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Eine Fundgrube höchst inspirierter musikalischer Dialoge

Für ihr erstes Duoalbum “Topos” haben der griechische Lyraspieler Sokratis Sinopoulos und der Pianist Yann Keerim Béla Bartoks bekannte “Rumänische Tänze” mit viel Fantasie überarbeitet und sie mit kongenialen eigenen Kompositionen kombiniert.
Yann Keerim & Sokratis Sinopoulus
Yann Keerim & Sokratis Sinopoulus (c) Angelos Hills / ECM Records
16.10.2025
“Unser Topos ist der Ort, an dem die Tradition auf die Gegenwart trifft, an dem das Balkangebirge auf den urbanen Raum trifft, an dem die Musik aus ländlichen Gegenden auf zeitgenössische Kunst trifft. Unser Topos ist der Ort, an dem wir uns treffen und interagieren und unsere individuellen sowie gemeinsamen Identitäten formen.” (Sokratis Sinopoulos & Yann Keerim)
Mit “Topos” präsentieren der Lyraspieler Sokratis Sinopoulos und der Pianist Yann Keerim bei ECM Records ihr erstes Duoalbum, das eine wahre Fundgrube höchst inspirierter musikalischer Dialoge ist. Die beiden griechischen Musiker durchqueren hier nahtlos den idiomatischen Raum zwischen europäischer Volksmusiktradition und kammermusikalischem Jazz. Im Mittelpunkt des Albums stehen Béla Bartóks sechs “Rumänische Volkstänze”, die dieser 1915 als Suite aus sechs Klavierminiaturen konzipierte, für deren Gesamtaufführung der Komponist gerade einmal vier Minuten und drei Sekunden veranschlagte. Das Duo hat diese Stücke für das Album überaus fantasievoll neu gestaltet und ausgeschmückt. Dabei setzt Sinopoulos’ malerisches Lyraspiel einen lyrischen Kontrapunkt zu Keerims abwechselnd rhythmisch treibender und leise nachdenklicher Klavierbegleitung. Bisher konnte man die beiden Musiker bereits auf den beiden gefeierten ECM-Alben “Eight Winds” (2015) und “Metamodal” (2019) des Sokratis Sinopoulos Quartet zusammen hören. Auf “Topos” agieren sie nun erstmals als Duo außerhalb des Quartetts. In diesem intimeren Rahmen greifen ihre musikalischen Konversationen besonders elegant ineinander und offenbaren zugleich einen ausgeprägten Sinn für Raum und Atmosphäre. Erstaunlich ist auch, wie sie ihre eigenen Kompositionen mit den Bartók-Studien kombinieren. Tatsächlich ist es dem Duo gelungen, alle Stücke unmerklich miteinander zu verbinden, sodass die Musik des gesamten Album wie aus einem Guss klingt.
Seit sich ihre Wege vor rund fünfzehn Jahren zum ersten Mal kreuzten, haben Sokratis Sinopoulos und Yann Keerim ein intimes musikalisches Verständnis füreinander entwickelt, das auf “Topos” eine neue Dimension erreicht. Wie die beiden Musiker erklären, bezieht sich der Titel des Albums direkt auf ihre gemeinsame, vertraute musikalische Landschaft: “Im Griechischen kann ‘Topos’ auch ‘Zuhause’ oder ‘Heimatland’ bedeuten. Aber es geht nicht nur um den Ort oder Dinge. Es geht um die Kultur, die Verbindung zwischen den Menschen – auch das ist eine Bedeutung des Begriffs. Was wir also auf diesem Album tun, ist, unseren Topos zu kreieren, der weitreichende musikkulturelle Implikationen beinhaltet und auch Ungarn, Rumänien und den Balkan einschließt. Und wir bauen ihn weiter aus, machen andere Menschen mit ihm bekannt und laden sie ein, Teil davon zu werden.” Ihr gemeinsamer Hintergrund in der griechischen Volksmusik, mit der beide aufgewachsen sind, ist in diesem Fall der Ausgangspunkt, der es ihnen ermöglicht, tief in den musikalischen Geist des jeweils anderen einzutauchen.
Die “Rumänischen Volkstänze” von Béla Bartók sind bei diesem Duo-Projekt ein zentrales Thema. Mit dem Repertoire beschäftigt sich Sokratis, seit er vor fast zehn Jahren von dem Geiger Jonathan Morton eingeladen wurde, es zusammen mit dem von diesem geleiteten Scottish Ensemble aufzuführen. Das Duo betrachtet diese Tänze jedoch durch eine eigene Linse. Es hat sie umgestaltet, dekonstruiert und dann als eine Art Echo oder Reaktion auf das ursprüngliche Material wieder zusammengesetzt. “Wir haben das Material sehr geöffnet, die melodischen und rhythmischen Muster genommen und sie auf viele verschiedene Arten weiterentwickelt”, bemerkt Sokratis.
Die lyrischen Qualitäten der Lyra, noch verstärkt durch das besonders ausdrucksstarke Glissando-Spiel mit dem Bogen, sind in Yanns einfühlsamer Klavierbegleitung durchweg elegant gebettet. In dem Stück “In One Spot” wird sie von den lang gehaltenen, tiefen Grundtönen des Klaviers umschlungen, in “Sash Dance” von sanften Akkordfolgen getragen, und in “Dance For Bucsum” wird sie zunächst von sehr reduzierten, pinselartigen Tastenanschlägen unterstützt, bevor das Klavier die Melodieführung übernimmt. Sokratis “singt” diese Lieder mit Einfühlungsvermögen auf seiner Lyra und offenbart eine tiefe Verbundenheit zu Yanns spontanen Ideen. In “Romanian Polka” tragen beide zu gleichen Teilen zur beschwingten rhythmischen Komponente des Stücks bei, wobei Sokratis hier losgelöster denn je wirkt.
Man muss die Geschichte der Lyra respektieren, wenn man mit ihr interagiert”, sagt Yann. “Du hast diese Verantwortung. Du darfst nicht zulassen, dass sich dein Spielpartner – in diesem Fall Sokratis – außerhalb der Welt fühlt, die er in seinem Kopf hat. Es ist also eine Gratwanderung. Man muss sich von bestimmten Formalitäten lösen, aber auch innerhalb einer bestimmten Tradition, Ästhetik oder Klangwelt bleiben. So schafft man in diesem behutsamen Austausch schließlich seine eigene Klangwelt.”
Zur Vorbereitung der Aufnahme ging das Duo zurück zu den Quellen, das heißt, es hörte sich die Originalaufnahmen an, die Bartók von verschiedenen Volksmusikstücken angefertigt hatte. Im Studio ließen sie dann aber auch Raum für spontane Inspirationen. Anstatt jedes Stück in einzelnen Takes aufzunehmen, spielten sie die Tänze in einem Rutsch ein. “Viele Dinge ergaben sich an Ort und Stelle, während wir das Album aufnahmen”, erläutert Yann den kollektiven Prozess. “Die Songs wurden umgestaltet, wobei viel aus dem Stegreif improvisiert wurde. Und wir haben alles in einem Zug gespielt, als wäre es ein einziges großes Stück. Auf diese Weise wurde die Musik in einer sehr einzigartigen und kohärenten Atmosphäre eingefangen, die eine spezifische Klangwelt schuf, in die wir eintauchten und die unsere eigenen Stücke schließlich beeinflusste.
Die Eigenkompositionen des Duos – “Vlachia”, “Valley”, “Mountain Path” und “Forest Glade” – fügen sich als Erweiterungen des Bartók-Repertoires in das Programm des Albums ein. Sie wirken wie Weiterentwicklungen der ästhetischen und volksnahen Architekturen, die der ungarische Komponist in die Welt brachte. Dies kommt im Eröffnungsstück “Vlachia” durch polternde Klavierarpeggien und eine sehnsüchtige Melodie zum Ausdruck. “Valley” ist dagegen in einem dialogorientierteren Stil gehalten, in dem sich Sokratis und Yann in einem dynamisch abebbenden und wieder anschwellenden Austausch befinden. “Mountain Path” dient als atmosphärisches Zwischenspiel, während “Forest Glade” den impressionistischen Höhepunkt der Klangwelt markiert, die das Duo auf “Topos” entfaltet.
Sokratis Sinopoulos hat mit zahlreichen internationalen Künstlern zusammengearbeitet und überschreitet gerne die Grenzen zwischen den Genres Jazz und Klassik, wobei er aber stets die volkstümlichen Traditionen Griechenlands und des östlichen Mittelmeerraums integriert. Er wurde 1974 in Athen geboren und studierte als Kind byzantinische Musik und klassische Gitarre, bevor er 1988 zur Lyra wechselte. Den Kreis der ECM-Künstler betrat Sinopoulos 2002 als Teil des Ensembles von Eleni Karaindrou auf dem Album “Trojan Women – Music for the Stageplay by Euripides”. Seither hat er immer wieder mit der griechischen Komponistin zusammengearbeitet und wirkte auf ihren Alben “The Weeping Meadow – Film by Theo Angelopoulos” (2004), “Elegy of Uprooting” (2008), “Euripides: Medea” (2014) und “Tous les oiseaux” (2018) mit. An der Seite von Charles Lloyd und Maria Farantouri ist der Lyraspieler außerdem auf dem gefeierten Live-Album “Athens Concert” zu hören, das 2010 im Odeon des Herodes Atticus aufgenommen wurde. Im selben Jahr gründete Im Jahr 2010 gründete Sokratis Sinopoulos sein Quartett mit dem Pianisten Yann Keerim, dem Bassisten Dimitris Tsekouras und dem Schlagzeuger Dimitris Emmanouil. Das Debütalbum der Gruppe, “Eight Winds”, wurde 2015 veröffentlicht, der Nachfolger “Metamodal” erschien 2019.
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