Gratwanderung zwischen freier Improvisation und nordischen Musiktraditionen
Auf “Arcanum” stellen der Trompeter Arve Henriksen, der Saxofonist Trygve Seim, der Bassist Anders Jormin und der Schlagzeuger Markku Ounaskari ihr gleichnamiges neues Quartett vor, das von manchen schon als neue “nordische Supergruppe” gefeiert wird.
Arve Henriksen, Trygve Seim, Anders Jormin, Markku Ounaskari(c) Mats Eilerstsen / ECM Records
06.05.2025
Das skandinavische Projekt Arcanum (Geheimnis oder Geheimmittel) vereint vier Künstler, deren Namen ECM-Fans kein Geheimnis sein dürften: Arve Henriksen, Trygve Seim, Anders Jormin und Markku Ounaskari. Die vier Musiker – zwei Norweger, ein Schwede und ein Finne – haben im Laufe der Jahre zwar schon in den unterschiedlichsten Konstellationen zusammengespielt, präsentieren sich auf dem Album “Arcanum” aber zum ersten Mal als Quartett. Obwohl sie von manchen bereits als neue “nordische Supergruppe” gefeiert werden, wird diese Bezeichnung der durchdachten, reflektiven Qualität der Improvisationen und den einfühlsamen Interaktionen kaum gerecht. Ganz gleich, ob sie in Echtzeit komponierte Musik spielen oder bereits früher geschriebene Themen gemeinsam zu neuen Ufern führen.
Ounaksari, Jormin und Seim arbeiteten alle mit der Folksängerin und Kantelespielerin Sinikka Langeland zusammen, als sie auf die Idee kamen, eine neue Band zu gründen. “Während der Soundchecks spielten wir oft als Trio, was uns immer viel Spaß machte”, erzählt Markku. “Also schlug ich vor, ein paar Auftritte für uns in Finnland zu organisieren …” Trygve war der Meinung, dass auch Arve Henriksen unbedingt dabei sein sollte, und sein Vorschlag wurde von den anderen begeistert aufgenommen. Alle vier Musiker waren 2007 zusammen auf Sinikka Langelands ECM-Debütalbum “Starflowers” zu hören und begleiteten sie später erneut bei den Aufnahmen zu “The Land That Is Not” (2011) und “The Magical Forest” (2016). Die Verbindung zwischen Seim und Henriksen reicht sogar noch weiter zurück, denn Arve spielte bereits eine wichtige Rolle auf Trygves ECM-Solodebüt “Different Rivers”, das 1998/99 aufgenommen und 2001 veröffentlicht wurde. Schon damals war klar, dass die Art und Weise, wie Seim und Henriksen ihre Töne auf Saxofon und Trompete beugen und miteinander verweben, etwas ganz Besonderes ist.
Wo also liegen die Wurzeln des musikalischen Ansatzes von Arcanum? Das von Tryge Seim komponierte Eröffnungsstück “Nokitpyrt” gibt einen Hinweis. Anders Jormin bezeichnet es als “eine respektvolle Verbeugung vor skandinavischen Vorbildern”. Liest man den Songtitel nämlich rückwärts, ergibt sich “Tryptikon”. Und das erinnert natürlich sofort an den Titel des bahnbrechenden Albums “Triptykon”, das ein gewisser Jan Garbarek 1972 mit Arild Andersen und Edward Vesala für ECM einspielte und auf dem diese Musiker dem freien Balladenspiel neue Perspektiven eröffneten und eine geistige Verwandtschaft zwischen den Improvisationen der Post-Albert-Ayler-Ära und traditioneller norwegischer Musik aufdeckten. In ähnlicher Weise blickt das Arcanum-Quartett hier durch das Prisma der Jazzkreativität auf ein breiteres Spektrum von Musik und Bedeutung.
Dies zeigt sich zum Beispiel in der Interpretation des traditionellen finnischen Liedes “Armon Lapset”. “Diese westlaestadianische Hymne war in der Vergangenheit in nordnorwegischen Provinz Troms weit verbreitet”, erläutert Arve Henriksen. “Sie trug dazu bei, die Kven-Sprache als Teil des Tornedal-Dialekts und der finnischen Kirchensprache ab den 1860er Jahren am Leben zu erhalten. Wir haben diesen Psalm als Ausgangspunkt für eine sehr freie Interpretation genommen, die sich ziemlich weit von seinem ursprünglichen Lebensraum entfernt.”
Das Stück “Koto” schrieb Anders Jormins 1998 im Auftrag des Schwedischen Rundfunks und nahm es damals unter anderem mit Arve Henriksen und dem französischen Gitarristen Marc Ducret für sein Album “Silvae” auf. Jormins Faszination für die traditionelle japanische Musik wurde später auf den ECM-Alben “Trees Of Light” (2015) und “Pasado En Claro” (2023) durch die Zusammenarbeit mit der Kotospielerin Karin Nakagawa noch verstärkt.
“Elegy” hingegen hat der Bassist mit Arve, Trygve und Markku im Hinterkopf “am ersten Tag des Krieges in der Ukraine” komponiert. Es folgt eine kurze Version von “What Reason Could I Give”, das Anders als “mein Lieblingsstück unter den vielen ausdrucksstarken und ikonischen Stücken von Ornette Coleman” bezeichnet. Eine andere Version dieser wunderschönen Ballade erschien 1993 auf “Dona Nostra”, dem letzten Album von Don Cherry. Der Trompeter und ehemalige Weggefährte von Ornette Coleman spielte sie damals im Duo mit dem Pianisten Bobo Stenson. “Dona Nostra” war auch das erste ECM-Album, auf dem Jormin zu hören war, wenn auch nicht in dieser Nummer.
Die kollektiv improvisierten Stücke auf “Arcanum” zeugen von dem ungewöhnlichen Formgefühl die vier Musiker. Bei ihren freien Erkundungen gehen sie stets hochkonzentriert zu Werke, halten die Stücke aber prägnant und spielen auf den Punkt.Selten ist einem Ensemble die Gratwanderung zwischen freier Improvisation und nordischen Musiktraditionen so gut gelungen wie Arcanum.