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Eine Mixtur aus Stille, Klangeruptionen und leuchtenden Farben

Mit “Isabela” hat der israelische Tenorsaxophonist Oded Tzur ein suitenartiges Album erschaffen, auf dem er auf unnachahmliche Weise indischen Raga, Jazz und Delta-Blues miteinander verbindet.
Nitai Hershkovits, Oded Tzur, Petros Klampanis and Johnathan Blake
Nitai Hershkovits, Oded Tzur, Petros Klampanis and Johnathan Blake
12.05.2022
Oded Tzurs viertes Album als Bandleader (und sein zweites für ECM Records) ist ein Höhepunkt seiner gesamten bisherigen musikalischen Reise in Form eines Liebesbriefs. Nach der Veröffentlichung seines ECM-Debüts “Here Be Dragons” im Jahr 2020 begann der Tenorsaxophonist ein Kompositionsprojekt, bei dem er das Konzept des Ragas, des indischen Systems melodischer Strukturen, als eine Plattform für musikalische Porträts nutzen wollte. Jede der Kompositionen auf “Isabela” wirft ein Schlaglicht auf einen anderen Aspekt desselben Ragas, während die Titelnummer selbst das Herzstück bildet.
Auf seinem musikalischen Weg hat Oded einen besonders eigenwilligen Kompositionsansatz entwickelt, der Raga und Jazz auf solch eine Art und Weise miteinander verbindet, dass der Saxophonist weder musikalische Idiome von anderswo entlehnt noch diese imitiert. Er wendet hier vielmehr ein umfassendes musikphilosophisches Konzept auf universeller Ebene an. Für Oded ist ein Raga mehr als nur eine Reihe von Parametern, die an Zeitsignaturen oder Noten gebunden sind: “Eine Möglichkeit, einen Raga zu definieren, besteht darin, ihn als eine abstrakte Persönlichkeit zu betrachten, die aus Klang erschaffen ist. Manche Musiker würden ihn sogar als eine Präsenz bezeichnen, die man zum Leben erwecken muss. Das ist der Punkt, an dem es keine Tonleiter mehr ist, sondern etwas, das so viel mehr ist als eine Abfolge von Noten. In diesem Sinne ist der Blues genau wie ein Raga. Er hat eine Tonleiter, aber er ist nicht einfach eine Tonleiter. Er ist eine abstrakte Persönlichkeit, die so charakteristisch ist, dass man nur eine Phrase davon hören muss und schon sagen kann: ‘Das ist Blues’ – wie eine Person, die man von weitem erkennt.”
Auf seiner musikalischen Reise wird Oded einmal mehr von Pianist Nitai Hershkovits, Bassist Petros Klampanis und Schlagzeuger Johnathan Blake begleitet. Sie durchtränken die Erfindungen des Saxophonisten mit unangestrengter Musikalität und lebhafter Phantasie. Jeder einzelne ist eine Säule der zeitgenössischen Jazzszene und hat Verbindungen, die über das traditionelle Format des Genres hinausreichen. Oded gibt seinen Mitspielern “die Freiheit, die Musik so zu entwickeln, wie sie es möchten”. Natürlich innerhalb der Strukturen und Möglichkeiten, die die Kompositionen bieten. Die Gruppe entdeckt fortwährend neue Wege, um miteinander zu kommunizieren und dabei ihr musikalisches Vokabular zu erweitern. “Es ist, als ob wir uns auf einem von Bäumen gesäumten Fluss befinden, so dass wir nicht wirklich erkennen können, wohin wir fahren. Aber wir können sicher sein, dass uns die Reise an einen guten Ort führt.” Dieser Ort wird durch Nitais delikate Pinselstriche auf dem Klavier, Johnathans leidenschaftliche und souveräne Perkussionsarbeit und Petros’ mehr als nur zuverlässiges Fundament in den Tiefen des Wassers markiert.
Das US-Magazin DownBeat hat Odeds Art zu spielen einmal als “auf ruhige Weise fantastisch und voller erzählerischer Finessen” beschrieben, während es seinen Ton als “leicht und süß, mit einer geflüsterten Nonchalance” skizzierte. Die tonbeugende, mikrotonale Technik des Saxophonisten, die von klassischen indischen Instrumenten inspiriert ist und das “kaum Hörbare” streift, ist wiederum das Herzstück seiner Stimme und der Melodien, die auf “Isabela” herausstechen.
Der Raga, der das Album von Anfang bis Ende durchzieht, wird im Eröffnungsstück “Invocation” vorgestellt, das wie ein Chalan in der klassischen indischen Musik funktioniert – Chalan ist so etwas wie das Skelett eines Ragas, das seine Struktur in aller Kürze umreißt, ähnlich wie es eine Synopsis von einem Theaterstück tut. Oded und sein Quartett entwickeln die konzentrierte musikalische Materie von “Invocation” und geben ihnen in ausgedehnten Temperamentsstudien, die von einem Moment auf den anderen von nachdenklicher Introspektion zu extrovertierter und freier Improvisation wechseln, neue Formen und Gestalten. “Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Mut fand, auch das andere Extrem auszuloten und zu sehen, was passiert, wenn man der Explosion am anderen Ende des dynamischen Spektrums folgt. Bei diesem Album fühlte ich mich endlich sicher genug, die gesamte dynamische Bandbreite zu erkunden, die Stille, aber auch die Eruptionen, die leuchtenden Farben.”
Weder die Stille noch die leuchtenden Farben, die das Album in vielfältige Schattierungen tauchen, könnten ohne die charakteristischen Beiträge von Odeds Reisegefährten entstehen, und die Performance der Gruppe wird durch die kristalline Akustik des Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano hervorgehoben, in dem das Album im September 2021 aufgenommen und von Manfred Eicher produziert wurde.