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Veränderung als Impulsgeber

Auf seinem vierten ECM-Album “It’s Always Now” schlägt der heute in der Schweiz lebende US-Trompeter Ralph Alessi mit einem neuen europäischen Quartett neue musikalische Pfade ein.
Ralph Alessi Quartet
Ralph Alessi Quartet
15.03.2023
Jedes der drei Alben, die Ralph Alessi bisher als Leader für ECM eingespielt hatte, wurde in der internationalen Presse in den höchsten Tönen gelobt. Die New York Times pries 2013 die “elegante Präzision und Kraft” seines Labeldebüts “Baida”, während DownBeat 2016 zum Schluss kam, dass der Trompeter auf dem Nachfolger “Quiver” die ideale Umgebung gefunden hatte, “um seine Vorliebe für versteckte Botschaften und luftiges Ensemblespiel in einer makellosen Aufnahme mit einer magischen Band bestens zur Geltung zu bringen.” Und in einer restlos begeisterten Rezension hieß es 2019 im Guardian, dass “Imaginary Friends” “eine elegante Balance aus ergreifenden, verspielten Originalen und anmutig sondierenden Improvisationen” böte. Für “It’s Always Now” wurden die Karten indes neu gemischt. Denn diesmal ließ Ralph Alessi seine vertrauten New Yorker Mitstreitern hinter sich, um sich mit einem rundum neu besetzen Ensemble auf ein vollkommen anderes Abenteuer einzulassen. Ein solcher Bestzungswechsel löst natürlich auch eine Veränderung in der Musik aus, denn, so betont Alessi, “jedes Mal, wenn du mit neuen Musikern mit starken ‘Stimmen’ wie diesen spielst, verändert sich die Art, wie du deine Musik hörst”.
“Ich bin im August 2020 in die Schweiz gezogen”, erläutert Alessi, “und das verschaffte mir die Gelegenheit, mit einer neuen Gruppe von Musikern zusammenzuarbeiten, mit denen ich vorher noch nicht das Vergnügen hatte, zu spielen. Ich glaube fest daran, dass Veränderungen Vorteile mit sich bringen.”
Innerhalb der Veränderung liegt in diesem Fall aber auch Vertrautheit. Denn nicht alles an Alessis europäischer Quartettkonstellation ist gänzlich neu. Die Partnerschaft des Trompeters mit dem Pianisten Florian Weber reicht beispielsweise fast zwei Jahrzehnte zurück. Beide haben jeweils in Bands des anderen mitgewirkt; zuletzt war Alessi 2018 auf Webers ECM-Album “Lucent Waters” im Quartett mit Linda May Han Oh und Nasheet Waits zu hören. Sie sind auch häufig als Duo aufgetreten, und ihre besondere Duo-Chemie zeigt sich in verschiedenen Momenten des neuen Albums – “Hypgnagogic”, “Old Baby”, “Ire”, “Tumbleweed” und das Titelstück sind allesamt improvisierte Erkundungen, die von den beiden geschmackvoll vorgetragen werden. “Ich liebe es, wie Florian mich herausfordert, wenn ich mit ihm spiele”, meint Alessi. “Er geht immer an die Grenze und trägt dazu bei, eine Atmosphäre der Spontaneität in der Musik zu schaffen, die bei mir definitiv Anklang findet.”
Schlagzeuger Gerry Hemingway hatte hingegen nur einmal vor einigen Jahren mit Ralph Alessi zusammengespielt. Und mit dem Schweizer Bassisten Bänz Oester ist der Trompeter überhaupt das erste Mal bei den Aufnahmesessions für “It’s Always Now” zusammengetroffen. Alle drei unterrichten derzeit in der Schweiz: Ralph an der Hochschule der Künste in Bern, Gerry an der Musikhochschule in Luzern und Bänz am Jazz-Institut Jazz der Hochschule für Musik in Basel. Von der stark groovenden Unterströmung in “Migratory Party” über das kantige Gewirr in “Everything Mirrors Everything” bis hin zu zu dem Stück “Hanging By A Thread”, das wie eine Kontrafaktur  von “Everything Mirrors Everything” wirkt, deutet so gut wie gar nichts darauf hin, dass dies die erste Zusammenkunft der Gruppe ist. Die Bewegungen sind fließend, der Kontrapunkt ergibt sich intuitiv, und ganz gleich, welchen Pfad Alessi mit seinen abgeklärten Trompetenlinien einschlägt, die übrigen Musiker folgen ihm und finden stets überraschende, aber zugleich auch komplementierende Phrasen.
Alessi legt Wert auf die Feststellung, dass Bänz und Gerry “auf absolut gleicher Wellenlänge funken, wenn sie miteinander spielen”. Und das ist auch gar keine Überraschung, da der Bassist und der Schlagzeuger in den zurückliegenden mehr als zwanzig Jahren regelmäßig zusammengearbeitet haben und auch heute noch häufig miteinander spielen – ihr bekanntestes Projekt ist das WHO-Trio mit dem Pianisten Michael Wintsch, mit dem sie seit 1999 fünf Alben veröffentlicht haben. Innerhalb des Ensemblesounds von Alessis Quartett verkürzen und erweitern die beiden ihre Rollen auf elegante Weise und im Einklang mit den gewandten instrumentalen Ausschmückungen des Trompeters und des Pianisten, die von minimalistischen Entwürfen und kurzen Improvisationen bis zu ausgedehnten Formen mit polyphonen Themen und eigenwilligen Strukturen reichen.
Diese kontrastierenden Idiome manifestieren sich in der Gegenüberstellung von Stücken wie “Residue” und “The Shadow Side”. Ersteres dient als eine rhythmisch funkelnde Startrampe für einen ausgelassenen Austausch zwischen den Musikern, während letzteres eine introspektive Sondierung dunkler Romantik bietet – jede Stimme ist hier in höchster Alarmbereitschaft. Ähnliche verhält es sich bei “His Hopes, His Fears, His Tears” und “Portion Control”. Die beiden Stücke haben zwar sehr unterschiedliche Konturen, tendieren aber gleichermaßen zur Abstraktion und haben Alessis konzeptionelle DNA miteinander gemein.
“Komponieren ist für mich immer eine intuitive Übung”, erklärt Alessi seine Arbeitsweise. “Kurz gesagt: ich versuche die Musik vom Abstrakten zu einem Ort des Hörens zu bringen. Einige der neueren Stücke von ‘It’s Always Now’ nahmen tatsächlich erst während der Session wirklich Form an. Es stellt natürlich eine Herausforderung dar, wenn man die Musik ‘unter Druck’ finden muss. Aber mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden.”
“Es war ein schrittweiser Aufnahmeprozess, bei dem wir das Material erstellten und dann schauten, wie es zusammenpasst. Hier kommt auch das enorme Einfühlungsvermögen von [Produzent] Manfred [Eicher] ins Spiel. Er hat ein unglaublich gutes Gespür für das große Ganze.”