Jimmy Giuffre, 1961 “Jesus Maria”
Manfred Eicher wurde durch die Platten inspiriert, die Jimmy Giuffre mit Paul Bley und Steve Swallow für Verve aufnahm. 1990 hat Eicher sie bei ECM schließlich neu aufgelegt. Die Harmonien von Carla Bleys “Jesus Maria” sind wundervoll und klingen eher “klassisch”. Ohne Schlagzeug wird das dynamische Potential der einzelnen Instrumente freigesetzt. Die Klänge scheinen geradezu in der Luft zu schweben. In gewisser Hinsicht ist dies eine typische ECM-Aufnahme, die bloß einige Jahre vor der Gründung des Labels entstand.
Paul Bley, With Gary Peacock “Long Ago and Far Away”
Zwei frühe ECM-Veröffentlichungen wurden aus dem privaten Tonarchiv von Paul Bley akquiriert. Bley, Gary Peacock und Paul Motian sollten den ECM-Sound von damals bis heute entscheidend beeinflussen. In dieser 1963 entstandenen Version von “Long Ago And Far Away” formen sie diesen alten Jerome-Kern-Standard so weit wie möglich gemeinsam um.
Paul Bley, Ballads “So Hard it Hurts”
Paul Bleys nächste “Hauskomponistin” nach Carla Bley war Annette Peacock, deren elliptische Kompositionen vollständig ausgeformt aus einem alternativen Universum hervorzugehen scheinen. Bley sagte, dass er damals so langsam wie möglich zu spielen versuchte, und bei “So Hard It Hurts” hält er sich weitaus mehr zurück als Mark Levinson oder Barry Altschul. Eine Art Magie hält die Emotionen zusammen. Als ich in der Highschool war, hörte ich diesen Song ununterbrochen. Auch wenn dies eine weitere Tonbandaufnahme aus Bleys Archiv ist, die Eicher einfach aufgekauft hat, so gibt die minimalistische, aber auffällige Covergestaltung von Barbara Wojirsch doch eine klare Richtung für die Zukunft vor. (Keine Bley-Scheibe der 60er Jahre hatte so ausgesehen.)
Marion Brown, Afternoon of a Georgia Faun “Afternoon of a Georgia Faun”
Eicher mochte Avantgarde-Jazz, wenn dieser den Tönen genug Raum ließ, für sich selbst zu sprechen. “Georgia Faun” ist nicht wirklich für das Streaming-Zeitalter gedacht. Man sollte die Platte tatsächlich auf den Plattenspieler legen, die Nadel aufsetzen, einen tiefen Zug an einem Joint nehmen und sich für die Reise zurücklehnen. Obwohl an dieser Aufnahme viele Spitzenmusiker beteiligt waren, spielt keiner von ihnen sein Instrument auf gewohnte Weise. Besondere Erwähnung verdient Jeanne Lees todesmutiger Gesang. Ein Periodenstück, aber nichtsdestotrotz ein amüsantes und wichtiges Periodenstück.
Terje Rypdal, Terje Rypdal “Keep it Like That – Tight”
Eicher sollte der wichtigste Produzent europäischer Jazzkünstler werden. Diese norwegische Crew arbeitete mit George Russell und Don Cherry zusammen, bevor sie sich mit Rock, Fusion und anderen zeitgenössischen Strömungen beschäftigte. “Keep It Like That – Tight” ist eine funkige Nummer, die nur eineinhalb Jahre nach “Bitches Brew” aufgenommen wurde.
Jon Christensens wogendes Schlagzeugspiel und die schreddernden Improvisationen von Jan Gabarek und Rypdal klingen noch heute frisch.
Keith Jarrett, Facing You “Starbright”
Jarrett ist ein unverkennbarer ECM-Künstler: jemand, der Paul Bley, europäische Klassik und zeitgenössische Popmusik gleichermaßen verstanden hat. Obwohl Jarretts ECM-Debüt ein Meilenstein war und von Eicher produziert wurde, ist es weniger ausgereift als all seine anderen ECM-Soloaufnahmen, die noch folgen sollten. Es klingt ein wenig trocken, was aber gut zu Jarretts erstaunlicher Stride-Piano-Version von “Starbright” passt.
Chick Corea, Return to Forever “Return to Forever”
ECM dokumentierte ziemlich viel Fusion, als sich diese Musik noch in ihrer spannendsten Phase befand. Dieses Album, das zwar schon 1972 aufgenommen, aber erst 1975 veröffentlicht wurde, sticht als Anomalie immer noch aus Coreas Katalog heraus, da es vom Ansatz her luftiger ist als alle anderen Fusion-Veröffentlichungen von Corea. Die unisono von Flora Purims Stimme und Coreas E-Piano vorgetragenen Melodielinien begleitet Airto mit tänzelnden Rhythmen auf den Becken. Stanley Clarke war ein sehr junger Virtuose, sowohl am elektrischen als auch am akustischen Bass. Es ist eine Schande, dass der große Joe Farrell hier nicht Tenorsaxophon spielte.
Dave Holland, Conference of the Birds “Four Winds”
Holland kommt aus England, und in “Four Winds” filtert er Einflüssevon Ornette Coleman durch ein fröhliches englisches Folk-Feeling. Sam Rivers, Anthony Braxton und Barry Altschul waren gleichgesinnte New Yorker, die in dieser Zeit allesamt viel mit Holland spielten. Alle Mitglieder dieses Quartetts nehmen diese Einladung zur freien Improvisation bereitwillig an. Das Stück ist in jeder Hinsicht ein Free-Jazz-Klassiker.
Jan Garbarek-Bobo Stenson Quartet, Witchi-Tai-To “Desireless”
Garbarek, Stenson, Palle Danielsson und Jon Christensen entwickelten eine ganz besondere Beziehungen zu Eicher. Dank ECM wurden viele amerikanische Musiker der 70er und 80er Jahre von Skandinaviern beeinflusst, eine Entwicklung, die man sich einige Jahre zuvor nicht hätte vorstellen können. Diese lange und rhapsodische Version von Don Cherrys “Desireless” – eine Art Akustik-Fusion-Neuinterpretation der wegbereitenden Strategien des John Coltrane Quartet – ist perfekt für eine nachhallende Studioproduktion unter der Regie von Toningenieur Jan Erik Kongshaug, der eine weitere ECM-Schlüsselfigur ist.
Bennie Maupin, Jewel in the Lotus “Mappo”
Dieses stimmungsvolle Zusammentreffen weckt Erinnerungen an eine Schlüsselgruppe aus den frühen 70ern: Herbie Hancocks Mwandishi. Maupins Kompositionen und Arrangements sind erstaunlich schön. Hancock spielt in “Mappo” ein angenehm avantgardistisches Klavier. Man fragt sich unwillkürlich, was Hancock wohl gemacht hätte, wenn er in einem alternativen Universum einige Zeit lang ECM-Künstler gewesen wäre.
John Abercrombie, Timeless “Lungs”
Abercrombies Debüt war ein Update des klassischen Orgeltrios und einfach höllenhart. Der Gitarrist und der virtuose Jan Hammer hauen sich in einem aggressiven Todeskampf gemeine pentatonische Muster um die Ohren, die Jack DeJohnette mit hell auflodernden Rhythmen unterlegt.
Abercrombie sollte zu einem weiteren unverkennbaren ECM-Musiker werden.
Kenny Wheeler, Gnu High “Heyoke”
Wheeler schrieb formschöne Melodien über komplexe Harmonien und blies eine kraftvoll zerklüftete rhapsodische Trompete. Das ist einer von Keith Jarretts vergleichsweise wenigen Auftritten als Sideman, was umso bedauerlicher ist, da er so locker und inspiriert klingt. Die aus Dave Holland und Jack DeJohnette bestehende Rhythmusgruppe ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Es dürfte schwer sein, einen bedeutenden jüngeren Jazzmusiker aus dieser Zeit zu finden, der nicht von “Gnu High” inspiriert war.
Enrico Rava, Quartet “Lavori Casalinghi”
Ravas wunderschöner Trompetenton deklamiert fast schon familiäre italienisch anmutende Melodien. Unterstützt wird er dabei von dem unvergleichlichen Roswell Rudd und einer der besten europäischen Rhythmusgruppen jener Zeit, J.F. Jenny-Clark und Aldo Romano. Die glühenden Jazzimprovisationen im Mittelteil der ausgedehnten Komposition sind vollkommen gelungen.
Richie Beirach, Elm “Snow Leopard”
In diese Playlist musste ich unbedingt mindestens eine Melodie aufnehmen, die mit einem typischen ECM-Klang beginnt: Jack DeJohnettes unbegleitetem Uptempo-Spiel auf dem Ride-Becken. “Elm” ist eine der besten Platten von Beirach, und das virtuose chromatische Zusammenspiel mit DeJohnette und George Mraz war damals topaktuell.
Keith Jarrett, Eyes of the Heart “Encores (A-B-C)”
Das Ende von Jarretts Gruppe mit Dewey Redman, Charlie Haden und Paul Motian. Es war ein Live-Konzert, das mit vielen Dysfunktionen aufwartete. Der Großteil der beiden Seiten der ersten LP wird von einem umherwandernden Klavier bestimmt, bevor Dewey schließlich einsetzt und in den letzten Minuten von “Pt. 2” das Haus aus den Fugen bläst. Die dritte Seite mit den Zugaben bietet eine Gospel-Nummer mit weißglühendem Chaos von Motian, gefolgt von einem bluesigen Swinger mit einer exzellenten Sopransax-Einlage von Jarrett und mehr Brillanz von Dewey, Charlie und Paul. Die vierte der Doppel-LP wurde leer gelassen, vielleicht als Zeichen für unerledigte Geschäfte.
Sam Rivers, Contrasts “Zip”
Ein Freebop-Trio mit Dave Holland und Thurman Barker. Rivers' Tenor ist knorrig und so verdammt swingend. Ich bin mir nicht sicher, ob dies das beste der vielen großartigen Sam-Rivers-Alben mit einer ähnlichen Besetzung ist, aber es war das einzige für ECM und bei weitem das beste.
Der Rest des Albums wurde im Quartett mit dem großen George Lewis eingespielt.
Pat Metheny and Lyle Mays, As Falls Wichita, So Falls Wichita Falls “As Falls Wichita, So Falls Wichita Falls”
Zu den Aufgaben eines Jazzmusiker gehört es, Zeit und Ort zu reflektieren. Der Titeltrack ist eine lange Americana-Suite mit Hintergrundgeräuschen von einer Menschenmenge und Overdubbing. Charles Ives anno 1980? In gewisser Weise ist es altmodisch, aber das sind auch John-Hughes-Filme. Ich habe diesen Track teilweise ausgewählt, um die Bedeutung von Lyle Mays für den Sound der Pat Metheny Group zu würdigen.
Dies ist die einzige Scheibe, die sie als Co-Leader veröffentlicht haben.
Old and New Dreams, Playing “Happy House”
Dieses Kollektiv von Don Cherry, Dewey Redman, Charlie Haden und Ed Blackwell beweist, dass die Magie der besten Ornette-Coleman-Bands auch den anderen Meistern geschuldet war, die seine Sprache wirklich verstanden. “Happy House” habe ich allein deshalb ausgewählt, weil es das erste Stück auf “Old And New Dreams” ist, aber auf dem Album ist wirklich jeder Track fabelhaft. Die göttlichen Melodien und Rhythmen purzeln einfach aus dieser Band heraus.
James Newton, Axum “Mälak ‘Uqabe”
Newtons köstliche Flöte befindet sich oft im Schnittpunkt von sehr alt, sehr neu und dem Blues. Dieses virtuose Recital profitiert von einer erstklassigen ECM-Produktion. Es ist zu schade, dass Newton und einige seiner New Yorker Kollegen der späten 70er und frühen 80er Jahre nicht mehr mit Eicher zusammengearbeitet haben.
Steve Reich, Tehillim “Tehillim Parts I & II”
In den 80er Jahren begann Eicher auf dem “ECM New Series”-Label mit der Veröffentlichung von Aufnahmen von vollständig notierter Musik. Obwohl von George Manahan dirigiert, standen Steve Reich And Musicians in gewisser Weise einer Rockgruppe näher als einem traditionellen klassischen Ensemble, wobei in die Band eingschleuste Nicht-Klassiker wie Jay Clayton und Glen Velez Synkopierungen ermöglichten. Meine erste Begegnung mit “Tehillim” war bahnbrechend für meine eigene Entwicklung.
Codona, Codona 3, “Clicky Clacky”
Diese Weltmusik-Supergruppe von Colin Walcott, Naná Vasconcelos und Don Cherry hat drei Scheiben aufgenommen, die alle durch und durch ECM sind.
Es ist der Gruppe gegenüber nicht wirklich fair, das schrullige “Clicky Clacky” für diese Playlist auszuwählen, aber ich habe die Nummer einfach immer so sehr geliebt.
Charlie Haden and Carla Bley, The Ballad of the Fallen, “The Ballad of the Fallen” (and the rest of the medley, concluding with “The People United Will Never Be Defeated”)
Das zweite Album des Liberation Music Orchestra ist nach wie vor mein Favorit. In der Highschool konnte ich nicht genug von dem superben Medley der A-Seite bekommen. Carla Bleys Arrangements der alten spanischen Themen sind rein und schnörkellos, ein perfekter Ausgangspunkt für die Soli von Mick Goodrick, Don Cherry, Gary Valente, Mike Mantler und Steve Slagle. Bley selbst steuert eine stotternde Kadenz bei. Und angetrieben wird das Ganze von dem unvergleichlichen Paul Motian.
Keith Jarrett, Standards Vol. 1 “All the Things You Are”
In den ersten fünfzehn Jahren konnte man auf ECM-Alben wirklich nur sehr wenige swingende Standards finden. Jarrett änderte das mit dem exzellenten neuen Trio, das er mit den gleichgesinnten Freigeistern Gary Peacock und Jack DeJohnette bildete. “All The Things You Are” hatten sich zuvor schon Lennie Tristano und Paul Bley angeeignet. Also war es nur richtig, dass es Jarrett mit der ihm eigenen furiosen lyrischen Virtuosität interpretierte
Pat Metheny, Rejoicing “The Calling”
Für eines seiner besten Alben arbeitete Pat Metheny mit Charlie Haden und Billy Higgins zusammen, die einst die Rhythmusgruppe von Ornette Colemans legendärem Free-Jazz-Quartett gebildet hatten. Die Art und Weise wie Bass und Schlagzeug sich in dem swingenden Material der A-Seite häuslich einrichten, hat schon etwas wirklich Besonderes. “The Calling” auf der B-Seite klingt mehr nach Ayler als nach Coleman und ist für mich eines der großartigsten Stücke des Free-Jazz, die je aufgenommen wurden. Während Metheny und Haden jede Menge andere lärmige Musik gespielt haben, gibt es in Higgins’ Diskographie sonst nichts Vergleichbares.
Art Ensemble of Chicago, The Third Decade “Walking in the Moonlight”
Das AEOC hatte immer eine humorvolle Seite, und auf dieser Jubiläumsscheibe ließ es dieser Seite freien Lauf. “Walking In The Moonlight” ist urkomisch, eine Art altmodische, sentimentale Ballade aus Roscoe Mitchells Feder. Sie klingt genau auf die richtige Art absolut schräg.
Paul Motian, It Should Have Happened a Long Time Ago “In the Year of the Dragon”
Motians Trio mit Bill Frisell und Joe Lovano stand noch ganz am Anfang einer langen Karriere. “In The Year Of The Dragon” ist ein echter Swinger. Selbst ohne Bass ist der Groove mörderisch. Motian klingt einfach unglaublich.
Paul Bley, Fragments “Memories”
ECM-Alben kommen gewöhnlich ohne Booklet-Texte daher, was das Streamen ein wenig akzeptabler macht. Wenn Sie aber die Möglichkeit haben sollten, lesen Sie bitte unbedingt Steve Lakes ausgezeichnete und historisch aufschlussreiche Anmerkungen zu dieser inspirierten Band alter und neuer Freunde. “Memories” ist keine Komposition, sondern reine Improvisation, einzigartig und hinreißend. Es ist unmöglich sich vorzustellen, dass dies so ohne die Präsenz von Manfred Eicher hätte geschehen können.
Bill Frisell, Lookout for Hope "Lonesome
Frisells neue Band mit Hank Roberts, Kermit Driscoll und Joey Baron sollte dazu beitragen, eine neue Ära zu definieren, in der sich Jazzmusiker Rock und Country einverleiben. Während “Lonesome” eine “countryeske” Struktur hat, bietet der Mittelteil eine Mischung aus konkurrierenden Energien und klingt eher wie “Jazz”.
Marc Johnson’s Bass Desires Second Sight “Twister”
Marc Johnson und Peter Erskine bildeten eine Zeit lang eine sehr wichtige Rhythmusgruppe. Am besten zur Geltung kamen sie vielleicht in Johnsons ausgelassener Band mit Bill Frisell und John Scofield.
Scofields “Twister” klingt fast schon wie eine Version von “Twist And Shout”. Die Nummer ist brandkomisch, aber der Schlagzeug-Groove und die bluesigen Gitarrensoli sollte man keineswegs auf die leichte Schulter nehmen.
Gary Peacock, Guamba “Requiem”
Peacocks elastische Phrasierung ist auf dieser mysteriösen Quartett-CD mit Palle Mikkleborg, Jan Garbarek und Peter Erskine besonders gut zu hören. Die besten amerikanischen und europäischen Musiker miteinander zu paaren, war eine Strategie, die Eicher oft verfolgte. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Gruppe so ohne den Produzenten zusammengekommen wäre. Dies ist eine weitere Lieblings-CD aus meiner Highschool-Zeit. Die A-Seite hörte ich mir immer wieder an.
Dave Holland, The Razor’s Edge “5 Four Six”
Hollands Gruppen mit Steve Coleman haben auf viele Musiker einen enormen Einfluss ausgeübt. Die ganze Scheibe ist toll, aber Kenny Wheelers glorreicher Choral “5 Four Six”, mit der leidenschaftlichen Trompete über Marvin “Smitty” Smiths Marschtrommelei, bleibt mein Lieblingsstück.
Gavin Bryars, After the Requiem, “After the Requiem”
Bryars begann eigentlich als experimenteller Musiker, entwickelte sich aber zu einem Komponisten von wunderschönen kontemplativen Harmonien. "After The Requiem" ist eine Meditation für Streicher und
Keith Jarrett, Dmitri Shostakovich: 24 Preludes and Fugues Op. 87 "Prelude and Fugue 15 in D flat"
Jarretts Beherrschung des europäischen Klassik-Repertoires ist das Grundgerüst, auf dem seine Fähigkeit beruht, abendfüllende Konzerte mit Klavier-Solo-Improvisationen zu geben. Jarrett hat einige Bach-Aufnahmen für ECM eingespielt, wogegen man auch nichts einwenden kann. Aber das Schostakowitsch-Programm erlangte echte Berühmtheit und wird sich wahrscheinlich als Jarretts wichtigste klassische Veröffentlichung erweisen. Schostakowitschs Präludien sind immer ein Vergnügen, aber die Fugen können ziemlich akademisch sein. Doch in Jarretts Händen geriet die flinke Des-Fuge zu einem Wunderwerk virtuoser Erfindung.
Ingrid Karlen, Variations “Galina Ustvolskaya: Sonata for Piano No. 3”
Ustvolskaya machte fast schon Außenseiter-Kunst. Ihre dritte Klavier-Sonate beginnt auf besonders fade und instabile Weise, Hindemith an einem schlechten Tag, aber dann, wenn die Reise ihren Verlauf nimmt, merkt man, dass es keinen Ausgang aus dem Labyrinth gibt. Russische Verzweiflung in Extremform.
Joe Maneri, In Full Cry “Tenderly”
Ein Standard könnte eine gute Einführung in Gestaltungsweise von Joe und Mat Maneri sein. John Lockwood und Randy Peterson komplettieren eine wirklich mikrotonale Bluesband. “In Full Cry” ist ein beeindruckendes Dokument einer vitalen Bostoner Szene.
György Kurtág, Marta Kurtág, Kurtág: Játékok “J.S. Bach: Aus tiefer Not schrei ich zu dir, BWV 687”
Ehemann und Ehefrau spielen gemeinsam auf einem Klavier ein glorreiches Arrangement eines berühmten Choral-Präludiums. Perfekte Musik, sehr alt und doch irgendwie immer noch neu. Das digitale Zeitalter erlaubt es uns, eine Playlist mit den Kurtág/Bach-Arrangements zu erstellen. Doch darüber sollte man nicht die wunderbaren Original-Kurtág-Kompositionen ignorieren, die auch auf mehreren ECM-Alben zu hören sind.
Paul Bley, Gary Peacock, Paul Motian, Not Two, Not One. “Not Zero: In Three Parts”
35 Jahre nach “Paul Bley with Gary Peacock” nahm das Trio mit Motian ein neues Album auf. Es ist nicht wirklich ausgereifter, und ganz sicher nicht besser. Wahrscheinlich ist es einfach widerspenstiger. Vor allem der Pianist war wesentlich eigensinniger geworden; es war der Schlagzeuger, der zu einem der Musiker der damaligen Zeit herangewachsen war. Dennoch haben diese Musiker diesen Stil erschaffen und werden mit ihm auf ewig identifiziert werden. Es ist eine Kostbarkeit, ein letztes gut produziertes Dokument der Chemie zu haben, die unbestreitbar zwischen ihnen herrschte.
Andras Schiff, Peter Serkin Mozart/Reger/Busoni: Music for Two Pianos, "Mozart Sonata for 2 pianos in D, Allegro con Spirito."
Mozart mag von Jazzfreaks nicht immer als spannender Komponist angesehen werden, aber die für zwei Klaviere komponierte Sonate in D-Dur ist ein charismatisches kontrapunktisches Meisterwerk, das allen zugänglich sein sollte. Ich habe keine bessere Darbietung gehört als diese liebevolle Traversale, bei der um jede Ecke mit Anmut und Inbrunst gebogen wird.
Alexei Lubimov/Keller Quartet, Alfred Schnittke/Dmitri Shostakovich: Lento “Schnittke Piano Quintet, Moderato”
Lubimov ist ein großer Virtuose mit eigenwilligem Geschmack. Unter seinen zahlreichen wunderbaren CDs für ECM findet man das atemberaubende tragisch-komische “Schnittke Piano Quintet” mit dem Keller-Quartett. Die ersten Klavierphrasen sind vielleicht nicht allzu weit von Paul Bley entfernt…
Art Ensemble of Chicago, Tribute to Lester “As Clear as the Sun”
Leider war das gefeierte Ensemble hier (durch Joseph Jarmans vorübergehenden Ausstieg und den Tod von Lester Bowie) zum Trio - bestehend aus Roscoe Mitchell, Malachi Favors Maghostut und Don Moye - geschrumpft. Es ist trotzdem noch ein vitales Ensemble, und “As Clear As The Sun” ist ein perfektes Beispiel für die irrsinnige Zirkularatmung, die Mitchell über Jahre hinweg perfektioniert hatte.
Sylvie Courvoisier, Abaton “Ianicum” Mark Feldman, Erik Friedlander
Ein provokantes Zwei-CD-Set, das eine CD mit Courvoisier-Kompositionen und eine CD mit Kollektivimprovisationen bietet. Improvisierte Musik nähert sich immer mehr einem vollständig notierten modernistischen Ethos an, und dieses Set war ein gutes Zeichen für diese Entwicklung. Die Harmonien in “Ianicum” sind bezaubernd.
Valentin Silvestrov/SWR Stuttgart Radio Symphony/Andrey Boreyko, Symphony No. 6 “3. Adagietto”
Der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov wurde von Eicher gebührend ins rechte Licht gerückt. Wie Schnittke rechnet Silvestrov direkt mit der Vergangenheit ab und bedient sich dabei einer harmonischen Einfühlsamkeit, die in höchst osteuropäischer Manier das Offensichtliche mit dem Dunstigen zu verbinden versteht. Eine buchstäbliche Antwort auf das berühmte Mahler-Adagietto scheint unwahrscheinlich, aber Silvestrov greift tief und erschafft Musik, die wie keine andere endet.
Keith Jarrett Radiance “Part 1”
Von Jarretts Solokonzerten gibt es auf ECM Stunden um Stunden. Einiges davon ist übertrieben, zumindest in den Augen von Jazzkollegen, von denen viele der Gospel-Vamps und Minimalharmonien überdrüssig geworden sind, die noch aus der Zeit um 1975 stammen, als sein “Köln Concert” zu einem Bestseller wurde. Das 2002 mitgeschnittene Album “Radiance” war eine Überraschung und bot atonale Fantasien, mit denen sich ein ernsthafter Zuhörer auseinandersetzen konnte. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass ich die CD aus einer Laune heraus gekauft habe, nach Hause ging, sie einlegte und dann zu mir selbst sagte: “Nu ja… er ist immer noch einer der größten aller Zeiten.”
Till Fellner/ Kent Nagano/Orchestre Symphonique de Montreal, Beethoven Fourth Piano Concerto “1. Allegro Moderato”
Es ist eine Sache, Marion Brown und eine Gruppe New Yorker Improvisierer mit rasselnden kleinen Instrumenten zu produzieren, und eine vollkommen andere Geschichte, ein Projekt mit sinfonischen Beethoven-Aufnahmen zu leiten, das auf dem umkämpften Klassikmarkt konkurrenzfähig sein soll. Dazwischen liegen Welten. Wie Lubimov und Schiff ist Fellners sauberer und sondierender Stil bei ECM auf offene Ohren gestoßen. Das Orchester unter der Leitung von Nagano ist schlank und wendig und bietet eine Art kammermusikalische Annäherung an das vielleicht größte aller Beethoven-Konzerte.
Sofia Gubaidulina, Canticle of the Sun “The Lyre of Orpheus”
Gidon Kremer und das Lockenhaus-Festival unterhalten eine produktive Beziehung zu ECM. Gubaidulinas lebendiges Opus “The Lyre of Orpheus”, das sie 2006 mit 74 Jahren komponierte, erweist sich als eine Art Kammerkonzert für Kremer. Das Streichorchester und ein Perkussionsarsenal umgeben den charakteristischen Klang des Geigers. Es ist eine atonale Landschaft, aber der narrative Faden ist klar und leitet zu einen verheerenden Höhepunkt hin.
Kim Kashkashian/Lera Auerbach’s Arcanum “1. Advenio”
Kashkashians ECM-Recitals haben dazu beigetragen, sie als eine der bedeutendsten Bratscherinnen unserer Zeit zu etablieren. Obwohl "Arcanum" im Grunde ein modernistisches und abstraktes Stück ist, zeigt es doch, dass es noch viel zu tun gibt, wenn ein Komponist von Auerbachs Subtilität sich die alten Kräfte der Tonalität zunutze macht. Auerbach ist auch ein Bombenpianist.
Miranda Cuckson/Blair McMillen, Béla Bartók/Alfred Schnittke/Witold Lutosławski, “Lutosławski, Partita 3. Largo”
Es ist für Eicher vergleichsweise ungewöhnlich, klassische Musiker aus New York mit Standardrepertoire aufzunehmen, aber es gibt eigentlich keinen Grund, dies nicht zu tun: Cuckson und McMillen gehören beide zur Spitzengruppe der Freelancer dieser Stadt und sind Musiker, die scheinbar alles spielen können. Die Originalinstrumentierung von Lutoslawskis “Partita” trägt dazu bei, Bartóksche Affinitäten in den rhythmischen Abschnitten und vielleicht sogar einen Hauch von amerikanischem Blues im “Largo” zu enthüllen.
Gavin Bryars, The Fifth Century “Eternity is a Mysterious Absence of Times and Ages”
Der ganze Zyklus der Chorgesänge von “The Fifth Century” ist schön, aber eines der herausragenden Stücke ist “Eternity is a Mysterious Absence of Times and Ages”, das einfach nur im Schwebezustand zu verharren scheint. Die Stimmen und Hörner verschmelzen miteinander und bewegen sich unmerklich durch die Leere. Kaum zu glauben, dass Saxophone diese nebligen Klänge erzeugen, sie scheinen aus Mutter Erde selbst aufzusteigen. Vor ein paar Wochen erst haben Donald Nally, das PRISM Quartett und The Crossing für dieses Album den Grammy für die “Beste Chordarbietung” gewonnen.
Leicht außer der Reihe noch zwei ECM-Veröffentlichungen, in die ich selbst involviert war:
Masabumi Kikuchi Black Orpheus “Pt. 1”
Masabumi war ein echtes Original, ein Spitzbube/Genie/Künstler des 20. Jahrhunderts, der zurückgezogen und hartnäckig an seinem größten Werk arbeitete. Ich hatte die Ehre, einen Begleitext zu dieser posthumen Veröffentlichung zu schreiben, die als sein Epitaph betrachtet werden könnte.
Billy Hart, All Our Reasons, “Nostalgia for the Impossible”
Eine Zeit lang beschäftigte sich Eicher nicht so sehr mit Jazz aus New York. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich das drastisch geändert, mit wichtigen Veröffentlichungen von vielen Freunden und Kollegen: Tim Berne, Judith Berkson, Theo Bleckmann, Mike Formanek, Anat Fort, Vijay Iyer, Aaron Parks, Chris Potter, Craig Taborn, Mark Turner, David Virelles und anderen.
Das Quartett von Billy Hart begann als ein ziemlich geradliniges Ensemble, aber eines Tages kam Billy zur Probe und sagte, wir müssten anfangen, “multidirektionale” Musik im Stil des späten Coltrane mit Rashied Ali zu spielen. Das war alles, was ich brauchte, um ein Stück in der Tradition von Paul Bley/Carla BleyAnnette Peacock zu präsentieren: "Nostalgia for the Impossible". Ich glaube nicht, dass wir es jemals besser gespielt haben als im Studio, wo Manfred aufmerksam zuhörte.