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ECM-Jahresrückblick 2021, Teil 1: Zwischen zeitlos und zeitgenössisch

“Uneasy”, das jüngste Album von Vijay Iyer, könnte der Soundtrack des Jahres sein. Angesichts der Pandemie und politischer Turbulenzen verspürt man Besorgnis und Unruhe. In musikalischer Hinsicht war “Uneasy” eines der aufregendsten Alben des Jahres. 
ECM Records
ECM Records
02.12.2021
Joe Lovano Trio Tapestry: Pointillistisch, impressionistisch und unendlich melancholisch
“Trio Tapestry”, das Debütalbum von Saxophonist Joe Lovanos gleichnamigem Trio mit der Pianistin Marilyn Crispell und Schlagzeuger Carmen Castaldi, war eine der am meisten Aufsehen erregenden Neuerscheinungen des Jahres 2019. Auf dem Nachfolgealbum mit dem poetischen Titel “Garden Of Expression” hat das Trio sein musikalisches Konzept – Gerd Filtgen beschrieb es in Fono Forum als “kraftvoll, aber dennoch lyrisch” – auf die nächste Stufe gehoben. Es ist eine Aufnahme, die sich durch intensiven Fokus auszeichnet. “Die drei Musiker erreichen hier eine schier unglaubliche Konzentration des gemeinsamen Ausdrucks, der völlig auf das Wesentlichste zurückgenommen wird”, schrieb Stephan Richter im Jazzpodium. “Und so wirkt auch die Musik des Trios insgesamt: pointilistisch, impressionistisch, zugleich aber auch unendlich melancholisch. Dass dabei die Melancholie durch die Dichte des gemeinsamen künstlerischen Ausdrucks gemildert wird, gibt der Musik dieses Gartens eine selten gehörte Größe.” In Sounds & Books merkte Sebastian Meißner an: “Auf ‘Garden Of Expression’ wagt sich das Trio nun noch weiter aufs offene Feld. Die durch jahrzehntelanges Zusammenspiel entstandene tiefe Verbindung der drei MusikerInnen ermöglicht es ihnen, niemals kopf-, sondern stets ausdrucksgesteuert zu musizieren. […] Den Weg zur maximalen Freiheit in der Musik begeht das Trio mit Zuversicht und in gegenseitiger Achtsamkeit. Dies hier ist musikantisch im ganz ursprünglichen Sinn. Als Paradebeispiel dafür dient das Titelstück, in dem das Spiel der drei Musiker ineinanderzufließen scheint und eins wird. Die Varianz in der Dynamik ist fesselnd. Zum guten Gesamteindruck trägt auch die Akustik des Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano bei, in der diese Aufnahme entstand. Die feinen Nuancen und Details der Musik werden so perfekt in Szene gesetzt.”
Shai Maestro: Wunderbare Balance zwischen fein ausdifferenzierter Klangpoesie und spieltriebgesteuerter Intensität
Wer die steile Karriere von Shai Maestro in den zurückliegenden zehn Jahren verfolgt hat, dem dürfte nicht entgangen sein, dass sich der israelische Pianist im klassischen Trio-Format am wohlsten fühlt. Zunächst schärfte er sein Profil auf vier Alben als Mitglied des Trios des ebenfalls israelischen Bassisten Avishai Cohen, danach auf fünf Alben mit seinem eigenen Trio. Mit letzterem gab er 2018 auf “The Dream Thief” auch seinen Einstand bei ECM. Jetzt hat er für das Label mit “Human” sein zweites Album eingespielt, auf dem er das Trio gelegentlich durch den Trompeter Philip Dizack zum Quartett erweitert. In Rondo schrieb Josef Engels über das neue Album: “Wer fünf Jahre lang Pianist an der Seite des israelischen Bass-Virtuosen Avishai Cohen war, kann so etwas natürlich im Schlaf: Verschachtelte ungerade Metren zum Fliegen bringen, atemberaubende Unisoni in den Raum stellen oder bruchlos zwischen westlicher und nahöstlicher Melodik vermitteln. Genau das ist auch auf dem inzwischen sechsten Album unter eigenem Namen zu vernehmen, dass der israelische Pianist Shai Maestro nach seinem Ausstieg aus Cohens Band veröffentlicht. Aber diesmal ist vieles anders. An erster Stelle wäre die Hinzunahme des US-Trompeters Philip Dizack zu erwähnen, der Maestros Piano-Trio mit dem peruanischen Bassisten Jorge Roeder und dem israelischen Drummer Ofri Nehemya eine neue Dimension verleiht. Dizack spielt sein Horn mit großem Understatement. Oft klingt es wie eine menschliche Stimme. […] Zweifellos Maestros reifste Leistung bislang.” Im Münchner Merkur notierte Reinhold Unger: “Für seine neue CD hat der israelische Pianist Shai Maestro sein Trio um den Trompeter Philip Dizack zum Quartett und damit seine Klangoptionen so subtil wie effektvoll erweitert. Dizack zieht die verschatteten, dunkel modulierten Töne der tieferen Lagen seines Instruments dem schmetternden Blech vor – ein Ansatz, der gut zu Maestros kammermusikalischem Jazz-Verständnis passt. […] Eine knappe Stunde lang findet dieses Quartett eine wunderbare Balance zwischen fein ausdifferenzierter Klangpoesie und spieltriebgesteuerter Intensität. Intellekt und Sinnlichkeit bedingen einander, Virtuosität ist nie Selbstzweck, sondern stets Transportmittel für Emotionen. Berührende, bewegende und – ja, humane Musik.”
Jakob Bro Trio: Eine Band, der eine Art alchemistische Magie gelingt
“In dieser Musik gibt es keine Eile, aber eine große Tiefe,” bemerkte Jon Carvell in den London Jazz News, als Jakob Bro 2015 sein erstes ECM-Album “Gefion” präsentierte. Begleitet wurde der dänische Gitarrist seinerzeit von Bassist Thomas Morgan und Schlagzeuger Jon Christensen. Während Morgan auch auf den folgenden drei ECM-Alben Bros als ruhender Pol fungierte, wechselte sich Christensen am Schlagzeug mit Joey Baron ab. Auf “Returnings” stieß 2018 außerdem der Trompeter Palle Mikkelborg, ein Landsmann von Bro, zu der eingespielten Band. Nun überrascht Jakob Bro auf seinem fünften ECM-Album “Uma Elmo” mit einem völlig neuen Trio mit Trompeter Arve Henriksen und Schlagzeuger Jorge Rossy. Angesichts der musikalischen Synergie des Trios, mag man es kaum glauben, dass die drei Musiker bei den Aufnahmesessions für das Album das erste Mal überhaupt zusammengespielt haben. “Das neue Trio des dänischen Gitarristen Jakob Bro ist eine Band, der eine Art alchemistische Magie gelingt”, meinte Peter Rüedi in der Weltwoche. “Im Spätsommer des Corona-Jahrs 2020 traf Bro den norwegischen Trompeter Arve Henriksen und den spanischen Schlagzeuger Jorge Rossy im Auditorium des Radios in Lugano zum allerersten Mal – und es stellte sich auf Anhieb eine bis in Mikroreflexe funktionierende Gruppentelepathie ein, wie wir sie sonst in der improvisierten Musik nur von langjährigen Ensembles kennen. […] Die neun Kompositionen von Jakob Bro, teils neu, teils älter wie der Titel ‘Reconstructing A Dream’ (geschrieben in seiner Zeit mit Paul Motian), reihen sich zu einem eindringlich melodiös-melancholischen 'tenebroso jenseits von Dur und Moll. Die Melodieführung liegt meist bei der Trompete von Henriksen, in der Dynamik differenziert zwischen Flüstern, humanem Parlando und gelegentlich spitzen Schreien; die Gitarre sorgt für die suggestiven Hallräume und mischt sich eher selten mit traditionellen Pizzicati ein. Drummer Rossy ist ein sehr konzentrierter, sparsamer Statthalter Paul Motians (oder ein Schlagzeugbruder von Bros früherem Partner Jon Christensen), ein kreativer, inspirierender perkussiver Raumkünstler. […] Sehr bewegend.” Und in den Nürnberger Nachrichten urteilte Wolf Ebersberger: “Das ist an zarter, nachdenklicher, unterschwellig verunsichernder Schönheit kaum zu toppen: Bro (mit E-Gitarre) und Jorge Rossy (Drums) grundieren flirrend und oft sehr leise, darüber singt dann der Trompeter Arve Henriksen – der eigentliche Star dieser Aufnahme – seine intimen Lieder.”
Nik Bärtsch: Tiefe Grooves und prägnante Melodien
Unter dem Titel “Hishiryo” hatte der Schweizer Pianist und Komponist Nik Bärtsch 2002 auf seinem eigenen Label Ronin Rhythm Records sein bislang einziges Soloalbum vorgelegt. Ansonsten hat er seine “Ritual Groove Music” stets im Zusammenspiel mit anderen Musikern präsentiert. Entweder – wie auf den ECM-Alben “Stoa” (2006), “Holon” (2008), “Lyria” (2010), “Nik Bärtschs Ronin Live” (2012) und “Awase” (2018) – mit seiner bestens eingespielten Zen-Funk-Band Ronin. Oder – wie 2016 auf “Continuum” – mit der Band Mobile. Für die Aufnahme von “Entendre” begab sich der Pianist unter Manfred Eichers Regie erstmals nach fast zwanzig Jahren wieder ohne Begleiter ins Studio. “Wie man als Pianist Spannung erzeugt und die Hörer fesselt, weiß Nik Bärtsch zur allzu genau”, schrieb Sebastian Meißner auf Sounds & Books. “Ob solo, mit dem Ensemble Ronin oder mit Mobile: Der Schweizer langweilt nie und geht seit jeher seinen eigenen Weg. Das beweist er auch auf ‘Entendre’, seinem ersten Solo-Output nach fast 20 Jahren. Die insgesamt sechs wie gewohnt durchnummerierten Kompositionen mit einer Dauer zwischen knapp fünf und 14 Minuten sind ein eindrucksvolles Zeugnis für die Kreativität des 50-Jährigen. […] Bärtsch manövriert seinen Flügel in tiefe Grooves und prägnante Melodien. Nie aber in eine Sackgasse. Die Wendungen, die die Stücke nehmen, sind kreativ und überraschend und folgen der Intuition. Mal sind es Rhythmuswechel, mal Chord-Changes, mal Spielpausen, die den Ausweg bilden.” Im Rolling Stone meinte wiederum Markus Schneider: “Anders als in den kollektiv ineinandergeschobenen und verfugten Mustern seiner Stammformation Ronin tritt hier der hypnotische Groove und auch die Jazz-improvisatorische Gestalt gegenüber einer zugleich klassisch-musikalisch geöffneteren und freieren Gestaltung in den Hintergrund. Er verbindet dunkel-robustere Figuren mit ganz hell und leicht geklöppelten Zartheiten, folgt eindringlich warm ziselierten Repetitionen und schroffere Stakkato-Szenen und nutzt den ganzen Flügelkörper für perkussive Effekte oder Koto-artige Saitenklänge. Er löst die Widersprüche von körperlicher Spannung und Meditation, hochkonzentrierter Feinarbeit und klangvoller Stille zu einem seltsam dynamischen Zen-Impressionismus.”
Vijay Iyer: Jedes Stück bildet einen Höhepunkt von insistierender Kraft
Auf “Uneasy”, seinem mittlerweile siebten Album für ECM Records, präsentiert der Pianist Vijay Iyer ein ungemein kraftvolles neues Trio, das er mit zwei weiteren Schlüsselfiguren der kreativen Szene von New York bildet: der Bassistin Linda May Han Oh und dem Schlagzeuger Tyshawn Sorey. Iyer ist dafür bekannt, beständig die musikalischen Formen zu verändern und auf jedem Album neue Möglichkeiten auszureizen. Auf “Uneasy” greift er auf die Geschichte der Musik zurück und treibt sie gleichzeitig weiter voran. Dabei spiegeln sich die politischen und sozialen Turbulenzen, die heute die US-amerikanische Landschaft beherrschen, in seinen musikalischen Kontemplationen wider. “'Uneasy', das im Dezember 2019 entstand, also vor Beginn der Pandemie und noch mitten in der Ära Trump, bündelt den US-amerikanischen Schmerz des frühen 21. Jahrhunderts”, kommentierte Reinhard Köchl auf zeit.de. “Schon das Coverfoto des Albums bringt die ganze Ambivalenz auf den Punkt. Es zeigt die Freiheitsstatue in einer Schwarz-Weiß-Doppelbelichtung des koreanischen Fotografen Woong Chul An; Lady Liberty steht verschwommen und grau da, scheinbar gefangen in einem Wolkenteppich, der direkt über dem Meer hängt. Das, was die Vereinigten Staaten einst von anderen Ländern abhob, scheint in weite Ferne gerückt, aber noch nicht ganz verblasst […] Drei Verschwörer auf ihrem abenteuerlichen Weg durch musikalische Labyrinthe, steinige Felswände, Blumengärten, trockene Wüsten und Galaxien: Sie erzählen moderne Märchen in Noten mit einem harten realistischen Hintergrund.” In Jazzthetik schrieb Hans-Jürgen Schaal: “Jedes Stück auf ‘Uneasy’ bildet einen Höhepunkt von insistierender Kraft. Diese Musik hat Feuer und Spannung, aber immer wieder auch eine vibrierende, fast rockige Erdigkeit, die an Randy Weston oder Abdullah Ibrahim denken lässt.” Und in Stereoplay meinte Wolf Kampmann: “Ein ungewöhnlicher Albumtitel, zumal die Musik auf Vijay Iyers neuem Trio-Album alles andere als unangenehm ist. Mit dem Motto hebt der Pianist auf die unsicheren gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen die CD entstanden ist. Diese Fragilität überträgt sich auf die sehr unterschiedlichen Songs […] Obgleich der Pianist, die Bassistin und der Drummer einander über viele Jahre vertraut sind, gelingt es dem Trio, das Gefühl eines spontanen Treffens zu vermitteln, bei dem alles auf den Tisch kommt, was dort genau in diesem Augenblick hingehört.”
Thomas Strønen: Musik von glitzernder Fließfähigkeit
Der norwegische Schlagzeuger Thomas Strønen gilt als ein Meister der leisen, fein nuancierten Töne und Grooves. Das hat er auf den beiden ECM-Alben mit seinem Ensemble Time Is A Blind Guide schon hinlänglich zeigen können. Auf seinem dritten ECM-Album “Bayou”, eingespielt in einem besonders intimen Trio-Rahmen mit der japanischen Pianistin Ayumi Tanaka sowie der Klarinettistin und Vokalistin Marthe Lea, kommt dies nun sogar noch besser zur Geltung. “Gerade durch die langen Pausen, das schweigsame Atmen und das meditative Innehalten der Protagonisten entwickeln die zehn Stücke eine Art von Schwerelosigkeit, die gefangen nehmen kann”, meinte Reinhard Köchl in Jazzthing. “Strønen, Tanaka und Lea, die sich an der Königlichen Musikakademie in Oslo kennenlernten, agieren bis auf ‘Bayou’, das auf einem norwegischen Volkslied basiert, völlig frei und ohne Vorgaben in einem zarten Nebel aus zeitgenössischer klassischer Musik, Volksmusik und Jazz. Die Improvisationen tragen Namen von Wasserstraßen, Flüssen und Seen. Eine wunderbare Metapher für die glitzernde Fließfähigkeit der Musik.” Eine ähnliche Beobachtung machte auch Harry Schmidt in Jazzthetik: “Was inflationär behauptet, aber selten bis nie eingelöst wird, hier trifft es tatsächlich zu: Strønen, Tanaka und Lea musizieren absolut auf Augenhöhe. Zeitgenössische klassische Musik, Folk und skandinavischer Jazz fließen zwar hörbar in ihre Musik ein, doch was daraus entsteht, lässt sich weder auf eine der Inspirationsquellen reduzieren noch auf eine Mischung daraus. Vieles ist Improvisation im besten Sinne: Nur wenn die Bereitschaft und Offenheit besteht, sich komplett aufeinander einzulassen, können spektral-fluide Klangprismen wie in ‘Duryea’ entstehen. Nicht von ungefähr tragen die Nummern Wasserwege, Seen und Flüsse im Titel: Die komplexen Vorgänge der Strömungsdynamik erfassen den fließenden Charakter dieser Musik besser als die starren Gesetzmäßigkeiten regelmäßiger Kristallbildung.”
Cymin Samawatie & Ketan Bhatti with Trickster Orchestra: Im Teilchenbeschleuniger durcheinandergewirbelte Klangidentitäten
Die iranisch-deutsche Sängerin Cymin Samawatie und den indisch-deutschen Schlagzeuger und Perkussionisten Ketan Bhatti kannte man bislang vor allem durch ihre gemeinsame Arbeit in der Band Cyminology. Nun haben sie ihre poetische Musiksprache mit dem Trickster Orchestra in ein größeres Format übertragen. Unter ihrer künstlerischen Leitung interpretiert das 23-köpfige Orchester ihre charakterische Mischung von transkultureller zeitgenössischer Musik. Cymin lässt sich von alter wie moderner Lyrik inspirieren, von Psalmen ebenso wie von Texten der Sufi-Dichter Rumi und Hafis. Dabei singt sie nicht nur in ihrer Muttersprache Farsi, sondern auch auf Hebräisch, Türkisch und Arabisch. Mit der Erweiterung der Instrumentierung geht hier auch eine Erweiterung der Dynamik, Texturen und Farben einher. “Gleich mehrere Klangidentitäten unterschiedlicher Herkunft werden auf diesem Album wie in einem Teilchenbeschleuniger durcheinandergewirbelt”, notierte Sinem Kiliç in der Zeit. “Klänge der türkischen Zither Kanun oder der chinesischen Mundorgel Sheng treffen auf spätromantische Streicherarrangements und elektronische Sounds mit Jazz-Grooves. Als säße man in einem lauschigen Club im New Yorker Greenwich Village, bewegen sich die tönenden Elementarteilchen hier gleichberechtigt nebeneinander in ihren Umlaufbahnen, improvisieren, suchen und finden sich, um sich wieder zu verlieren. Ganz so wie bei der archetypischen Trickster-Figur werden alte Ordnungen gestört und neue Klangwelten geschaffen, die keine blumigen Metaphern oder Exotismen mehr brauchen. Traditionelle Spielweisen werden ebenso aufgekündigt wie die Ordnung der Instrumente, und so erzeugt das 23-köpfige Ensemble in besonders funkelnden Momenten wie bei 'Kords Kontinuum oder dem türkischsprachigen ‘Keşke’ eine Beschwörungskraft, die ihresgleichen sucht.” In der Neuen Zeitschrift für Musik schrieb Dietrich Heißenbüttel: “Letztlich sind es die Kompositionen von Bhatti und Samawatie, die dem Ganzen eine unverwechselbare Handschrift verleihen. Wer die komplexen, eigenwilligen Rhythmen Bhattes einmal gehört hat, wird sie auf Anhieb wiedererkennen. Samawatie wiederum geht hier weit über das hinaus, was sie mit ihrem Quartett Cyminology vorgelegt hat: Ihr Ausgangspunkt ist das Lied, auch hier teilweise auf Basis der Texte der klassischen persischen Dichter Hafiz und Rumi, aber auch von Psalmen und zeitgenössischer türkischer Lyrik. […] Eigentlich hatte das Orchester 2013 aus Neugier auf musikalische Begegnungen zusammengefunden. Gleichwohl scheint hier ein Modell, ja ein Keim für ein neues Miteinander zu liegen, auch über den musikalischen Bereich hinaus. Ein Umgang mit Vielfalt, der Differenzen nicht nivelliert, sondern auf höchstem Anspruchsniveau zum Harmonieren bringt.”
Sinikka Langeland: Farbenreiche, raumfüllende Klangbilder
Auf ihren vorausgegangenen fünf Alben für ECM Records konnte man Sinikka Langeland stets in Gesellschaft von jazzaffinen Musikern wie dem Trompeter Arve Henriksen, Saxophonist Trygve Seim, Bassist Anders Jormin und Schlagzeuger Markku Ounaskari hören oder auch schon mal mit dem Trio Mediæval. Nun hat die norwegische Folksängerin, Komponistin und Kantelespielerin mit “Wolf Rune” ihr erstes reines Soloalbum bei ECM vorgelegt. Die Aufnahme wirft ein neues Licht auf Langelands facettenreiches Werk. Nur wenige Künstler verkörpern den Geist eines Ortes so entschlossen wie Sinikka. Ihre Lieder, Kompositionen, Gedichtvertonungen und Arrangements spiegeln auf unterschiedliche Weise die Geschichten und Mysterien von Finnskogen wider, Norwegens “finnischem Wald”, der seit langem sowohl ihre Heimat als auch ihre Inspirationsquelle ist. “Auf ihrer 39-saitigen, sich über fünfeinhalb Oktaven erstreckenden Konzert-Kantele lässt sie farbenreiche, raumfüllende Klangbilder entstehen, während sie sich auf der fünfsaitigen Kantele mit zwei kurzen 'Kantele Prayers im äußerst reduzierten Musizieren übt”, bemerkte Peter Füssl in Kultur. “Dazwischen liegt eine fünzehnsaitige Variante dieser sehr ursprünglich klingenden finnischen Kastenzither – in einzelnen Stücken kombiniert sie auch die unterschiedlichen Instrumente miteinander. In die üblichen stilistischen Schubladen passen Sinikka Langelands zwischen Archaischem, Folklore, Jazz und Experimentellem liegenden Klangwelten ohnehin längst nicht mehr hinein. Auf ‘When I Was The Forest’ erweitert sie mit einem E-Bogen zusätzlich das Farbspektrum zur Untermalung eines von Meister Eckhart inspirierten Textes. Der musikalische Output korrespondiert auf perfekte Weise mit ihren lyrischen Vorlieben, die sich auf diesem Album vom Spätmittelalter bis zu den zeitgenössischen norwegischen Dichtern Olav H. Hauge und Jon Fosse erstrecken. Gesanglich ist sie mit ihrer ausdrucksstarken Stimme tief in der nordischen Tradition verwurzelt, der Titelsong geht auf ein altes Runenlied zurück. Sinikka Langeland pur – ein faszinierendes Erlebnis!” In Jazzthetik schrieb Guido Diesing: “In der Beschränkung auf Gesang und Kantele entwickelt die Aufnahme im Zusammenspiel der manchmal etwas spröden Stimme und der kargen Instrumentierung einen ganz eigenen meditativen und spirituellen Reiz – eine Andacht zu Ehren der Natur. Die Klänge wurzeln in archaischen Vorzeiten, weisen aber gleichzeitig mit experimentellen Elementen in die Zukunft. […] Nebenbei ist das Album ein eindrucksvolles Plädoyer für die Vielseitigkeit der Kantele.”
Stephan Micus: Musik, die es nie zuvor gegeben hat und so wohl kaum wieder geben wird
Es dürfte wohl keinen anderen Musiker geben, der der Bezeichnung “Multiinstrumentalist” in seiner inzwischen 45 Jahre umspannenden Karriere so gerecht geworden ist, wie Stephan Micus. Doch selbst in seiner umfangreichen Diskographie hat der gebürtige Stuttgarter nur selten eine solche Bandbreite an Instrumenten eingesetzt wie auf “Winters End”, seinem 24. Soloalbum für ECM. Es sind elf an der Zahl aus zehn Ländern: Mosambik, Gambia, Zentralafrika, Ägypten, Japan, Bali, Xinjiang, Tibet, Peru und den USA. Vor allem aber befinden sich darunter zwei Instrumente, die er noch nie zuvor für eine Aufnahme benutzt hat: Das eine ist das mosambikanische Chikulo, ein Xylophon mit Holzstäben und darunter hängenden Kalebassen als Resonatoren, und das andere eine Zungentrommel, die er vor 40 Jahren nach Vorbildern aus Zentralafrika selbst gebaut hat. “Stephan Micus ist ein Unikat”, stellt Sebastian Meißner in Sounds & Books fest. “Der 68-jährige Multi-Instrumentalist sammelt Instrumente aus aller Welt und eignet sich durch ihr Spiel immer neue Ausdrucksweisen an. Dazu erfindet er Sprache und Strukturen und schafft so Musik, die es nur bei ihm zu hören gibt. Die Suche nach dem Unbekannten ist die Konstante im Werk des gebürtigen Stuttgarters. […]  Vor allem aber bilden das Chikulo aus Mosambik – ein Xylophon mit Holztasten – und eine Zungentrommel im zentralafrikanischen Stil die Eckpfeiler des hier vertretenen Sounds, der erdig, natürlich und ungeschliffen klingt. Micus nutzt die Klangfarben dieser Instrumente, die wohl noch nie zuvor in dieser Kombination zusammen gespielt wurden, um neue emotionale Landschaften zu schaffen. […] Die Magie dieser Platte erschließt sich jedoch am besten im Zusammenspiel aller Tracks. Dies ist Musik, die es nie zuvor gegeben hat und so wohl kaum wieder geben wird. Ein Unikat eben, wie ihr Schöpfer.” In Stereoplay schrieb Ralf Dombrowski: “In seinem Studio auf Mallorca hat er über Wochen und Monate hinweg einzelne Spuren aufgenommen und zusammengesetzt, choralartige Parts dazu gesungen und damit ein Klangpanorama erstellt, das vieles andeutet und ebenso viel offenlässt. So entstehen Räume, Transparenzen, multiethnische Kaleidoskope, die einerseits klar auf Micus als Urheber verweisen, ihn aber ebenso selbstverständlich gestalterisch hinter sich lassen. Die Kombination aus sorgfältiger, umsichtiger Aufnahme und gelassener Hingabe an die Feinheit der Instrumentalklänge macht ‘Winters End’ zu einem Album der Entdeckerfreude, beim Spielen und beim Hören.”
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