“Es gibt nichts Verführerischeres als Kunstfertigkeit, wenn sie die Demut hat, sich als Kunstlosigkeit zu maskieren. Vor allem, wenn sie mit jedem neuen Zitat oder jeder neuen Invention ein Klangfarbenfestmahl erzeugt, das im Stande ist, auf natürliche Weise das Maximum aus den Instrumenten herauszuholen… Dies ist dann ein Weg, der Kunstmusik eine populäre Dimension und der Popularmusik eine künstlerische Dimension hinzuzufügen. Es ist also nicht nötig, sich zu fragen, in welchem Tempel wir die Musik von Gianni Coscia und Gianluigi Trovesi platzieren sollten. Ob an einer Straßenecke oder in einem Konzertsaal, sie würden sie sich an beiden Orten gleichermaßen zu Hause fühlen.” (Umberto Eco)
Der Schriftsteller und Universalgelehrte Umberto Eco (1932–2016) war sein Leben lang mit dem Akkordeonisten Gianni Coscia befreundet und ein leidenschaftlicher Fan von Coscias Duo mit Gianluigi Trovesi. Der Autor von “Der Name der Rose” und “Das Foucaultsche Pendel” schrieb Begleittexte für jedes der früheren ECM-Alben des Duos: “In cerca di cibo” (aufgenommen 1999), “Round About Weill” (2004) und “Frère Jacques: Round About Offenbach” (2009).
Auf “La misteriosa musica della Regina Loana” zollen Trovesi und Coscia ihrem distinguierten Kameraden Tribut. Ecos teils autobiografischer Roman “La misteriosa fiamma della regina Loana” (Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana), von dem der Titel des Albums ableitet wurde, ist auch eine Meditation über die Natur der Erinnerung. Und er inspiriert Trovesi und Coscia zu einer eigenen nostalgischen und explorativen Reise, bei der sie auf die im Buch erwähnte Musik verweisen und freie Assoziationen zu seinen philosophischen Themen herstellen. Wie immer haben die beiden Italiener ihre Fühler in viele Richtungen ausgestreckt. Sie spielen Lieder, die mit Louis Armstrong (“Basin Street Blues”), Glenn Miller (“Moonlight Serenade”) sowie dem britischen Komiker und Ukulele-Spieler George Formby (sein “It’s In The Air” wird in “Volando” zitiert) assoziiert werden. Sie paraphrasieren Leoš Janáčeks Klavierwerk “Im Nebel” (Nebel ist Ecos Roman ein wiederkehrendes Thema) und tauchen mit Herman Hupfelds “As Time Goes By” (aus “Casablanca”) und Theo Mackebens “Bel Ami” (aus dem gleichnamigen deutschen Film von 1939) in die Welt der Filmmusik ein. Und natürlich improvisieren die beiden Musiker überaus kreativ, ohne dabei je ihren Freund, dem das Album gewidmet ist, aus dem Auge zu verlieren.
“Wir haben versucht, einige der unzähligen musikalischen Hinweise des Buches so gut wir konnten und ohne Anspruch auf Vollständigkeit durchzugehen”, erläutert Gianni Coscia. “In einigen Fällen haben wir auch ein paar Dinge eingefügt, die der Autor sicherlich im Sinn hatte, aber nicht explizit zur Sprache brachte.”
Das Album beginnt mit “Interludio”, einem Stück, an dem Umberto Eco und Gianni Coscia vor mehr als 70 Jahren zusammengearbeitet hatten – zu einer Zeit, als Coscia 14 und Eco 13 Jahre alt war. Die Musik inspirierte den jungen Eco, der als Amateurmusiker selbst Trompete, Cello und Blockflöte spielte, einen begleitenden Vers zu schreiben, der zu dem vorliegenden Werk passt: “…Musician, absorbed and inclined / Unveiling new worlds of silence / Tender incarnations of phantasms in sound / Vanish, warily, into memory.”
“Basin Street Blues” ist hier ein besonderes Vergnügen unter vielen. Das Stück, das erstmals 1928 von Louis Armstrong aufgenommen wurde, stellt für Coscia und Trovesi “ein Sinnbild der Frühzeit des Jazz” dar. “Unsere musikalische Absicht ist es, die überwältigende Entdeckung einer Kunst zu betonen, die auf dieser Seite des Atlantiks so gut wie unbekannt, wenn nicht gar verboten war.”
Als Bill Shoemaker in der Jazz Times über “In cerca di cibo” schrieb, merkte er an, dass “Musiker wie Coscia (geboren 1931), die schon früh zum Jazz fanden, nicht die Musikdaten zur Verfügung hatten, um zu Pseudo-Amerikanern zu werden; diese Informationslücke füllten sie zwangsläufig mit einem italienischen Empfinden. Dies wiederum brachte eine ‘Shot-in-the-dark’-Synthese aus frühem Jazz und folkloristischen Improvisationstraditionen hervor”, eine Synthese, die Trovesi und Coscia weiterhin gepflegt haben. Oder um es in den Worten Umberto Ecos auszudrücken: “Wir befinden uns in Gegenwart einer neuen Transversalität, in der die Genreunterschiede verschwinden.”
In der eklektischen Klangwelt von Gianluigi und Gianni, so sagte Eco, “beschwört das Zusammentreffen scheinbar inkompatibler Traditionen die Geister nichtexistierender Musikfamilien herauf”. Durch die Anwendung einer ironischen Distanzierung können solche “Familien” sogar italienische Patriotenlieder des Zweiten Weltkriegs wie “Inno dei sommergibili” (“Lied des U-Boot-Matrosen”) einschließen, dessen propagandistischer Text von “dem tapferen Marinesoldaten, der Lady Death ins Gesicht lacht” handelte. Das Stück ist ebenfalls Teil des Soundtracks des letzten Jahrhunderts. In seinem “Königin Leona”-Buch merkte Eco an, dass die italienischen Radiosender es in den frühen 1940er Jahren “so aussehen ließ, als würde das Leben auf zwei verschiedenen Spuren verlaufen: auf der einen Seite gab es die Kriegsberichte, auf der anderen die endlosen Lektionen in Optimismus und Heiterkeit, die unsere Orchester in solcher Fülle anboten.”
Bei der Aufarbeitung solcher musikalischen Erinnerungen zeichnet das Duo Trovesi-Coscia auch ein Bild einer Ära. Aber sie wagen sich mit ihrer “aus dem Kontext gerissenen Hommage” zugleich darüber hinaus. Die beiden Stücke mit den Titeln “Umberto” und “Eco” sind, wie Coscia erklärt, “das improvisierte, polyphone Ergebnis von Trovesis gematischer Umrechnung des Nachnamens Eco und des Vornamens Umberto”.