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ECM-Streaming-Playlists – “Artist’s Choice #1” von Gitarrist Steve Tibbetts

Steve Tibbetts nimmt seit fast 40 Jahren für ECM auf. Für die erste Ausgabe der ECM-Streaming-Playlist “Artist’s Choice” stellte er Aufnahmen seiner persönlichen Favoriten.
Steve Tibbetts - Artist's Choice
Steve Tibbetts - Artist's Choice
09.02.2018
Prolog: Innenstadt von St. Paul/Minnesota, 1976

Ein 22-jähriger Mann mit einem roten Pferdeschwanz schlurft an einem lausig kalten Dezembernachmittag ziellos einen vereisten Bürgersteig entlang.  Er hat einen Aushilfsjob beim Sender Minnesota Public Radio, und anstatt seine Mittagspause im trostlosen MPR-Speisesaal zu verbringen, beschließt er, die winterlichen Straßen von St. Paul zu durchstreifen. Als er an einem Plattenladen vorbeikommt, fällt ihm etwas im Schaufenster ins Auge. Er zögert, die Hände tief in seine Taschen vergraben, dreht sich um, geht zurück und betritt das Geschäft.

1. Akt: Der Kauf

“Wenn die Musik so klingt wie das Cover aussieht…”, sagte ich zögernd, als ich Terje Rypdals "After The Rain" im Three Acre Woods-Plattenladen in der Innenstadt von St.Paul kaufte. “Das tut sie”, antwortete der mürrische Plattenverkäufer.

Er hatte recht. So begann mein Leben als ECM-Fan. Fünf Jahre später fand ich mich in Oslo/Norwegen wieder. In den Pausen zwischen den Aufnahmen für “Northern Songs” saß ich Manfred Eicher, dem Gründer des Labels, gegenüber und aß ein Ziegenkäse-Sandwich. Ich wollte etwas über die Geschichten hinter dem ECM-Katalog erfahren. Ich überschüttete ihn mit Fragen. Warum gab es zwei verschiedene Backcover zu Bill Connors' erstem Album? “Das ist dir  aufgefallen?”, sagte Manfred ungläubig. (Ich hatte bereits ein Exemplar des Albums verschlissen und zwei weitere verschenkt). Ich fragte ihn nach der Talent-Studio-Aufnahme von Egberto Gismontis erstem Album “Dança Das Cabeças”. Manfred sagte: "Kaum dass Naná und Egberto aus dem Flugzeug gestiegen waren, sagten sie:’Hier in Oslo ist es zu kalt, um zu spielen, zu kalt, zu viel Schnee!’ Manfred rieb seine Hände aneinander. “Zu kalt! Aber am nächsten Tag gingen wir ins Studio und begannen mit den Aufnahmen. Wir haben das Album in drei Tagen aufgenommen und gemischt.”
 
Auf meinen Reisen habe ich überall fanatische Anhänger des Labels getroffen. 1983 wollte ein Manager von Warner unsere Kaffeerechnung begleichen, warf einen Blick auf den Bon und sagte “Red Lanta”. Ich entgegnete: “Wie bitte?” Er antwortete: “Die Rechnung beträgt 10,38 Dollar. Das ist die Katalognummer von Art Landes ‘Red Lanta’. ECM 1038. Kennst du das Album?” Fans des Labels haben es sich zur Aufgabe gemacht, andere Fans auf im Katalog versteckte Juwelen aufmerksam zu machen. 1986 gab ich Leo Kottke eine Kopie von Ralph Towners “Solo Concert”. Und 1987 überreichte ich Manfred Eicher eine Kopie von Leo Kottkes Album “Guitar Music”.

Das Label und die Leute, die dort arbeiten, haben meine Ästethik auf vielerlei Weise geformt: hohe Produktionswerte, detailreiche Aufnahmen und ein von Intelligenz und Würde geprägtes Marketing-Bewusstsein. Natürlich kann man nicht über die Ästhetik des Labels reden, ohne über Manfred Eicher zu sprechen. Ich werde mich aber darauf beschränken zu sagen, dass jeder, der in irgendeiner Form mit dem Label gearbeitet hat, diese drei Gedanken nur allzu gut kennt: 1. Manfred wird dieses Ding sehr gut gefallen. 2. Manfred wird dieses Ding nicht gefallen. 3. Warum kümmert es mich, ob dieses Ding Manfred gefällt oder nicht?

So ist mein musikalisches Bewusstsein im Laufe der Jahre langsam von den Künstlern des Labels, seinem Gründer und seinen Mitarbeitern verzerrt worden.

 
Steve Tibbetts’ Anmerkungen zu seiner Playlist:

Bill Connors

Während meiner College-Zeit suchte ich nach Arbeit in der Musikindustrie, egal was und egal wo. Ich nahm einen Aushilfsjob als Security-Mann bei Schon Productions an, 20 Dollar pro Konzert. An einem Nachmittag im Jahr 1974 arbeitete ich für Schon im St. Paul Civic Center und bereitete mich auf ein Steve-Miller-Konzert vor, als Return to Forever (der Warm-Up-Act) eintrafen. Return to Forever tourten mit ihrem neuen Album “Hymn Of The Seventh Galaxy”. Bill Connors spielte Gitarre, eine schwarze Les Paul. Er war sehr gut. Als der Soundcheck beendet war, kam ein Freund zu mir herüber und sagte hilfreicherweise: “Dein Mund stand offen, während sie spielten.” Ich schloss ihn und sagte: “Na ja, du weißt schon, der Gitarrist.”
 
Ich kaufte Bill Connors’ Album “Theme To The Gaurdian” (ja, der Titel war falsch geschrieben, wahrscheinlich nicht absichtlich) und hörte es mir jeden Morgen, jeden Tag an. Jahre später legte ich das Album für eine Freundin auf, während ich nach einem langen Arbeitstag das Studio aufräumte, und sie sagte: “Wow, Steve, der klingt wie du.”  Nein, ich klinge wie Bill Connors – sein linkshändiges Vibrato, sein Gefühl für Raum, seine flüssige Phrasierung, die Art, wie er auf einer Note verweilt.

In einem der ersten Gespräche, die ich mit Manfred führte, kamen wir auf dieses Album zu sprechen…  Er stellte seine Kaffeetasse ab, machte eine dramatische Pause und sagte: “Das ultimative Akustikgitarren-Album.”

Ralph Towner

Bei einem Mittagessen vor einigen Monaten erlaubte mir Leo Kottke, ein Meister der zwölfsaitigen Gitarre, ein Still-Life-Foto von ihm mit Gegenständen zu machen, die ich zur Hand hatte: ein Exemplar des Buches, das ich ihm als Geschenk mitgebracht hatte, ein sehr frühes, verfehltes ECM-Cover (von Wolfgang Dauners “Output”) und eine Kopie von Ralph Towners neuester CD. Das Buch besaß Leo schon, also nahm er die CD mit.

Jan Garbarek

Als wir die Aufnahme von “Northern Song” in Oslo beendet hatten, rief Manfred (den dort lebenden) Jan Garbarek an und sagte ihm, er möge doch vorbeikommen und sich den fertigen Mix anhören. Er kam. Wir saßen alle in einer Reihe hinter Jan Erik Kongshaug, dem Toningenieur des Talent Studios, und hörten zu. Nach dem Anhören der Aufnahme stapfte ich ins Studio und begann zu packen. Ich war ein wenig enttäuscht. Ich klappte gerade meinen Gitarrenkoffer zu, als Jan zu mir kam und sagte: “Ich denke, es ist eine gute Platte.”  Ich richtete mich auf und lamentierte herum. Er hörte zu und nickte bedächtig. Er wartete, bis ich fertig war, überlegte einen Moment und sagte in seiner tiefen Stimme: “Ich glaube,  dass es keine gute Platte wäre, wenn du nicht so empfinden würdest.” Zwei Jahre später besuchte mich Jan wieder im Studio, um sich die Aufnahmen von “Safe Journey” anzuhören und sagte: “Jetzt hast du zwei.”

John Abercrombie

Vor etwa zehn Jahren wollte ich John mit Charles Lloyd im alten Dakota Jazz Club spielen  sehen. Damals befand sich der Club noch in einem abgelegenen Einkaufszentrum mitten in einer Industriebrache auf halbem Weg zwischen den Städten Minneapolis und St. Paul. Nachts war es ein seltsamer Ort, völlig menschenleer, es gab nur den Club und eine weitläufiges Modelleisenbahn-Ausstellung. Als die Band eine Pause einlegte, stellte ich  mich John vor und er sagte: “Erste Frage… ähm… wo bin ich hier eigentlich gelandet?”

Codona

Als 1981 mein erster ECM-Aufnahmetermin in Oslo bestätigt war, fuhr ich mit dem Fahrrad direkt zu Northern Lights Music auf der University Avenue in St. Paul und kaufte die beiden neuesten ECM-Veröffentlichungen: “Codona II” und Meredith Monks “Dolmen Music”. Die beiden Alben belegten zu Hause abwechselnd den Plattenteller. Irgendwann fragte meine Freundin:"Können wir uns mal etwas anderes anhören?"  Ich antwortete: “Ich werde für dieses Label aufnehmen!”  Sie sagte: “Ja, das ist gut, Glückwunsch, sehr nett. Aber können wir uns nun etwas anderes anhören?”


Meredith Monk

Im Februar 2017 gab Meredith ein Konzert und einen Workshop im College meiner Tochter etwas südlich der Twin Cities.  Wir trafen Meredith hinter der Bühne, und ich machte mit ihr aus, sie am nächsten Tag von ihrem Hotel in Minneapolis zum Walker Art Center zu fahren. Sie wollte den Nachmittag damit verbringen, sich von dem Museumsdirektor Philip Bither durch die Merce-Cunningham-Ausstellung führen zu lassen. Auf dem langen Weg zum Walker waren wir so sehr ins Gespräch vertieft, dass ich auf der Groveland Terrace vom Weg abkam und in einen orangefarbenen Begrenzungskegel rauschte. Irgendwann fragte sie: “Hast du jemals Colin oder Naná getroffen? Don?” Ich sagte: “Nein, niemals, ich wünschte, ich hätte es getan.”  Sie machte eine Pause. Dann sagte sie: “Das war wirklich etwas Besonderes. Was für eine Zeit.” Pause.

Bengt Berger

1981 flogen Marc Anderson und ich für unsere erste ECM-Aufnahme von Minnesota nach Norwegen. Die erste Auslandsreise sollte für jeden traumhaft sein, aber unsere war gleich doppelt surreal, weil der Flug von Minnesota nach Norwegen ungefähr neun Stunden dauert und man genau dort zu landen schien, von wo aus man gestartet ist. In der Spiegelkabinettversion von Minnesota, die wir besuchten, ging die Sonne um 10 Uhr auf und um 15 Uhr unter, und die Schatten auf dem Schnee waren kilometerlang und in der Hotellobby, den Korridoren und Zimmern hingen Gemälde von Edvard Munch. Als wir in den Talent Studios ankamen, war Manfred bereits dort und arbeitete mit Bengt Berger. Bengt hatte am Vortag sein Album “Bitter Funeral Beer” fertiggestellt. Er begrüßte uns und meinte: “Wir haben nur noch eine weitere Bearbeitung für das Album zu erledigen. Ist das okay?” Nun, sicher, ja, natürlich. Er war sehr freundlich, sehr liebenswürdig. Abgesehen davon, dass “Bitter Funeral Beer” gute Musik bietet, war es auch das Album, das beendet wurde, kurz bevor wir mit unserem begannen. Insofern wurde es für mich zu einem nostalgischen Bezugspunkt.

Dino Saluzzi

Manfred rief mich in sein Büro und sagte: “Komm her, hör zu.  Hör dir das an.” Ich ging hinein, setzte mich hin, und wir lauschten einer Probepressung von “Kultrum”. Es kommt selten vor, dass man sich hinsetzt und einfach nur Musik anhört, und noch seltener kommt es vor, ein ganzes Album mit seinem Produzenten anzuhören. Jahre später sah ich Dino, als er sich mit Al Di Meola auf Tournee befand, bei einem Auftritt im Fine Line Music Café in Minneapolis. Ich stellte mich vor, indem ich ihm eine Kopie meines letzten Albums und eine CD von “Kultrum” zum Signieren überreichte. Dino sprach nicht viel Englisch. Er lächelte, legte beide Hände auf sein Herz und verbeugte sich leicht.