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Jon Balke & Siwan: Filigranes Spiel mit Texturen, Melodien und Rhythmen

“Hafla” ist bereits das dritte Album, das der norwegische Keyboarder, Komponist und Arrangeur Jon Balke mit dem transkulturellen Ensemble Siwan veröffentlicht.
Siwan Ensemble
Siwan Ensemble
21.04.2022
Gegründet hatte er Siwan 2007 als Treffpunkt für Musiker/innen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen. Siwan feiert das Konzept der Koexistenz und Kooperation und wirbt für die positiven Eigenschaften kultureller Vielfalt. Die Band blickt dabei auf die Geschichte zurück, während sie zugleich nach neuen Modellen für die gemeinsame Arbeit sucht. Nach wie vor lassen sich Balke und sein Ensemble von den Legenden und der Poesie von al-Andalus inspirieren. Aber die Musik, die von den Bandmitgliedern im Zusammenspiel geschaffen wird, ist dennoch zeitgenössisch.
In seinen Kompositionen für dieses einzigartige Ensemble, zu dem eine algerische Sängerin, ein türkischer Kemençe-Spieler, ein iranischer Tombak-Meister, ein innovativer norwegischer Perkussionist und eine Gruppe von auf Barockmusik spezialisierten dynamischen Streichern gehören, bringt Jon Balke viele musikalische Aspekte zusammen. Die Verflechtungen ihrer kreativen Beiträge – in einem filigranen Spiel mit Texturen, Melodien und Rhythmen – unterstreicht und umhüllt Verse, die vor vielen Jahrhunderten geschrieben wurden.
“Hafla” beginnt mit Balkes Vertonung von Texten aus der Feder von Wallāda bint al-Mustakfī, der freidenkerischen umayyadischen Prinzessin, die im 11. Jahrhundert in Córdoba lebte und die Geliebte von Ibn Zaidūn war, dem großen Dichter von al-Andalus.
“Die Geschichte ihrer Beziehung ist legendär”, merkt Balke an. “Und Wallāda hat auch einige großartige, kurze und eindeutige Gedichte geschrieben. Diesmal haben wir Gedichte herausgesucht, die das alltägliche Leben in dieser Epoche beschreiben. Irgendjemand hat die Beobachtung gemacht, dass das Phänomen des Zusammenlebens in der Nachbarschaft beginnt, wenn jemand Hilfe braucht. Es beginnt beim Brotkaufen in der Warteschlange. Auf einer solch elementaren Ebene. Das ist eine gute Betrachtungsweise, denke ich.”
Das Komponieren für Siwan beginnt häufig mit der Auswahl der zu singenden Worte, erläutert Balke. Dabei tauscht er sich mit der Sängerin Mona Boutchebak aus. “Oft sind es viele Prozesse, die ablaufen. Manchmal schlage ich einige Gedichte vor – etwa auf der Basis von spanischen Übersetzungen der Texte. Und wenn ich dann in der Natur spazieren gehe, singe oder pfeife ich eine Melodie in ein Aufnahmegerät. In meinem Heimstudio entwickle ich diese Melodie ein bisschen weiter und schicke das Ergebnis an Mona, die die Übersetzungen überprüft und mir eine auf Arabisch gesungene Version zurückschickt. Dabei vergleicht sie das formale Arabisch mit Dialektversionen und achtet auf andere Details. In der Zwischenzeit fange ich damit an, die Musik für die Streicher zu arrangieren, und mache mir Gedanken, wie die Perkussionisten mit dem Material arbeiten könnten.”
Da die Musiker aus verschiedenen Traditionen kommen, muss Balke bei der Präsentation neuer Stücke erfinderisch sein. “Ich musste Wege finden, um neue Musik für Musiker zu schreiben, die normalerweise nicht vom Blatt spielen. Für die Mitglieder von Barokksolistene wird alles notiert. Für die anderen nehme ich gewöhnlich Demoversionen von dem Material auf, bei denen ich sowohl Perkussion als auch Keyboards und manchmal Cello spiele, so dass jeder zumindest eine Skizze der Songs erhält.”
Schon im Magnetic North Orchestra, dem Vorläufer von Siwan, hatte sich Balke von den Klangfarben und der Dynamik der großen arabischen Orchester (und insbesondere der Musik der ägyptischen Sängerin Umm Kulthum) inspirieren lassen und versucht, ein zeitgenössisches Pendant zu entwickeln. Auf “Diverted Travels” (2004) arbeitete er erstmals mit dem Barockviolinisten Bjarte Eike zusammen, der sich auch für die Überwindung stilistischer und kultureller Grenzen engagiert. Dabei kam Balke der pulsierenden Kammermusik, die ihm vorschwebte, einen Schritt näher. Seitdem hat er häufiger mit Eike und seinen Barroksolistene zusammengearbeitet. Bei der gegenwärtigen Besetzung von Siwan ist es immer wieder ein Vergnügen zu hören, wie der Kemençe-Spieler Derya Türkan mit dem Barockensemble interagiert, wie die Klänge der nahöstlichen und westlichen Streichertraditionen sich annähern oder miteinander kontrastieren. “Derya kann seine Rolle ziemlich frei gestalten. Er ist tief in der osmanischen Schule verwurzelt, hat aber auch ein offenes Ohr für die Musik des Westens und besitzt die Fähigkeit, sich anzupassen und zu improvisieren, wenn die Musik durch verschiedene Tonarten moduliert.”
Genauso fesselnd ist der kreative Einsatz der Perkussion. Helge Norbakkens eigenwilliges Schlagzeugspiel schleicht sich tief in das strukturelle Gewebe der Musik ein, und die knackig klingende Tombak von Pedram Khavar Zamini, der auf die klassische persische Tradition zurückgreift und diese erweitert, liefert dazu laufend Kommentare.
Zamini, Norbakken und Eike gehörten schon zur Ursprungsbesetzung von Siwan. Aber im Laufe der Jahre gab es auch einige Änderungen. Die erste Besetzung mit Amina Alaoui, Jon Hassell und Kheir Eddine M’Kachiche legte die Messlatte, was die musikalische Dramatik anbelangt, hoch und gewann einige Preise, darunter den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Als 2017 das Nachfolgealbum “Nahnou Houm” erschien, hatte sich Siwan von einem konzeptionellen Projekt zu einer echten Band gewandelt, in der Balke seine Instrumentalkräfte um die Sängerin Mona Boutchebak scharte.
“Mona ist eine sehr kreative Künstlerin”, betont Balke, “auch wenn sie sich als Komponistin und Musikerin eher zurückhält, da sie damit aufgewachsen ist, die Lieder anderer Leute zu singen.” Für “Hafla” vertonte Boutchebak Ibn Zaidūns Gedicht “Mirada Furtiva” als elegante Ballade. Das Stück ist einer der subtilen Höhepunkte des Albums. Boutchebak begleitet sich hier selbst auf einer Kwitra, einer algerischen Oud, während Balke ihre Stimme mit einer sanft murmelnden Klanglandschaft umhüllt, die wie das Flüstern der Nacht wirkt.