Hochkarätige Basss-Soloalben haben bei ECM eine lange Tradition. Im Laufe der Jahrzehnte veröffentlichte das Label in dieser sehr speziellen Kategorie Einspielungen von Virtuosen wie Dave Holland, Barre Phillips, Miroslav Vitous, Gary Peacock, Eberhard Weber und zuletzt Björn Meyer. Mit “The Gleaners” gesellt sich dazu nun auch Larry Grenadier, einer der angesehensten und versiertesten Bassisten der Gegenwart, den die New York Times einmal als einen “zutiefst intuitiven” Musiker beschrieb und das Bass Player Magazine für sein “perfektes Gespür für Melodien” lobte. Sein individueller Ton machte ihn bei großen Bandleadern wie Paul Motian, Pat Metheny, Charles Lloyd und Joshua Redman zu einem Bassisten erster Wahl. Ein Zeugnis von Grenadiers Qualität ist natürlich auch, dass er seit rund 25 Jahren Mitglied des überaus einflussreichen Trios von Pianist Brad Mehldau ist. Für ECM nahm der Bassist schon zwei Alben mit dem kooperativen Trio Fly (zu dem noch Mark Turner und Jeff Ballard gehören) auf sowie drei Platten unter der Leitung des Gitarristen Wolfgang Muthspiel. Auf “The Gleaners” mischt Grenadier unter eine Reihe von eigenen Kompositionen markante Interpretationen von Stücken von George Gershwin, John Coltrane und Paul Motian. Darüber hinaus gibt es noch zwei Nummern, die Wolfgang Muthspiel eigens für den Bassisten schrieb, und eine Instrumentalversion von “Gone Like The Season Does”, einem Song von Grenadiers Frau Rebecca Martin, mit der er oft zusammenarbeitet.
“Bevor ich mit diesen Aufnahmen begann, richtete ich meinen Blick erst einmal nach innen”, schreibt der Bassist in seinen Linernotes, “und legte die Kernelemente frei, die mich als Bassisten definieren. Dabei suchte ich nach zentralen Klängen und Klangfarben, nach verbindenden Harmonien und Rhythmen, die eine musikalische Identität in ihrem Kern ausmachen.” Über die Entstehung seines ersten Soloalbums reflektierend fährt er fort: “Ich habe mich über Jahre hinweg damit zufriedengegeben, mit anderen Künstlern zusammenzuarbeiten, da ich das Gefühl hatte, dass es in ihrer Musik auch einen Platz für meine eigene Stimme gab. Aber Manfred Eicher pflanzte mir die Idee eines Soloalbums in den Kopf, die ich als künstlerische Herausforderung betrachtete. Manfred war selbst Bassist. Deshalb kennt er das Instrument und seine Geschichte sowohl im Jazz als auch in der Klassik. Nur wenige Menschen wissen wirklich, wie man mit dem Klang des Kontrabasses im Studio ungehen muss. Manfred konzentriert sich darauf, die besonderen Qualitäten des Instruments zum Vorschein zu bringen. Beim Edieren und Abmischen von ‘The Gleaners’ war sein Sachverstand entscheidend. Er half mir immens bei der Gestaltung dieses Albums.”
Die früheren ECM-Solobass-Alben von Holland, Phillips und Vitous dienten Grenadier natürlich als große Inspiration. “Aber auch andere Instrumentalisten, die solo spielen, hatten großen Einfluss, etwa Sonny Rollins”, sagt er. “Ich beschäftigte mich mit ihnen, um Antwort auf die folgende Frage zu erhalten: Wie entwickelt man eine Solo-Darbietung über eine lange Zeitspanne ohne den Zusammenhalt und die Klarheit zu verlieren? Auch Joe Henderson pflegte bei Stücken wie Monks ‘Ask Me Now’ diese ausgedehnten Solo-Intros zu spielen, die inspirierend sind. In Bezug auf solo spielende Saiteninstrumentalisten gab es auch noch andere Dinge. Ich habe die Solo-Cello-Musik von Bach und anderen immer geliebt, und Manfred spielte mir die Hindemith-Solo-Aufnahmen der Violinistin Kim Kashkashians vor, von denen ich hin und weg war. Während all diese Einflüsse in meinem Kopf herumwirbelten, begann ich über ein Konzept für ein Soloalbum nachzudenken und wie man es über 45 Minuten oder so interessant gestalten kann, dass es nicht nur etwas für andere Bassisten ist. Ich experimentierte mit verschiedenen Stimmungen und Skordaturen, wie sie von Geigern im 17. und 18. Jahrhundert verwendet wurden, um eine breite Klangpalette zu erhalten – und das verlieh dem Instrument in meinen Augen eine ganz neue Schwingung, ein Gefühl von echtem Klangpotenzial, das ich erforschen konnte.”
Zum Titel selbst inspirierte den Bassisten der 2000 entstandene Dokumentarfilm “Les glaneurs et la glaneuse” (englischer Titel: “The Gleaners And I”) der französischen Regisseurin Agnès Varda, die wiederum selbst durch Jean-François Millets Gemälde “Les Glaneuses”, das Erntehelferinnen auf einem Feld zeigt, zu ihrer Arbeit angeregt wurde. “Als Musiker sammelt man meines Erachtens Dinge von den Menschen auf, mit denen man spielt, und von der Musik, die man hört. Aber es erfordert Arbeit, um das Beste aus allem herauszuholen, die Dinge zu ernten, die man selbst nutzen kann”, sagt Grenadier. “Ich habe so etwas schon immer als künstlerisches Credo empfunden – arbeiten, um an die guten Dinge heranzukommen. Selbst mitten in einem Auftritt mit etwa Brad Mehldau – wo ich einfach nur versuche, dem Moment gerecht zu werden, das Beste aus dem herauszuholen, was gerade vor sich geht.”
"The Gleaners " wurde großartig konzipiert, wunderschön eingespielt und mit einer sinnlichen Mischung aus Wärme und Detailreichtum aufgenommen. Das Album bietet sieben Originale aus Grenadiers Feder – angefangen bei der zutiefst melodischen, con arco gespielten Eröffnungsnummer “Oceanic”. Als nächstes folgt die groovende Pizzicato-Nummer “Pettiford”, über die Grenadier sagt: “Dieser Track ist mein Tribut an Oscar Pettiford, der einer der ersten Jazzbassisten war, auf die ich als Teenager wirklich abgefahren bin. Mein Stück basiert auf den Akkordwechseln seiner Komposition ‘Laverne’s Walk’. ‘Pettiford’ habe ich mit Fly auch schon im Trio gespielt.” Die Spektrum der anderen Originale des Albums reicht von den lyrischen, wiederum mit Bogen gespielten Nummern “Vineland” und “The Gleaners” bis hin zu den versonnenen Pizzicato-Stücken “Lovelair” und “Woebegone” (wobei letzteres von einem kunstvollen Arco-Overdub gekrönt wird). Die Interpretationen auf “The Gleaners” bieten Grenadier einige Prüfsteine: “Ein anderer meiner musikalischen Helden war immer Miles Davis, wegen seines Sounds und seiner Art, wie er über Musik dachte. Aber auch wegen der Bands, die er zusammenstellte. Ich liebe die Version, die Miles Davis uns Gil Evans von Gershwins ‘Porgy And Bess’ aufgenommen haben. Mit meiner Interpretation von ‘My Man’s Gone Now’ möchte ich auf diese Inspiration hinweisen.”
“The Gleaners” enthält auch ein Medley aus John Coltranes “Compassion” und Motians “The Owl Of Cranston”. “'Compassion' stammt aus Coltranes ‘Meditations’-Suite, die für mich ein wichtiges Stück Musik ist”, sagt Grenadier. “Es geht über in Paul Motians ‘The Owl Of Cranston’, dass ich mit Paul zu spielen pflegte. Seine Stücke sind einfach fabelhaft – sie sind so melodisch, aber das eigentliche Ding ist der Fluss des Rhythmus, der oft keinem bestimmten Takt folgt. Ich mag es, wie Paul Kompositionen und die Musik im Allgemeinen angeht – er hat meine Generation stark beeinflusst. Ich konnte mehr als ein Jahrzehnt lang mit ihm auf der Bühne und im Studio zusammenarbeiten, was bedeutete, dass ich seine langjährigen Erfahrungen in der Musik – von seinen Tagen mit Bill Evans und dann Keith Jarrett bis zu seinen Alben als Leader für ECM und dem großartigen Trio mit Bill Frisell und Joe Lovano – absorbieren konnte. Bei allem, was er getan hat, gibt es diesen offenen Ansatz, wo er sich rhythmisch abseits strenger metronomischer Taktzeiten bewegt, frei, aber in einem Fluss. Er konnte so ungebunden spielen, weil er so sehr in der Tradition verwurzelt war. Er hätte vielleicht gesagt: um jenseits des Takts zu spielen, musst du in der Lage sein, im Takt zu spielen. Die großartigen Musiker, mit denen ich gespielt habe – von Joe Henderson und Paul Motian über Brad Mehldau bis hin zu Pat Metheny – lehren alle das Gleiche: lern dein Instrument wirklich gut, hör genau zu und sei offen für den Moment und seine Möglichkeiten.”