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Mark Turner Quartet: Musikalische Reise durch Zeit und Raum

Mit einer beinahe komplett neuen Besetzung meldet sich der Tenorsaxophonist Mark Turner auf “Return From The Stars” zurück, seinem zweiten Quartett-Album für ECM.
Mark Turner_Return from the stars
Mark Turner_Return from the stars
22.03.2022
In den vergangenen zwölf Jahren gelang es Mark Turner seine Präsenz auf einer ganzen Reihe von wichtigen ECM-Alben zu markieren. So brachte er seine Saxophonkunst und sein musikalisches Engagement auf Alben von Enrico Rava, dem Billy Hart Quartet, dem kooperativen Trio Fly (mit Jeff Ballard und Larry Grenadier), Stefano Bollani und Ethan Iverson ein. Alben unter Turners eigener Federführung hingegen waren bei ECM relativ rar gesät. “Return From The Stars” ist tatsächlich erst seine zweite ECM-Aufnahme als Bandleader, seit er dort 2014 mit “Lathe Of Heaven” debütierte. Darüber hinaus spielte er für das Label mit Ethan Iverson außerdem noch das 2018 veröffentlichte Duo-Album “Temporary Kings” ein.
Die Stücke, die Turner für das neue Quartett geschrieben hat, das nun auf “Return From The Stars” zu hören ist, gewähren den Musikern reichlich Raum, in dem sie sich frei bewegen können. Es ist ein Album, dessen Ausdrucksspektrum von berauschend bis nachdenklich reicht. Soli fließen organisch aus den Arrangements heraus. Das Zusammenspiel von Mark Turners Tenorsaxophon und Jason Palmers Trompete ist dabei geradezu umwerfend, während Bassist Joe Martin und Schlagzeuger Jonathan Pinson im Hintergrund oft frei herumschweifen können. Die Abwesenheit eines Akkord- oder Harmonieinstruments sorgt dafür, dass die Musik weit offen ist für Konversationsmöglichkeiten, während die Kompositionen zwischen akribisch Strukturiertem und locker Gelenktem modulieren. Mark Turner setzt viel Vertrauen in die Intuition und die gemeinsamen künstlerischen Ziele des Ensembles. Zudem schätzt er die erzählerische Spannung, die aus der Gegenüberstellung von Freiheit und Verantwortung entsteht.
“Ich schreibe für die Leute, mit denen ich zusammenspiele”, sagt er. “Ich ziehe es vor, mit ihnen vorab nicht zu viel über die Kompositionen zu sprechen. Ich mag es, ein Musikstück zu schreiben und zu wissen, dass die Leute, die ich ausgewählt habe, es im Grunde auf ihre Art spielen werden. Ich möchte, dass sie sich selbst in der Musik wiederfinden. Die Stücke sind so geschrieben, dass jeder Musiker sich aussuchen kann, wie er seine Rolle interpretiert. Für die Bläser sind einige Teile vornotiert. Für die Rhythmusgruppe weniger, außer ein paar ‘Schläge’ und vielleicht Taktwechsel in einigen Abschnitten. Ich gebe nur Richtlinien vor, wie ein Abschnitt wirken soll; und dann lasse ich Bass und Schlagzeug herausfinden, wie sie das umsetzen. Was auch immer die Rhythmusgruppe gut klingen lässt, das machen wir. Die Bläser spielen dann darüber.”
Bassist Joe Martin ist von den Musikern der Einzige, der auch schon auf “Lathe Of Heaven” zu hören war. Er hat mit Turner seit 1995 in den unterschiedlichsten Kontexten zusammengespielt. “Wenn ich mit Mark spiele”, verriet Martin einmal dem Magazin “Music & Literature”, “habe ich immer das Gefühl, dass ich mein Bestes geben und die Messlatte stets höher legen muss. Da es in diesem Quartett weder einen Pianisten noch einen Gitarristen gibt, der einen bestimmten harmonischen Raum für alle ausfüllt, achte ich wahrscheinlich mehr auf die Noten, die ich wähle. Schon die Auswahl einer einzelnen Note kann alles ändern und eine gewisse Tonalität oder Harmonie suggerieren.”
Den dynamischen Schlagzeuger Jonathan Pinson lernte Turner kennen, als er mit der Band des israelischen Gitarristen Gilad Hekselman spielte. Pinson begann seine professionelle Laufbahn auf höchstem Niveau: er trat schon mit dem Wayne Shorter Quartet, Herbie Hancock, Ambrose Akinmusire, Dave Liebman und Greg Osby auf, als er knapp über zwanzig Jahre alt war. Seither erweiterte er sein Portfolio noch um Zusammenarbeiten mit Kamasi Washington, Moses Sumney, Terrace Martin, Seal, Braxton Cook und Marquis Hill. Pinson gibt auf “Return From The Stars” seinen Einstand bei ECM.
Dasselbe gilt auch für den Trompeter Jason Palmer, mit dem Mark Turner erstmals vor einem Jahrzehnt in Bands zusammengespielt hat. Danach war der Tenorsaxophonist an einigen Projekten von Palmer beteiligt und wirkte auch auf dessen Soloalben “Here Today” (2011), “Places” (2014), “Rhyme And Reason” (2019) und “The Concert: 12 Musings For Isabella” (2020) mit. Turner hebt Palmers “Bereitschaft, in für ihn unbekannte Bereiche vorzudringen” als eine seiner herausragenden Qualitäten hervor. Beide besitzen ein geradezu enzyklopädisches Musikwissen. Der Boston Phoenix schrieb einmal über Palmer, dass er “mit seinem sicheren Ton und der gelassenen Entschlossenheit seiner Soli ein Feuer entfacht”. Dasselbe könnte man auch über Turner sagen, der laut NPR (National Public Radio) “eine innovative Klangsignatur, eine gewisse frei bewegliche Chromatik, rhythmische Aufmerksamkeit und eine Leichtigkeit im Ton hat, die viele Nuancen aufweist.” 
Zum Titel “Return From The Stars” wurde Mark Turner durch den gleichnamigen Science-Fiction-Klassiker von Stanislaw Lem inspiriert. In dem kehrt ein Astronaut von einer Erkundungsmission im All zurück und muss feststellen, dass sich das Leben auf der Erde während seiner Abwesenheit stark verändert hat und seine eigenen Werte nicht mehr im Einklang mit denen einer konformistischen, risikoscheuen Gesellschaft stehen. Turners Science-Fiction-Begeisterung ist bestens bekannt, und so manch ein Kritiker meint in seinem Werk auch eine Art idiomatische “Zeitreise”-Qualität bemerkt zu haben: Der Guardian schrieb über sein erstes ECM-Quartett-Album “Lathe Of Heaven” (betitelt nach einer Geschichte der amerikanischen Fantasy- und Sci-Fi-Autorin Ursula K. Le Guin), dass es “klinge, als würde ‘Birth Of The Cool’ über einem rhythmischen Konzept des 21. Jahrhunderts schweben”. Das eingehende Studium einer Reihe von Jazzmeistern hat Mark Turners eigenen Stil, seine Expressivität, die das gesamte Tonspektrum des Tenorsaxophons umfasst, und seine kompositorische Vielseitigkeit geprägt. Dadurch gelingt es ihm, diese Musik voranzubringen, während er zur gleichen Zeit nie ihre Geschichte aus den Augen verliert.
Eine 180g-Vinyl-Version des Albums wird voraussichtlich im Herbst 2022 erhältlich sein.