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Mal elektrisch, dann akustisch: Gitarrist mit biegsamem Geist

In Form eines Doppelalbums präsentiert der Gitarrist Steve Tibbetts auf “Hellbound Train” eine Retrospektive seiner 40 Jahre umspannenden ECM-Karriere.
Steve Tibbetts
Steve Tibbetts
29.06.2022
In diesem Zeitraum nahm er für das Label von Manfred Eicher bislang acht Alben auf: Angefangen bei seinem ECM-Debüt “Northern Song” (1982) über “Safe Journey” (1984), “Exploded View” (1986), “Big Map Idea” (1989), “The Fall Of Us All” (1994), “A Man About A Horse” (2002) und “Natural Causes” (2010) bis hin zu “Life Of” (2018). Unterteilt ist diese aus 28 Stücken bestehende Sammlung in je ein elektrisches und ein akustisches Kapitel. Mit seinen fließenden Melodien und Texturen, hypnotischen Pattern und Pulsschlägen, die subtil von der Musik verschiedener Kulturen beeinflusst sind, stellt es eine ideale Einführung in das einzigartige Werk des Gitarristen dar. Dabei hat es manchmal den Anschein, dass Tibbetts dem Minimalismus, dem alternativen Rock oder der Ambient-Musik nähersteht. Doch letztendlich ist seine eigene künstlerische Handschrift dabei stets unverkennbar. In einem Gespräch mit ECM Records beantwortete der Gitarrist ausführlich eine Reihe von Fragen.
“Hellbound Train” ist eine Doppelalbum-Anthologie, zusammengestellt aus deinen Arbeiten für ECM. Nach welchen Kriterien hast du die Tracks ausgewählt? Ist dies “The Best Of Steve Tibbetts”?
Es ist nicht wirklich ein “Best Of”. Es ist eher “The Best Steve Could Do”. Und das meine ich im positivsten Sinne. Ich habe Samples von den ersten und letzten zehn Sekunden meiner Kompositionen gemacht, diese auf die Tasten von drei Keyboards verteilt, die ich wiederum mit beschrifteten Post-it-Zetteln und Aufklebern versah. Einige Songs, von denen ich gedacht hatte, dass sie nahtlos zusammenpassen würden, taten das leider nicht. Also fragte ich mich: Was würde wohl zusammenpassen?
Ich spielte das Ende eines jeden Songs mit dem Anfang eines jeden anderen Songs ab, bis sich ein Grundriss, ein Schema abzeichnete. Einige Kompositionen funktionieren außerhalb des Albums, von dem sie stammen, einfach nicht gut. Mein Album “Yr” ist zum Beispiel ein ganz eigenständiges Ding. Dasselbe gilt für den Großteil von “Natural Causes” und “Life Of”. Diese Kompositionen gedeihen außerhalb ihres eigenen Lebensraums einfach nicht gut.
Als Künstler kannst du Bilder oder Musik zusammenfügen und denken: “Nun, das ist ziemlich gut. Das funktioniert.” Aber wenn du das Ergebnis am nächsten Tag bei Licht betrachtest, wird dir oft klar, dass du experimentelle Kunsttaxidermie betrieben hast. Ein Künstler muss in der Lage sein, auf dieses kleine Glöckchen zu hören, das ein Freund von mir “das Klingeln der Wahrheit” nennt. Der Künstler muss erkennen, wenn dieses Glöckchen nicht klingelt.
Die Stücke von “Hellbound Train” fügten sich beinahe spielend zusammen; sie schweißten sich an den Kanten selbst zusammen. Die Abfolge hat Hand und Fuß, sie hat das Klingeln der Wahrheit, bringt das Narrativ voran und verfolgt eine ähnlich unergründliche Ästhetik.
Auffallend ist, dass es in dieser Anthologie viel mehr Musik von “Big Map Idea”, “The Fall Of Us All” und “A Man About A Horse” gibt als von den früheren oder späteren Alben. Die Sammlung ist also auf die mittlere Periode von Tibbetts fokussiert.
Kannst du etwas über deine musikalische/künstlerische Entwicklung in dieser Zeit erzählen? Sie scheint ungefähr mit der Phase zusammenzufallen, in der du für die Naropa University [ein vom Buddhismus inspiriertes akademisches Institut in Boulder/Colorado] unterwegs warst.
Um in neuen Kulturen zu arbeiten, brauchte ich einen Geist, der für andere Denkweisen empfänglich war. Geld ist in jeder Kultur ein schwieriges, sehr belastendes Thema. Ich musste in Asien Leute einstellen und machte dabei einige dumme Fehler; was in Minnesota funktionierte, ließ sich nicht einfach so übertragen. Wenn ich in St. Paul Kontraktarbeiter einstelle, muss ich mir normalerweise keinen Gedanken über den Einfluss von Schwarzer Magie machen. Aber [der Bali-Kenner] Wayne Vitale sagte unserer Gruppe, dass man sich dessen in Indonesien stets bewusst sein muss.
Ein Nebeneffekt ist, dass ein weichgekneteter, gummiartiger Geist auch die Voraussetzungen dafür schaffen kann, Musik auf neue Arten und Weisen zu betrachten und anzugehen. Ich musste mich gar nicht anstrengen; mein Geist war bereits biegsam, weil ich mich mit Visa-Fragen, Transportmöglichkeiten, Regierungsbeamten, Essen und angemessener Kleidung hatte auseinandersetzen müssen und bemüht war, mich mit einem gewissen Maß an Würde zu benehmen. Da schlichen sich neue Wege, wie ich Musik und Klänge in mich aufnehmen könnte, einfach ein.
Du bist als einfallsreicher Gitarrist bekannt, der gerne neue Stimmungen und Techniken ausprobiert, um zuvor unbekannte Akkorde, Formen und Klänge zu erschaffen. Wie entwickelst du das, was für dich und deine Stücke funktioniert? Oder sind die Stücke selbst manchmal ein Ergebnis neuer Stimmungen und akkordischer/modaler Entdeckungen?
Vor etwa zwanzig Jahren habe ich mich auf die Stimmung festgelegt, die ich noch heute für elektrische und akustische Gitarren verwende. Dabei habe ich die A-Saite auf G gestimmt und die tiefe E-Saite auf C. Auf der akustischen und der elektrischen zwölfsaitigen Gitarre verwende ich dieselbe Stimmung, nur dass alles einen ganzen Ton tiefer gestimmt ist. Dadurch erhalte ich auf den tiefen Saiten einen schönen Bordunklang. Das bedeutet auch, dass alles in der gleichen Tonart ist, was mir aber nicht so viel ausmacht. Ein Großteil der Musik dieser Welt verharrt in der gleichen Tonart.
Funktionieren die elektrischen Kompositionen auch akustisch und umgekehrt? Hast du das ausprobiert?
Die E-Gitarre und der Verstärker, die ich seit 1984 benutze, haben eine antagonistische elektronische Beziehung, die mit der Elektrizität zu tun hat. Wenn ich die Gitarre in Richtung Verstärker wende, beginnt dieser zu übersteuern und gibt ein furchteinflößendes, reißendes Geräusch von sich, als ob Blech in Stücke gerissen wird. Solche elektronischen Stürme kannst du mit Akustikgitarren nicht erzeugen.
Die akustische zwölfsaitige Gitarre hat ihre eigene Welt. Sie hat sich in den fünfzig Jahren, die ich sie nun schon spiele, in ihrem Inneren einen eigenen kleinen Konzertsaal geschaffen. Wenn das Holz erwärmt ist, hat es eine Resonanz, eine zusätzliche Stimme, die ich bisher bei keiner anderen Gitarren entdecken konnte.
Woher rührt dein Interesse für Bordunklänge?
Von “Tomorrow Never Knows”. Als “Revolver” herauskam, hörten sich treue Beatles-Adepten das Album ohne Unterlass an. Keiner von uns wusste, was das für ein Sound war, mit dem dieser Song begann. Aber wir wussten, dass er genau richtig war. Als ich in Nepal und Bali arbeitete, gewöhnte ich mich daran, in der täglichen Welt der tibetischen rituellen Bordunklänge und der zyklischen, gleichmäßigen Welt des Gamelan Gong Kebyar [der einer der bedeutendsten zeitgenössischen Musikstile Balis ist] zu leben, der auf seine eigene Weise bordunartig ist. Borduns und Gong-Zyklen waren etwas Neues, in das ich mich eingewöhnen konnte, wenn ich weit weg war von meinem Studio und keine eigene Musik machen konnte.
Wenn du jedes Jahr ein paar Monate lang von der eigenen Musik getrennt bist, kann das deinen Geist, was auch immer geschieht, mit einer dringend benötigten leeren Leinwand versorgen. Dein offener Geist wird dann die Bordunklänge und Zyklen geradezu einsaugen.
Die leere Geistesleinwand bietet auch Platz für Sounds, die du eigentlich nicht den ganzen Tag vor dich hinsummen würdest. Ich wohnte in Boudhanath neben einem Kloster, wo die Morgenrituale um vier Uhr in der Früh mit den auf langen Dungchen-Trompeten gespielten ersten drei Tönen von “Three Blind Mice” begannen. In Ubud hatte ich einen Hahn zum Nachbarn, der bei Sonnenaufgang Morricones Titelmelodie von “The Good, The Bad, And The Ugly” krähte.
Lass uns kurz über deine musikalischen Mitstreiter sprechen. Über Marc Anderson ist ja schon einiges bekannt, aber über deine anderen Spielpartner sehr viel weniger. Könntest du über einige von ihnen ein paar Worte verlieren und uns sagen, was sie zur Musik beigetragen haben? Und welche Art von Vase spielt eigentlich Tim Weinhold?
Michelle Kinney versteht es, ihr Cello so zu streichen, dass es mit der Musik verschmilzt. Sie kann dem Instrument Flageolette-Töne entlocken, so dass es mit meiner zwölfsaitigen Gitarre auftaucht und verschwindet. Es ist da und nicht da. Ich kenne sonst niemanden, der das kann.
Marcus Wise ist mein Freund und Compadre. Als ich in den 70er Jahren lernen wollte, wie man Tabla spielt, suchte ich ihn auf und nahm ein paar Monate lang Unterricht bei ihm. Jahre später rief Marcus mich in meinem Studio an und sagte mir, dass ich unbedingt zu einem Konzert gehen müsse. Wie sich herausstellte, sollte es eines der wichtigsten Konzerte meines Lebens sein.
Es war ein gemeinsamer Auftritt der beiden Tabla-Virtuosen Alla Rakha und Zakir Hussain. Die Tabla-Pyrotechnik von Vater und Sohn beeindruckte mich schwer, aber was meinen Geist wirklich neu zu ordnen schien, war die Performance des großen Sarangi-Meisters Sultan Khan. Sultan Khan saß auf der Bühne und blickte entrückt im Saal umher, während er seinem Instrument tiefe, fast schon stimmähnliche Klänge entlockte. In seinen Händen wirkte die Sarangi mit ihrer Fähigkeit, Landschaften und Emotionen im Bewusstseinsfeld heraufzubeschwören, beinahe halluzinogen.
Ich hatte das Gefühl, ein Bild von einem Sonnenaufgang über dem Ganges zu sehen, das über die Bühne des Auditoriums gelegt war. Ich hörte mir eine Kassettenaufnahme des Konzerts immer und immer wieder an. Es begann, mein musikalisches Gehirn zu verformen. Es schien, als gäbe es einen Weg, mehr zu sagen, indem man weniger spielt.
Tim Weinhold spielt auf einer Vase, die seine Frau gekauft hatte, um Blumen hineinzustellen. Da Tim aber Tim ist, hat er auf ihr gespielt, bevor sie überhaupt je Blumen gesehen hat.
Die Musiker, mit denen ich zusammenarbeite, sind Leute, denen ich vertraue und die ich nahezu ausschließlich durch Marc kennengelernt habe. Er ist der Musiker in der Stadt, der jeden kennt und der weiß, wer für das, woran ich arbeite, der Richtige sein wird.
Die Anthologie markiert für dich auch 40 Jahre Aufnahmen für ECM. Was steht auf deiner musikalischen Reise als nächstes an?
Im Moment arbeite ich an einem Projekt mit Marc und anderen. Es entwickelt sich zu einer großen, traurigen, seltsamen, planetenkollidierenden Musik. Marc drischt ziemlich hart auf sein Schlagzeug ein, und ich genieße das Feuergefecht zwischen Stratocaster und Marshall. Die zwölfsaitige Gitarre ist fröhlich und volltönend. Es klingt alles gut, und je besser es klingt, desto langsamer arbeiten wir.
Wenn dieses Projekt abgeschlossen ist, werde ich mein Studio von dem Gebäude, in dem ich es seit 36 Jahren habe, in mein Haus verlegen. Da meine Kinder nun außer Haus sind, kann ich ein paar Instrumente in das Kinderzimmer der Mädchen verfrachten und mich dort mit der zwölfsaitigen Gitarre und dem Klavier wohnlich einrichten. Ich werde Zeit damit verbringen, aus den Fenstern zu schauen. Wir leben am Rande eines kleinen Waldes. Zu unseren regelmäßigen Besuchern gehören Kojoten, Truthähne, Rehe, Opossums, Waschbären und viele Vögel.