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Jahresrückblick 2018 ECM, die zweite Jahreshälfte

Im zweiten Teil unseres Rückblicks erinnern wir an die Alben, die zwischen Juni und Dezember erschienen sind
ECM Records
ECM Records
14.12.2018
John Abercrombie: ein versunkener, doch hellwacher Künstler
Der am 22. August 2017 im Alter von 72 Jahren verstorbene Gitarrist John Abercrombie galt als einer der großartigsten Improvisierer des zeitgenössischen Jazz. Wenige Jahre vor seinem Tod besuchte der Lichtensteiner Filmemacher Arno Oehri Abercrombie in seinem Haus in Greenwich/Connecticut, um ein intimes Portrait des Künstlers anzufertigen, das ECM Records knapp ein Jahr nach seinem Tod auf der DVD “Open Land – Meeting John Abercrombie” herausbrachte. “Besonders schön an dem Film von Arno Oehri und Oliver Primus sind neben den Interviews die Mitschnitte von Sessions, die Abercrombie als versunkenen, doch zugleich hellwachen Künstler zeigen”, fand Wolfram Goertz in der Rheinischen Post. “Musik war für ihn ein offenes Land, so ist die DVD auch betitelt: ‘Open Land’. Eher erforscht er Klänge, als dass er sie behauptet. Irgendwann begann er nicht mehr mit Plektrum, sondern mit dem Daumen zu zupfen; das hatte er sich bei Wes Montgomery abgeschaut. So hat sein Gitarrenspiel etwas zutiefst Menschliches, erzeugt von der Hände und Finger Arbeit. […] Reisen und Lauschen mit John Abercrombie (1944 bis 2017): eine sehr schöne Erinnerung an einen der Großen des Jazz.” Im Deutschlandfunk meinte Karl Lippegaus: “Raue Schale, weicher Kern. Äußere Kälte, innere Wärme. Zwischen diesen Polen bewegt sich der Film ‘Open Land’. Eine latente Melancholie ist spürbar, nicht nur weil er einen alten Mann am Ende seines langen Weges zeigt. Dieses Feeling von – wie Abercrombie es benennt – ‘melancholy, sadness, mystery’: das war es, was ihn mit seinem langjährigen Produzenten Manfred Eicher verband, mit dem er eine unglaubliche Serie großer Alben aufgenommen hat. Sie liebten einfach das gleiche Feeling in der Musik. […] Wenn aus dem Off die Musik von Abercrombies großartigem Quartett mit dem Geiger Mark Feldman ertönt, sieht man die Musiker nicht. Aber der Film lässt die Musik lange ausschwingen und würgt sie nicht wie so oft nach ein paar Minuten ab. Die eindrucksvollen Bilder Arno Oehris (Regie, Drehbuch, Kamera und Schnitt) erzählen parallele Stories ohne Worte. Strommasten, Züge, Brücken.”
Tord Gustavsen Trio: schlicht und ergreifend wunderschön
Auf seinem achten ECM-Album “The Other Side” kehrt der norwegische Pianist Tord Gustavsen endlich wieder zum Trio-Format zurück, mit dem er zwischen 2003 und 2007 seine ersten großen Erfolge bei dem Label gefeiert hatte. Zugleich wollte er sich – wie der Titel des Albums schon nahelegt – aber auch von einer anderen Seite zeigen. In neuen Eigenkompositionen und Arrangements von Chorälen bringt Gustavsen hier seine in der Jugend erworbene Liebe zur Kirchenmusik zum Ausdruck, aber auch seine erst in jüngerer Zeit entdeckte Leidenschaft für alte norwegische Volksweisen. Dabei ist die Musik durchweg geprägt von dem scheinbar telepathischen Verständnis mit Bassist Sigurd Hole und Schlagzeuger Jarle Vespestad. “Ein Dutzend Stücke, darunter Neuarrangements eines dänischen Kirchenliedes aus dem 19. Jahrhundert und dreier Bach-Choräle, belegen, wie tragfähig und betörend Gustavsens Triomusik geblieben ist”, schrieb Ulrich Steinmetzger in der Leipziger Volkszeitung. “Eingeflossen sind die Spielerfahrungen der zurückliegenden Jahre als Solist und mit erweiterten Bands. Vielleicht ist diesmal eine Spur mehr Dynamik zu hören, doch wie hier auch weiterhin ganz nah bei den Essenzen geblieben wird, ist schlicht und ergreifend wunderschön.” In UK Vibe meinte Tim Stenhouse: “Pianist Tord Gustavsen meldet sich mit einem nachdenklichen Trio-Album zurück, das sich in der ersten Hälfte auf sein eigenes, voll ausgereiftes Talent als Komponist konzentriert, während in der zweiten Hälfte J.S. Bach-Originale für einen Jazzkontext adaptiert werden und einem dabei etwas anderes bieten als der seit langem bewährte Ansatz von Jacques Loussier. Bach ist der jazzfreundlichste der frühen klassischen Komponisten und als solcher reif für eine Neubewertung. [....] eine weitere hochwertige Aufnahme von Tord Gustavsen im Trio-Format, das seinen natürlichen musikalischen Neigungen wohl auch am besten entspricht.” das US-Magazin Stereophile kürte “The Other Side” zur Aufnahme des Monats. 
Sungjae Son & Near East Quartet: eine wilde Musikmischung für die persönliche Horizonterweiterung 
Mit dem Near East Quartet stellte Manfred Eicher im August eines der aufregendsten Ensembles der südkoreanischen Musikszene auf seinem Label ECM Records vor. Außergewöhnlich ist das Quartett gleich in zweifacher Hinsicht: durch seine Besetzung mit Saxophonist und Bassklarinettist Sungjae Son (der auch für die Kompositionen verantwortlich zeichnet), Gitarrist Suwuk Chung, Sängerin und Perkussionistin Yulhee Kim sowie Schlagzeugerin Soojin Suh, aber auch durch die eigenwillige Kombination von jazziger Improvisation und traditioneller koreanischer Musik. “Traditionelle koreanische Musik, Gugak, Modern Jazz: Der Sound des Near East Quartets ist eine wilde Mischung aus unterschiedlichsten Strömungen”, begeisterte sich Sebastian Meißner in Sounds And Books. “Der einzigartige Sound des 2010 gegründeten Vierers verlangt dem Hörer einiges ab, beschenkt ihn aber auch reich. Denn die komplexen Rhythmen der Drummerin Soojin Suh, die waghalsige Fuzzgitarre von Suwuk Chung, das wilde Saxofon- und Klarinettenspiel von Sungjae Son sowie das am westlichen Hip-Hop angelehnte Storytelling von Sängerin Yulhee Kim erweitern den persönlichen Horizont spielerisch.” Im Jazzpodium jubelte Jörg Konrad: “Welch eine Entdeckung! Sungjae Son hat diese Formation um 2010 gegründet. Er wollte im Grunde eine Verschmelzung von westlichem Jazz und koreanischer traditioneller Musik umsetzen. […] Eine unglaublich spannende Musik, deren offenen und manchmal schneidenden Klanglandschaften eine ungewöhnliche wie faszinierende Stimmung entstehen lassen.” In Notes & Observations bemerkte Geoff Andrew: “Eindeutig fernöstlich, aber als Klangwelt unterscheidet es sich doch ziemlich von den Pansori- und Volksliedern, die man normalerweise hört. Gitarre und Saxophon sind oft spacig, verzerrt – man denkt manchmal an Terje Rypdal oder sogar an den Bill Frisell von Power Tools, obwohl die Musik hier meist spärlicher, minimalistischer ist.”
 Mark Turner & Ethan Iverson: duftige Melodiebögen und lakonische Eleganz
Die musikalischen Pfade von Saxophonist Mark Turner und Pianist Ethan Iverson kreuzten sich das erst Mal in den 1990er Jahren bei Jamsessions in New York. Ein Jahrzehnt später trafen die beiden im Quartett des Schlagzeugers Billy Hart, mit dem sie für ECM die viel gelobten Alben “All Our Reasons” und “One Is The Other” einspielten, wieder aufeinander. Auf “Temporary Kings” haben Turner und Iverson nun erstmals im Duo-Format ihre ästhetischen Gemeinsamkeiten ausgelotet, etwa den Cool-Jazz-Einfluss der Lennie Tristano/Warne Marsh-Schule oder die gesteigerte Intimität modernistischer Kammermusik. “Anderswo auch gern Monk zugeneigt, orientiert Iverson sich hier passend mehr am gleichmäßigen Flow Lennie Tristanos”, beobachtete Markus Schneider im Rolling Stone, “wir bekommen also eine oft eher coole Intensität, in der jedoch sehr freihändige und nachdenkliche Tracks ebenso Platz finden wie Turners fein melodisches ‘Myron’s World’ und ein verwinkelter, weit offener Blues Iversons. Ganz wunderbar, wie erfindungsreich sich die beiden ineinanderschlingen, zu scheinbar endlos linearem Fluss oder super-eleganten Unisono-Strecken!” In Fono Forum schrieb Sven Thielmann: “Da entfalten sich delikat gesetzte Single-Notes zu wundersam duftigen Melodiebögen am raffiniert ausgespielten Flügel, während das meist in höheren Langen geblasene Tenorsax in lakonischer Eleganz, etwa bei Warne Marshs ‘Dixie’s Dilemma’, auch Lee Konitz in Erinnerung ruft. Neben dem Klassiker von 1956 funkeln acht melodisch, harmonisch und rhythmisch ausgefeilte Originals, bei denen Iverson mit sechs Stücken die Nase vorn hat.”
Marcin Wasilewski Trio: atemberaubendes Erlebnis jazziger Klang-Dramatik
Sein letztes Live-Album “Live In Gexto” hatte das Marcin Wasilewski Trio vor zwölf Jahren und noch unter dem Namen Simple Acoustic Trio eingespielt. Seither stand ein neues Live-Album bei den Fans der polnischen ganz oben auf der Wunschliste. Dieses Jahr wurde ihnen dieser Wunsch endlich erfüllt. Mitgeschnitten wurde “Live” ohne das Wissen der Akteure im August 2016 beim “Jazz Middelheim”-Festival in Antwerpen. Vielleicht spielten sie deshalb auch völlig unbefangen auf. “War das Trio an der Seite von Tomasz Stanko noch das filigran-leichtfüßige Gegenüber zu dessen brüchigen, schwermütig-rauen Melodielinien, so zeigt sich die Band ‘Live’ nunmehr stärker als energiegeladenes Powerpaket”, schrieb Heribert Ickerott im Jazzpodium. “Sensibel gespielte Melodien und dynamische Improvisationen verbinden sich in der Musik des Trios mit technischer Vollkommenheit zu einem kollektiv agierenden Ganzen.” Im Bayerischen Rundfunk meinte Roland Spiegel verwundert: “Kaum zu glauben: Solche Klänge vor 4.000 Zuhörern! Noch dazu eine Aufnahme, von der Wasilewski und seine beiden Kollegen erst nach dem Konzert erfuhren. Sie spielten also nicht für das Mikrophon, sondern für das Publikum – und für den Moment. Und an dem stimmte offenbar alles. Bassist Slawomir Kurkiewicz und Schlagzeuger Michal Miskiewicz sind seit langem die Trio-Partner Marcin Wasilewskis: ein Dreier-Gespann, das miteinander atmet und besonders viel Sinn für atmosphärische Intensität hat. Und für Drive – wenn es sein muss. Festzustellen etwa in einem Stück, das im Original von dem Sänger Sting und seiner Band The Police stammt. Ein Pop-Klassiker, hier im Jazztrio-Gewand: ‘Message In A Bottle’. Ein Ensemble wie dieses lässt die Hörer auch solch einen Gassenhauer wieder neu entdecken. Ein über zehn Minuten langes, atemberaubendes Erlebnis jazziger Klang-Dramatik macht es daraus.”
Shai Maestro Trio: dunkle Melodien flimmern wie eine Fata Morgana
Langjähriger Partner des Bassisten Avishai Cohen, Mitglied in Mark Guilianas Jazz Quartet, Duo-Auftritte mit dem Saxophonisten Chris Potter – die Referenzen des erst 31-jährigen israelisch-amerikanischen Pianisten Shai Maestro können sich sehen lassen. Nachdem er 2017 auf Theo Bleckmanns gefeiertem Album “Elegy” seinen ECM-Einstand gab, legte Maestro bei dem Label auch sein neues Album"The Dream Thief" mit seinem eigenen Trio vor. “Sein Trio mit Jorge Roeder am Bass und Ofri Nehemya am Schlagzeug sprüht vor rhythmischen und harmonischen Finessen und Überraschungen, ohne je die melodische Qualität und den lyrischen Grundton zu verlieren”, schwärmte Oliver Hochkeppel in der Süddeutschen Zeitung. “Nicht nur, weil lange keine Ballade mehr so tief ins Herz geschnitten hat wie ‘The Forgotten Village’ ist ‘The Dream Thief’ ein Anwärter auf das Album des Jahres.” Im Westdeutschen Rundfunk meinte Karl Lippegaus: “Dunkle Melodien flimmern wie eine Fata Morgana. Obwohl Shai Maestros Vorfahren aus den slawischen Ländern nach Israel kamen, weist sein Chamber-Jazz auch nach Griechenland und Armenien. In ‘The Dream Thief’ von Shai Maestro ist der eigene Input der drei Akteure genauso wichtig wie das behutsame Zurücknehmen, um dem anderen Raum zur eigenen Entfaltung lassen. So entsteht eine echte Gruppenmusik, als dichtes Gewebe ausfließend artikulierten Phrasen. In ‘What Else Needs To Happen’ improvisieren die drei mit Barack Obama-Reden zu schärferen Waffengesetzen. Ein Zeichen dafür, dass diese beseelte Musik, die den Zuhörer in Gefilde zwischen Tag und Traum entführt, die Augen und Ohren vor der Realität nicht verschließt.”
 Wolfgang Muthspiel Quintet: Musik von einer ganz tiefgründigen Schönheit
 Auf “Where The River Goes” schreibt Wolfgang Muthspiel mit einer nahezu identischen Besetzung die Geschichte fort, die er 2016 auf seinem von der Kritik gefeierte Album “Rising Grace” begonnen hatte. Wie das vorangegangene Album ist auch “Where The River Goes” gekennzeichnet von intuitiver Magie und vom genauen gegenseitigen Zuhören der Musiker. “Eine Traumbesetzung mit lauter Stars der jüngeren und mittleren Generation des amerikanischen Jazz hat der österreichische Weltklasse-Musiker hier erneut zusammengestellt”, brachte es Roland Spiegel im Bayerischen Rundfunk aufden Punkt. “Das Ergebnis ist eine besonders feinfühlige Kommunikation: Fünf Musiker mit auffällig viel Fingerspitzengefühl! Große Solisten, die hier eine wie selbstverständliche Gemeinschaft sind. Viel Sinn für Atmosphäre, für Zwischentöne, für Energien, die sich ganz leise entwickeln. […] Musik von einer ganz tiefgründigen Schönheit.” Nicht anders sah es Peter Rüedi in der Weltwoche:"Muthspiels Combo ist nicht weniger als eine All-Star-Truppe, in der allerdings alle sich nicht mehr ins Scheinwerferlicht zu spielen brauchen: am Piano Brad Mehldau, ein Nonplusultra an Diskretion und Subtilität; wie sich seine Linien mit denen von Muthspiel verflechten, sich wieder lösen, Alternativen erfinden und am Ende zuweilen wieder in Unisoni münden, ist buchstäblich atemberaubend. […] Eine Sensation ist der Trompeter Ambrose Akinmusire, auch er ein melodisches Genie in seinen sehnsüchtigen, geraden Melodielinien, aber auch einer, der gegen die kostbaren Erfindungen seiner Partner auch mal wildere Schattierungen einstreut, growls und Verschleifungen, kurz: ein nötiges Quantum an dirtyness. Im Ganzen: ein Album, das den Skandal der Schönheit nicht scheut.
Jakob Bro Trio: Masterplan in Tönen
In Bassist Thomas Morgan und Schlagzeuger Joey Baron fand der dänische Gitarrist Jakob Bro 2016 zwei gleichgesinnte amerikanische Musiker, mit denen er auf Anhieb eine gute Chemie entwickelte. Auf seinem ersten Album “Streams” schuf das Trio, wie DownBeat anmerkte, “magische Musik, die sich nicht kategorisieren oder fixieren lässt”. Unter dem Titel “Bay Of Rainbows” legte das Trio ein atemberaubendes Live-Album nach, auf dem es einige von Bros älteren Kompositionen neugestaltete. “Sensationell, mit welchen Finessen Morgan mit seinem Navigationsinstrument Kontrabass dieses traumverlorene Schwelgen grundiert”, meinte Ulrich Steinmetzger in Jazzthing, “wie er immer anders diesem milden Gedankenstrom Tiefe gibt. Dieses Trio ist auch ein Glücksfall, weil es belegt, dass Jazz keine kompetitive Musik sein muss. Ein intuitives Voranschreiten erlebt man als lange und logische Kette, als einen Masterplan in Tönen, als Schönheit pur, ausgewogen, subtil und doch nicht statisch. Bro lässt seine Gitarrenwolken schweben, wozu Baron sein Drumset kost und dabei einen federnd dezenten Groove zaubert.” In Kultur schrieb Peter Füssl: “Sechs Stücke zwischen fünf und elf Minuten Länge wurden an zwei Abenden im Juli 2017 im New Yorker Jazz Standard vor Publikum mitgeschnitten. Da gibt es natürlich genügend hörenswerte Soli, die wahre Stärke der Band liegt aber in der geschmeidigen Interaktion der drei Akteure, die sich innerhalb dieser atmosphärisch dichten Soundlandschaften wechselseitig mit Impulsen und kreativen Anreizen  befeuern und einer Komposition mit einem spontanen Akzent einen Drall in eine völlig unerwartete Richtung geben können.”
Keith Jarrett: Gewebe aus allerfeinster Stofflichkeit
Auf dem Live-Doppelalbum “La Fenice”, 2006 im Gran Teatro La Fenice von Venedig aufgezeichnet, erweist sich der Pianist Keith Jarrett einmal mehr als absoluter Meister der Soloimprovisation. Der Schauplatz – eines der berühmtesten klassischen Konzerthäuser Italiens – wird natürlich unweigerlich Erinnerungen an das vor gut zwanzig Jahren erschienene Album “La Scala” hervorrufen, das immer noch zu den meistgeliebten Soloaufnahmen des Pianisten gehört. Dreh- und Angelpunkt war diesmal aber eine inspirierte Suite aus aus acht spontan entstandenen Stücken, in denen Jarrett einen weiten Bogen vom Blues bis zur Atonalität schlug. “Die Aufnahmen beglücken nicht weniger als diejenigen aus der Mailänder Scala von 1995”, meinte Manfred Papst in der NZZ am Sonntag. “Jarrett verbindet acht aus dem Augenblick entstandene Kompositionen zu einer Suite. Wir hören die Wurzeln von Blues und Swing, aber wir erleben, wie es sich für diesen Rahmen gehört, auch Ausflüge in die teilweise atonale Moderne. […] Und schöner kann man den Standard ‘Stella by Starlight’, als Zugabe dargeboten, nicht spielen. Welch Glück der Intensität!” Im Norddeutschen Rundfunk resümierte Sarah Seidel: “Keith Jarrett baut den Klang aus dem Nichts heraus auf. Entweder arbeitet er wie ein Berserker in die Tasten hinein oder er versenkt sich zärtlich in den Sound, den er gerade kreiert. Da ist nichts mehr um ihn herum als seine Musik, dieses Gewebe aus allerfeinster Stofflichkeit. […] Die Bandbreite von Keith Jarretts Repertoire reicht auf diesem Doppel-Album von sehr freien Ausbrüchen auf der ersten CD bis hin zu hochsensiblen Passagen auf der zweiten – vom Jazz-Standard über Blues bis hin zum Schwelgerisch-Romantischen. Vom belebten Tanz der Gefühle über träumerische Fantasien bis hin zu schwerer Melancholie.”
Andrew Cyrille, Wadada Leo Smith & Bill Frisell: Musik mit einer sengenden Energie
Auf seinem 2016 veröffentlichten Album “The Declaration of Musical Independence” machte Andrew Cyrille deutlich, dass seine Vorstellung vom Gruppenspiel auf eine andere Entwicklungsstufe geführt hat. Im Trio mit Wadada Leo Smith und Bill Frisell hat er das Ensemblespiel auf “Lebroba” nun noch feiner abgestimmt. Der Titel des neuen Albums ist eine Wortkreation aus den Anfangsbuchstaben der Geburtsorte der drei Protagonisten: Leland (Smith), Brooklyn (Cyrille) und Baltimore (Frisell). “Dieses Album, eine wunderschön aufgenommene Trio-Performance mit dem Trompeter Wadada Leo Smith und dem Gitarristen Bill Frisell, ist eine feinsinnige, interaktive Suite mit fünf Stücken”, schrieb Phil Freeman in Stereogum. “Bis auf eines haben sie eine Laufzeit von fünf bis sieben Minuten… und dann gibt es noch eine von Smith geschriebene 17-minütige Hommage an Alice Coltrane. Den Grundton des Albums setzt gleich das Eröffnungsstück ‘Worried Woman’. Es hat eine Rubatoballadenstruktur, die Ornette Colemans ‘Lonely Woman’ ähnelt, aber Cyrilles Schlagzeug ist viel abstrakter und schimmernder als das von Billy Higgins auf jener Aufnahme von 1959. Frisell unterlegt es mit pulsierenden Blues-Akkorden, lässt gelegentlich ein tiefes Rumpeln von einem seiner Pedale aufschwellen, und Smith übernimmt die Hauptrolle, mit seinem vollen Ton und seiner präzisen Beherrschung der hohen Töne, die der Musik eine sengende Energie verleihen.” In der spanischen Tageszeitung El Pais meinte Yahvé M. de la Cavada: “'Lebroba' ist eine jener Platten, die man sich immer wieder anhört, weil man sich der magischen Atmosphäre, die sie erzeugt, einfach ausliefert: ein ruhige, zugleich aber intensive musikalische Konversation, geschaffen mit instrumentalen Pinselstrichen, die natürlich und organisch wirken.”
Florian Weber: Kompositionen als offene Strukturskizzen
Nach einer von der Kritik gefeierten Duo-Einspielung mit dem Trompeter Markus Stockhausen (“Alba”, 2016), präsentierte Florian Weber mit “Lucent Waters” sein erstes ECM-Album unter eigenem Namen. Auf ihm führt der deutsche Pianist ein exzellent besetztes amerikanisches Quartett mit Trompeter Ralph Alessi, Bassistin Linda May Han Oh und Schlagzeuger Nasheet Waits durch ein Programm mit Eigenkompositionen und Skizzen. “Drummer Nasheet Waits changiert zwischen Gefühl und Härte, Trompeter Ralph Alessi bevorzugt einen scharf akzentuierten Sound, den er im richtigen Augenblick zurückzunehmen weiß, und Bassistin Linda May Han Oh kommentiert karg mit trockenem Ton die Vorgaben ihrer Bandkollegen”, meinte Heribert Ickerott im Jazzpodium. “Florian Weber gibt in diesem Kontext den minimalistischen Pianisten und verleiht dadurch den Vorstößen von Drums und Trompete noch mehr Wucht und Dynamik innerhalb eines auf sensible Kommunikation ausgelegten Konzepts. Weil die Kompositionen eher offen Strukturskizzen als geschlossene Melodievorlagen sind, kommt dem spezifischen Sound der beteiligten Instrumente ein ganz besonderer Wert zu.” Im Bayerischen Rundfunk stellte Beate Sampson “Lucent Waters” vor: “Das Album beginnt mit Stille. Fünf Sekunden, in denen man den Pianisten dabei belauschen kann, wie er sich darauf vorbereitet, die ersten Noten einer improvisierten Introduktion in ebenso zarte wie aussagekräftige, von schimmernden Obertönen umhüllte Klänge zu verwandeln. Es sind Töne, die einen Raum öffnen, den man sich hörend befüllen kann mit Gedanken an alles, das schön ist und melancholisch zugleich. Wie aus einem Strom von Erinnerung entsteht hier ein unwahrscheinlich lebendiges Jetzt – und im Fall dieser Einspielung: sehr spannende Musik aus der Stille heraus. Mit diesem ganz freien, offenen Stück stimmt der Pianist Florian Weber auf ein Album ein, das er mit Menschen aufgenommen hat, die er als sehr unabhängige Geister mit sehr eigener Herangehensweise an den Jazz empfindet. Einer von ihnen ist der amerikanische Trompeter Ralph Alessi, mit dem er schon seit 15 Jahren in unterschiedlichen Kontexten zusammenspielt. Ein großer Virtuose ist er, der seine Kunst nicht in den Dienst des Effekts, sondern in den einer wahrhaftigen Aussage stellt – diejenige einer wunderschönen Melodie zum Beispiel, aus Florian Webers Kompositionsschatz. Dunkel strahlt Ralph Alessis Ton, in dem viele feinste Schattierungen zusammenwirken. Zu hören ist er in drei von insgesamt acht Stücken auf der CD, von denen jedes seinen ganz eigenen Charakter entfaltet. […] Die ‘Lucent Waters’, die leuchtenden Wasserströme also, sind zugleich transparent und klar – und ihr Charakter wird wunderbar in Klang verwandelt. Das gehört zu den herausragenden Stärken dieser musikalischen Begegnung, in der Schlagzeuger Nasheet Waits und Bassistin Linda May Han Oh eine ebenbürtige Partnerschaft mit dem Pianisten eingehen.”