Mit seinem unverhohlenen Lyrismus, markanten Themen und einem Sinn für unablässigen melodischen Erfindungsreichtum besitzt das neue Album des norwegischen Saxophonisten Trygve Seim ganz sicher das Potential mit der Zeit zu einem Klassiker zu werden. Wie der Titel des Albums nahelegt, komponierte Seim den Großteil seiner “Helsinki Songs” in der finnischen Hauptstadt, in einer Wohnung mit der “Aura eines Komponisten”. Eingespielt hat er die elf Stücke, in denen er u.a. Igor Strawinski, Jimmy Webb, Ornette Coleman und Bill Evans, aber auch seinen eigenen Quartett-Kollegen und Kindern Tribut zollt, dann allerdings in Oslo mit Musikern, die auf derselben Wellenlänge sind wie er: dem estnischen Pianisten Kristjan Randalu, dem norwegischen Bassisten Mats Eilertsen und dem finnischen Schlagzeuger Markku Ounaskari.
Mit “Different Rivers”, seinem ECM-Debütalbum als Leader, übte Seim sofort Einfluss auf die Jazzszene aus. Als Album des Jahres erhielt es 2001 den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Seitdem war der Saxophonist auf mehr als zwanzig ECM-Veröffentlichungen zu hören: auf “Sangam” etwa mit seinem großen Ensemble, auf zwei weiteren Alben mit dem Kollektiv The Source, aber auch im Duo mit dem Akkordeonisten Frode Halti oder dem Pianisten Andreas Utnem sowie auf Aufnahmen von Manu Katché und Jacob Young. Unlängst konnte man Seim zudem als Mitglied von Mats Eilertsens Septett (“Rubicon”), mit Iro Haarla und einem Symphonieorchester (“Ante Lucem”) und mit der Sängerin Sinikka Langeland und dem Trio Mediæval (“The Magical Forest”) hören. Seims jüngste eigene ECM-Veröffentlichung war 2016 das Album “Rumi Songs”, auf dem er mit Haltli, dem Cellisten Svante Henryson und der Mezzosopranistin Tora Augestad Texte des persischen Poeten Rumi vertonte. Der Guardian lobte diese Platte als “spielerisch, unschuldsvoll, zugänglich” und hob besonders Seims Spiel hervor, das voller “klanglicher und melodischer Überraschungen” war.
Als improvisatorisches Naturtalent wagte sich Seim früh über den konventionellen Jazz hinaus, um seine Palette durch das Studium von arabischer Musik in Kairo zu erweitern; zwischen 2005 und 2010 arbeitete er oft mit dem ägyptischen Keyboarder Fathy Salama zusammen, der 2005 als bislang einziger Komponist aus dem arabischen Kulturkreis einen Grammy erhielt. Seim setzte sich auch mit den klassischen indischen Traditionen auseinander und ließ sich von dem armenischen Duduk-Virtuosen Djivan Gasparyan inspirieren, dessen Einfluss man auf “Helsinki Songs” in der emotionalen Aufbruchsstimmung von “New Beginning” und “Sorrow March” unverkennbar heraushören kann. In den letzten Jahren entdeckte der Saxophonist, dass diese Traditionen – mit ihren Tonleitern, Modi und melodischen Arabesken – gewisse Verwandtschaften zu der Volksmusik seiner Heimat Norwegen haben. Auf “Helsinki Songs” ist der Saxophonist nach langer Zeit erstmals wieder zum Format des klassischen Jazzquartetts zurückgekehrt. “Nach den frühen 90er Jahren zog es mich zu größeren Ensembles und kleinen Besetzungen wie Duos – vielleicht unbewusst, um das Jazzquartett zu meiden, ein Format, auf dem dank Lester Young, John Coltrane und so vielen anderen Saxophonisten viel historisches Gewicht lastet”, erklärt Seim. “Aber jetzt bin ich in diesem Quartett von Spielern umgeben, die es mir ermöglichen, wirklich ich selbst zu sein.”
“Kristjan Randalu verfügt über unglaubliche technische Fähigkeiten – er kann alles, was man auf dem Klavier können muss”, sagt Seim. “Aber das Wichtigste ist, dass er das Klavier wirklich zum Singen bringen kann, was eine Seltenheit ist. Sein Anschlag ist so schön, dass man, wenn er einen Akkord spielt, mehr als nur diese vier oder fünf Töne hört. Er gibt ihnen eine Seele.” Auch über Eilertsen und Ounaskari ist Seim voll des Lobes: “Mats ist so ein kreativer Bassist, mit einem wunderbaren Sound. Und Markku wurde von Edward Vesala und seinem freien, spektakulären Spiel inspiriert, obwohl er auch sehr einfach spielen kann. Mats und Markku haben auch diese großartige Verbindung unter einander, etwas, das man fühlen kann.”
“Birthday Song” widmete der Komponist seinem Bassisten. “Zu seinem 40. Geburtstag habe ich Mats eine schöne Flasche Champagner und ein Moleskine-Notizbuch zum Komponieren geschenkt”, erklärt der Saxophonist. “In dieses Notizbuch schrieb ich vier Melodienoten und einen Akkord – ‘hier ist etwas, mit dem du anfangen kannst’, sagte ich ihm. Sehr früh am nächsten Morgen, nach unserer Feier, kam ich etwas beschwipst nach Hause, setzte mich ans Klavier und spielte diese vier Töne und den Akkord. Ich ‘stahl’ sie dann zurück, um den Rest von ‘Birthday Song’ zu schreiben, bevor ich schlafen ging.” Für seine siebenjährige Tochter schrieb Seim den hymnischen Opener “Sol’s Song”, der ECM-Fans auf wohlige Weise an die fantastischen Aufnahmen von Keith Jarretts europäischem Quartett erinnern dürfte. Und das auf Barockmusik verweisende “Ciaccona per Embrik” ist für seinen neunjährigen Sohn. “Ich schrieb es tatsächlich, als ich erfuhr, dass ich das erste Mal Vater werden würde – als ich Gefühle empfand, die sowohl fantastisch als auch beängstigend waren, diese Gefühle einer ersten Elternschaft.”
Die Inspiration zu dem melancholischen Stück “Katya’s Dream” lieferte Seim der Film “Coco & Igor”, der von Strawinskis frühen Jahre in Paris und seiner angeblichen Beziehung mit Coco Chanel handelt. Katya war die leidende erste Frau des berühmten Komponisten, die ihre künstlerischen Träume denen ihres Mannes opferte. Als Seim “Morning Song” schrieb, entdeckte der Pianist Andreas Utnem in den ersten Takten Anklänge an Jimmy Webbs Ballade “The Moon Is A Harsh Mistress”. Seim aber kannte die Webb-Komposition gar nicht. Beeinflusst wurde er vielmehr durch eine Aufnahme der Sängerin Radka Toneff, der er das Stück auch zugeschrieben hatte. Ihre Version genießt in Norwegen Kultstatus. Nachdem er über seinen Irrtum aufgeklärt worden war, vertiefte er sich in Webbs Musik und wurde ein Fan des amerikanischen Hitschreibers – “Morning Song” verpasste er außerdem eine neue Coda, die direkte Anleihen von von Webb aufweist. Die Schlussnummer des Albums, “Yes, Please Both”, spielt im Titel auf eine Phrase von Winnie the Pooh an und erinnert klanglich an die Musik von Ornette Coleman (mit dem Klavier in der Einleitung ganz im Stile klassischer Coleman-Aufnahmen). “Ich habe schon immer gerne freie Musik gespielt, die von Leuten wie Ornette inspiriert war”, erklärt Seim, “aber ich habe auch das Verlangen, einfachere, melodischere Musik zu machen.”
Über seine Einflüsse reflektierend erzählt Seim: “Als ich ein kleiner Junge war, hat mir mein Vater ein Saxophon geschenkt, aber ich interessierte mich erst mehr für Fußball. Irgendwann unternahmen wir eine lange Autofahrt, bei der er mir Jan Garbareks ECM-Album ‘Eventyr’ vorspielte. Der Klang von Garbareks Saxophon ging mir so unter die Haut, dass ich begann, mich wirklich für das Instrument zu interessieren. Der Eindruck, den sein Spiel auf mich machte, wirkt bis heute nach. Das hat mit der besonderen Art zu tun, wie er seinen Ton produziert, aber auch mit der Tatsache, dass sich die meisten Musiker sich mehr Gedanken darum machen, wieviele Töne sie spielen können. Garbarek aber erzählt auf dem Saxophon immer eine Geschichte. Seit ich ihn gehört habe zieht es mich stets zu Musikern, die mit ihren Instrumenten eine Geschichte erzählen. Und das ist es, was ich zu tun hoffe.”