Auf seinen ersten beiden Alben für ECM bewegte sich Florian Weber musikalisch in kleinen Zirkeln. “Alba” präsentierte den aus Detmold stammenden Pianisten 2016 im Duo mit dem Flügelhornisten und Trompeter Markus Stockhausen, während er auf “Lucent Waters” 2018 sein New Yorker Quartett mit dem Trompeter Ralph Alessi, der Bassistin Linda May Han Oh und dem Schlagzeuger Nasheet Waits vorstellte. Von gänzlich anderer Seite zeigt sich Florian Weber nun auf seinem dritten ECM-Album “Imaginary Cycle”. Mit einer außergewöhnlichen Besetzung, bestehend aus zwei Blechbläser-Quartetten (eines mit Euphonium-Spielern, das andere mit Posaunisten) sowie der Flötistin Anna-Lena Schnabel und Michel Godard an Tuba und Serpent, präsentiert Weber hier einen vierteiligen Zyklus, der von einer Prélude und einem Epilog gerahmt ist. Dem Pianisten ist mit “Imaginary Cycle” ein eigenwilliges, großformatig entworfenes und in seinem grundlegenden Naturell wirklich einzigartiges Werk gelungen: ein Hybrid mehrerer musikalischer Sprachen, das nahtlos das Harmonische mit dem Gewagten verbindet und die Trennlinien zwischen Improvisation und Komposition verwischt.
Im Begleitext zu dem Album verrät Florian Weber, wie dieses spektakuläre Projekt ursprünglich zustande kam. In den ersten Gesprächen, die der Pianist mit dem Produzenten Manfred Eicher führte, ging es weniger um die Musik selbst, sondern vielmehr um abstraktere und metaphorische Prinzipien: “Anfangs hatten Manfred und ich vor allem Bilder im Kopf – malerische, sinnbildliche Landschaften als Impetus für musikalische Erkundungen. Wir haben uns gegenseitig Bilder und Klänge beschrieben und dabei Ähnlichkeiten zwischen unseren Gedanken entdeckt. So als würden wir uns gegenseitig einen Raum beschreiben, mit einer speziellen Atmosphäre, in der sich unsere beiden Blickwinkel überschneiden.”
“Zuerst war ich nur auf das Klavier fokussiert”, fährt Weber fort. “Aber Manfred brachte schon sehr bald die Idee ein, weitere Instrumente mit einzubeziehen – jedoch aus der Ferne.” Um seine Klangvorstellung zu umschreiben, verwendete Eicher das italienische Wort “lontano”, dass soviel wie “entfernt” oder “weit weg” bedeutet." Ich war sofort von diesem Ansatz angetan und wir tauschten viele Ideen zu dem Konzept aus. Schon früh schlug er vor, eine Gruppe von Instrumenten hinzuzufügen, die einen tieferen Frequenzbereich abdecken würde."
Bei der Verwirklichung dieses klanglich vielschichtigen und ungewöhnlich komplexen Projekts wurde Weber von dem Euphonium-Quartett Opus 333 auf der einen Seite und einer handverlesenen Gruppe von vier Posaunisten auf der anderen Seite unterstützt. Webers langjähriger musikalischer Weggefährte Michel Godard hatte dem Pianisten das junge französische Euphonium-Quartett empfohlen, das schon seit 2009 in der Musikwelt für Furore sorgt. Bei der Suche nach den passenden Posaunisten half Weber wiederum die Bassposaunistin Maxine Troglauer, eine jüngere, aber inzwischen ebenso vertraute Spielpartnerin des Pianisten. Komplettiert wird die Besetzung durch die Flötistin Anna-Lena Schnabel, die gemeinsam mit Godard über und zwischen den Ensemble-Teilen schwebt und so eine Verbindung zwischen dem Klavier von Florian Weber und den Blechbläsern knüpft, eine Brücke zwischen alten und zeitgenössischen musikalischen Ausdrucksformen schlägt sowie nahtlose Übergänge zwischen den Welten der Komposition und Improvisation herstellt.
“Einige der Stücke des Zyklus beginnen von einem komplett improvisierten Punkt und bahnen sich langsam den Weg zu einer durchkomponierten Passage hin”, merkt Florian Weber im Booklet an. “Die Flöte spielt, neben mir am Klavier, eine wichtige Rolle, wenn es um diesen ‘komprovisatorischen’ Aspekt geht – Anna-Lena Schnabel ist besonders feinfühlig und geschickt darin, auf die Stimmung und den konzeptionellen Bogen der Musik zu reagieren. Sie ist in der Lage, den kompositorischen Aspekt in ihren Improvisationen zu erfassen. Dasselbe gilt für Michel, dessen Kommunikation mit den anderen Instrumenten einzigartig ist.”
Mit dem Kunstbegriff “Komprovisation” bezieht sich Weber auf die inhärente Synergie von komponierten und improvisierten Elementen. Ein zweiter wichtiger Aspekt der Musik des Pianisten ist “polyphone Intuition”. Darunter versteht Weber die Fähigkeit, improvisatorische Passagen aus einem fast schon unterbewussten Zustand heraus zu entwickeln. Diese beiden konzeptionellen Ansätze, die im Begleittext ausführlicher beschrieben werden, sind in der Musik dieses Albums vorherrschend. In der dem Zyklus vorangestellten ungemein fantasievollen “Prelude” treibt Weber sein Klavier auf eine musikalische Lichtung zu, auf der er von den Hörnern begrüßt wird, die so das Feld für das erste beschwörende Kapitel von “Opening” bereiten.
Die Namen der einzelnen Teile des Zyklus – die anderen drei wurden “Word”, “Sacrifice” und “Blessing” betitelt – basieren auf Webers Überlegungen zur liturgischen Messe als Mittel der musikalischen Gliederung. Interaktion – eines der Hauptmerkmale – ist ein Kerncharakteristikum von “Imaginary Cycle” und auch der Herangehensweise des Ensembles, Im Verlauf des Albums lösen sich einzelne Instrumente oder Ensemble-Teile immer wieder spontan, um sich danach neu zu gruppieren. Dies geschieht sowohl als natürliche Reaktion auf Webers Partituren, aber auch aus dem Stegreif heraus, um improvisatorische Wege einzuschlagen, wobei alle stets wachsam miteinander kommunizieren. Florian Webers Vision, die ebenso von den Madrigalen der Renaissance wie von Komponisten des 20. Jahrhunderts und neueren Vorreitern zukunftsweisender Musik beeinflusst ist, sprengt die Grenzen der Polyphonie und führt sein Ensemble hier zu etwas radikal Neuem und Imaginärem.