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Michel Benita Quartet – auf der Suche nach einem umfassenden, globalen Klang

Nach seinem 2016 erschienenen ECM-Debüt mit der fünfköpfigen Band Ethics präsentiert sich Bassist Michel Benita nun auf “Looking At Sounds” mit einem neuen Quartett.
Michel Benita
Michel BenitaJean-Baptiste Millot / ECM Records
17.09.2020
Michel Benita gehört schon seit Anfang der 1980er Jahre zu den zentralen Figuren der französischen Jazzszene. Den Feinschliff holte sich der 1954 in Algier geborene Franzose in den Clubs und Konzertsälen von Paris, wo er mit ständig wechselnden durchreisenden Stars, lokalen Musikern und amerikanischen Jazzern, die sich in Frankreich niedergelassen hatten, arbeitete. Der Bassist der Ursprungsbesetzung des französischen Orchestre National de Jazz ist von Natur aus ein musikalischer Globalist, der die andersartigen Akzente und unabhängigen Blickwinkel begrüßt, die Musiker aus unterschiedlichen Regionen in die Musik einer Band einbringen können. Sein ECM-Debüt gab Benita 2011 als Mitglied von Andy Sheppards Trio Libero auf dem gleichnamigen Album. Danach wirkte er noch an Sheppards “Surrounded By Sea” (2014) und “Romaria” (2017) mit. Benitas erste ECM-Aufnahme unter eigenem Namen war “River Silver”, aufgenommen 2015 mit seiner Band Ethics.
Aus genau diesem Ensemble ist auch sein neues Quartett hervorgegangen, mit dem er “Looking At Sound” eingespielt hat. Von der Ethics-Besetzung sind nur der Schweizer Flügelhornist Matthieu Michel und der aus Lyon stammende Schlagzeuger Phillippe Garcia verblieben. Verabschiedet haben sich die Koto-Spielerin Mieko Miyazaki und Gitarrist Eivind Aarset, für die nun der belgische Keyboarder Jozef Dumoulin ins Team rückte. Dumoulin zeichnet hier maßgeblich für die strukturellen Charakteristiken der Musik des umbesetzten Ensembles verantwortlich und setzt sein Fender Rhodes auf subtile, klangmalerische Weise ein. Seine einhüllenden Farben umwirbeln das harmonische Gerüst der Stücke und unterstützen phantasievoll die Exkursionen von Matthieu Michels Flügelhorn. Obwohl Michels Stimme oft tonangebend ist, gibt Benitas Gruppenkonzept der kollektiven Kreativität den Vorzug vor einer bloßen Aneinanderreihung von Soli. Der Bassist ermuntert seine Mitmusiker dazu, auf den melodischen Verästelungen der Lieder aufzubauen und “zu einem umfassenden, globalen Klang zu verschmelzen”, eine Strategie, die in dem Stück “Body Language” besonders gut verdeutlicht wird.
Mit Ausnahme von Matthieu Michel, der bei dieser Aufnahme (mit einem freien, lyrischen Flair, das manchmal an den verstorbenen Kenny Wheeler erinnert) ausschließlich Flügelhorn spielt, machen alle Mitglieder der Band auf diskrete Weise von elektronischen Mitteln Gebrauch. Benita steuert von seinem Laptop aus gelegentlich tiefe Borduntöne bei, während Garcia in Echtzeit Samples in sein perkussives Spiel integriert. Und Dumoulin verändert die Klänge seines Rhodes mit Hilfe von verschiedenen Effektgeräten, Pedalen und Nachhall-Tools, um eine leuchtende Klangpatina zu erzeugen – ein Beispiel dafür findet man am Anfang des Titelstücks “Looking At Sounds”, dessen Name Programm ist. “Ich benutze gerne ein wenig Elektronik, fast schon wie ein zusätzliches Instrument oder um der Musik eine neue Richtung zu geben”, sagt Michel Benita, “auch wenn der Charakter unserer Gruppe und unser Sinn für Dynamik eher dem einer akustischen Band entspricht.”
Der Großteil des Materials für das Ensemble stammt aus Benitas Feder. Seine Kompositionen bauen oft auf eine starke Melodielinie auf, eine Neigung, die vielleicht die tiefe Liebe des Bassisten zur Folkmusik reflektiert, der er sich schon seit langem mit dem gleichen Engagement widmet wie dem Jazz. Unterstrichen wird dies hier durch die Aufnahme von “Berceuse”, einem Stück der bretonischen Harfenistin und Sängerin Kristen Noguès. Die Nummer fließt auf natürliche Weise mit Benitas eigenem Stück “Gwell Talenn” zusammen. Benitas Faible für Melodien spielte sicher auch eine Rolle bei der Auswahl von Antônio Carlos Jobims “Inútil Paisagem”, das wiederum aus dem von Benita komponierten “Elisian” hervorgeht. Dieser lyrische Impuls unterfüttert tatsächlich alle Stücke, sogar “Cloud To Cloud”, eine im Studio entstandene Gruppenimprovisation.
Das Album beginnt im Opener “Dervish Diva” mit Harmonien von Benitas Bass, zu denen Garcia auf seinem Schlagzeug mit bloßen Händen trommelt. Die beiden, die schon seit mehr als zwanzig Jahren musikalische Partner sind (u.a. gehörten sie eine Zeit lang gemeinsam der Band des Trompeters Erik Truffaz an), beweisen hier im Zusammenspiel ein großartiges Gespür für rhythmische Elastizität.
“Islander” ist eine autobiographische Referenz, die auf Benitas Domizil auf der L'îsle d’Yeu vor der Westküste Frankreichs anspielt, aber mit ihren synkopierten Rhythmen und Dubstep-Andeutungen auch auf weit fernere Inseln verweist. “Low Tide” tönt sehr sanft und hat eine nächtliche Stimmung, die sich im letzten Stück des Albums, einer unbegleiteten Bass-Interpretation von Jule Stynes “Never Never Land”, fortsetzt und so noch einmal Michel Benitas Sinn für Melodien und deren Bedeutung hervorhebt.