiter Sorgfalt, in Linien, die von melancholischer Schönheit und manchmal schimmernder Hoffnung durchdrungen sind.”
 "In gewisser Weise spiegelt diese Aufnahme die Tatsache wider, dass wir bei Konzerten genauso viel frei improvisierte wie komponierte Musik spielen", sagt Frode Haltli. “Aber tatsächlich nehmen wir uns auch viele Freiheiten heraus, wenn wir an geschriebene Stücke oder traditionelle Musik herangehen – oft verwenden wir nur Fragmente von bekanntem Material und nehmen diese als Ausgangspunkte, von denen wir unsere eigenen Wege einschlagen. Da wir hauptsächlich improvisieren, können wir nie genau wissen, wo wir landen werden. Insofern können die jeweiligen Kompositionen auch als kleine Auslöser für Improvisationen betrachtet werden.” Ganz ähnlich äußert sich auch Trygve Seim: “Ich habe den Eindruck, dass die Freiheit und Freude, die diese Art des Zusammenspiels ermöglicht, Frode ebenso am Herzen liegt wie mir.”
Ein Beispiel für die Verwendung eines solchen Fragments ist im siebten Stück des Albums zu hören. Allerdings hat das Duo seine Vorgehensweise hier umgekehrt und präsentiert den komponierten Teil nicht am Anfang, sondern zum Abschluss der Aufführung. Trygve und Frode beginnen mit fließenden Improvisationen und treten dann in einen Dialog, in dem sie ihren Instrumenten durchdringende, manchmal extrem schrille Töne entlocken, bevor sie schließlich zu einer Neuinterpretation von Strawinskys “Les Cinq Doigts No. 5” übergehen, die so die Coda für ihre improvisatorischen Ausflüge bildet. Auf dieselbe Weise verfahren sie auch im zweiten Stück des Albums, in dem sich aus einer leisen, grüblerischen, sanft tönenden Improvisation der beiden das Seim-Original “Fanfare” herausschält. Ein neu gestaltetes “Fanfare”-Pendant gibt es im sechsten Stück, einer weiteren Nummer mit einem  improvisierten und einem komponierten Abschnitt. Diese Gegenüberstellung von tollkühn Avantgardistischem und lyrisch Melodiösem zieht sich wie ein roter Faden durch “Our Time”.
Aufgezeichnet wurde das Album im Juni 2023 in der Münchener Himmelfahrtskirche, in der  bereits mehrere frühere Aufnahmen mit Toshio Hosokawa, Valentin Silvestrov und Gidon Kremer für ECM gemacht wurden (Ende 2024 soll außerdem ein Album mit einem dort aufgenommenen Soloprogramm der Cellistin Anja Lechner veröffentlicht werden). Die beeindruckende Akustik dieser Kirche verlieh der Session eine besondere Atmosphäre, in der die jeweiligen Eigenschaften der Instrumente – vom am längsten gehaltenen Ton des Tenorsaxofons bis zum leisesten Klicken der Akkordeon-Knöpfe – hervorragend zur Geltung kommen. "Dass wir die Musik in dieser speziellen Kirche aufnehmen konnten, gab ihr natürlich besondere Note", sagt das Duo. “Es ist für uns nichts Ungewöhnliches, in unterschiedlichen Räumlichkeiten zu spielen, da wir oft auf Tournee sind und uns auf verschiedene Räume einstellen müssen, kleine und große. Ungewöhnlich ist es jedoch, mit einem Produzenten zu arbeiten, der bei einer Session eine so einflussreiche Präsenz hat wie Manfred Eicher. Er hat uns wirklich geholfen, etwas aufzunehmen, das uns anderswo nicht gelungen wäre.”
“Pure Schönheit ist der gemeinsame Tonfall von Trygve Seim und Frode Haltli. Es verbirgt sich etwas Volksliedhaftes in dieser Musik – Schnittpunkte, an denen sich weltliche und geistliche Musik zum Tanz treffen”, hieß es 2008 in der Besprechung des ersten Albums des Duos in der Wochenzeitschrift Die Zeit. Und das traditionelle ukrainische Wiegenlied “Oy Khodyt’ Son, Kolo Vikon” knüpft nahtlos an diese folkloristische Thematik an. Die fesselnde Melodie des Liedes wird auf dem Sopransaxofon mit großer Sorgfalt phrasiert, während das Akkordeon wie auf Zehenspitzen um die wehmütigen Melodielinien des Saxofons herumtänzelt. "Ich habe dieses Wiegenlied durch die britische Harfenspielerin Ruth Potter kennengelernt", verrät Trygve Seim. “Ich liebe diese schöne und einfache Melodie und auch die Art, wie Ruth sie arrangiert hat. Nachdem ich es bei einem Konzert mit ihr gespielt hatte, begann ich, das Wiegenlied bei jedem meiner Auftritte zu spielen, auch mit Frode.”  Mit “Shyama Sundara Madena Mohana” folgt gleich danach ein weiteres traditionelles Lied, diesmal aus Nordindien. Die Entdeckung des Stücks verdankte Trygve Seim dem britischen Sarangi-Gelehrten Nicolas Magriel. Hier kommen nun Mikrotonalitäten ins Spiel, sowohl in den frei improvisierten Passagen des Duos als auch im vorwärtsdrängenden Thema des Hindu-Gesangs.
An anderer Stelle erkunden die beiden ihre eigenen melodischen Ideen. "Du, mi tid" stammt aus der Feder von Frode Haltli und ist eine leidenschaftliche Beschwörung, mit der das Album eröffnet wird. In “Arabian Tango” wird an das bereits suggerierte tänzerische Element erinnert. Den Abschluss des Albums bildet Trygve Seims “Elegi” – ein sechsminütiges Crescendo, dass sowohl die ruhigsten als auch die temperamentvollsten und ausdrucksstärksten Momente des Duos auf “Our Time” bietet.
Trygve Seim und Frode Haltli spielten erstmals im Jahr 2000 zusammen, als der Akkordeonist kurz vor der Veröffentlichung des mit dem Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichneten Albums “Different Rivers” zu Seims großem Ensemble stieß. Seitdem haben sie miteinander eine Reihe von Aufnahmen gemacht, darunter “The Source And Different Cikadas” (2002), “Sangam” (2004), “Rumi Songs” (2016) und natürlich ihr erstes Duo-Album “Yeraz” (2008). Darüber hinaus wirkten sie separat auch auf weiteren Einspielungen für ECM Records mit.