ECM Sounds | News | ECM-Jahresrückblick 2020 - Teil 1 – Klangoasen in aufwühlenden Zeiten

ECM-Jahresrückblick 2020 – Teil 1 – Klangoasen in aufwühlenden Zeiten

Als Carla Bley im Februar 2020 ihr jüngstes Trio-Album “Life Goes On” bei ECM Records herausbrachte, konnte noch niemand ahnen, wie sehr sich das Leben im Laufe des Jahres für viele komplizieren würde
ECM Records
ECM Records
04.12.2020
Carla Bley, Steve Swallow & Andy Sheppard: “Suiten von geradezu betörender Eleganz”
Das Leben von Carla Bleys weltweit gefeiertem Trio begann vor etwas mehr als 25 Jahren, als sie gemeinsam mit dem Bassisten Steve Swallow und dem Saxophonisten Andy Sheppard das Album “Songs With Legs” einspielte. Danach konnte man sie in dieser Konstellation zwar noch gelegentlich live erwischen, aber ins Studio ging das Trio erst wieder 2013, um mit “Trios” eine neue Serie von Alben zu beginnen, die 2016 mit “Andando El Tiempo” fortgesetzt wurde. Nun hat die Formation mit “Life Goes On” ihr neuestes Album vorgelegt, auf dem Carla Bley drei wunderbar humorvolle Suiten aus ihrer einzigartigen Feder präsentiert. In Jazzthing beschrieb Reinhard Köchl diese Suiten mit den Attributen “augenzwinkernd, voller charmantem Zynismus, farbig und nachdenklich”, um dann ins Detail zu gehen: “Vor allem ‘Life Goes On’ mit seinem melancholisch-bluesigen Touch, der langsam in Richtung Hoffnung dreht, verrät einiges über ihren damaligen Seelenzustand. Ein namenloser amerikanischer Präsident und seine Fantasien beim Betreten des Oval Office stehen im witzigen ‘Beautiful Telephones’ Pate, während die drei mit ‘Copycats’ ein famoses Hohelied auf das perfekte Call-and-Response anstimmen. Mit fast 84 liefert ‘das monströseste Chamäleon, das der Jazz kennt’ (FAZ), immer noch Musik wie aus einer Schatztruhe. Weil die Band weiterspielt, egal, was kommen mag.” Im Südwestrundfunk meinte Georg Waßmuth: “Mit ‘Life Goes On’ zeigt das Carla Bley Trio eine Meisterschaft, die man mit einem Wort auf den Punkt bringen kann: aussparen! All das, was ein normales Trio an Schleifen und Girlanden braucht, um seine Musik aufzuhübschen, lassen die drei ganz einfach weg. […] Eine Musik, die fast immer einfach klingt, aber alles andere als einfach ist. Im Trio mit Steve Swallow und Andy Sheppard entfalten ihre Stücke jedenfalls eine geradezu betörende Eleganz.”
Oded Tzur:  “Debütalbum mit einer ganz speziellen Note”
Mit dem in Tel Aviv geborenen, heute in New York lebenden Tenorsaxophonisten Oded Tzur hat sich ein neuer Künstler zu ECMs imposanter israelischer Jazzfraktion gesellt. Was für ein beeindruckend origineller Instrumentalist und musikalischer Geschichtenerzähler er ist, beweist er mit seinem internationalen Quartett (Pianist Nitai Hershkovits ist ein Landsmann, Bassist Petros Klampanis Grieche und Drummer Johnathan Blake US-Amerikaner) auf seinem ECM-Debüt “Here Be Dragons”. “Die Noten scheinen wie immer, wenn Manfred Eicher an den Reglern sitzt, zu schweben, scheinbar schwerelos und doch jede am richtigen Platz”, bemerkte Reinhard Köchl in Jazzthing. “Es sind vor allem die Zwischenräume, die Tzur und seine Jungs unaufgeregt freilegen, diese reduzierte Vielfalt, mit der sie sieben Originals und den Elvis-Schmachtfetzen ‘Can’t Help Falling In Love’ von innen zum Leuchten bringen. Dass Oded Tzur den indischen Bansurflöten-Meister Hariprasad Chaurasia bis ins Detail studiert hat, verleiht dem Sound dieses Albums eine ganz spezielle Note.” Im Portal Sounds And Books schrieb Sebastian Meißner: “Sein Faible für Tradition verbindet der Saxofonist mit einer jugendlichen Spielfreude und einer musikalischen Offenheit, die außergewöhnlich ist. Vor allem aber ist es seine Gabe, mit seinem Instrument Geschichten zu erzählen, Stimmungen zu erzeugen, die ihn aus der Masse neuer Saxofonisten weit herausstechen lässt. Von den insgesamt acht Tracks transportiert jeder eine eigene Atmosphäre. Besonders imposant sind das Titelstück, das warmweiche ’20 Years' und die Interpretation der Elvis-Nummer ‘Can’t Help Falling In Love With You’ am Albumende. […] Zusammen kreiert das Quartett eine Musik, die still ist und doch kraftvoll. Vor allem aber ist sie einzigartig.” Ulrich Steinmetzger beobachtete in der Badischen Zeitung: “Bei jedem Hören wirkt das neu, weil man staunt, welche Finten und Finessen dem nur scheinbar Unspektakulären innewohnen können.”
Wolfgang Muthspiel, Scott Colley & Brian Blade: “Spagat zwischen bittersüß und verspielt”
Auf “Angular Blues” ist der österreichische Gitarrist Wolfgang Muthspiel nach zwei umjubelten Quintett-Alben zum Trio-Format seines 2014 erschienenen ECM-Debüts “Driftwood” zurückgekehrt. Wie damals beim ersten ECM-Album sitzt auf “Angular Blues” wieder Muthspiels langjähriger Mitstreiter Brian Blade am Schlagzeug. Für den ursprünglichen Trio-Bassisten Larry Grenadier (der auch auf den beiden Quintett-Alben mitwirkte) ist nun aber Scott Colley hinzugekommen, der dem Trio mit seinem besonders erdigen Klang eine etwas andere Dynamik verleiht. Während Muthspiel bei drei Nummern akustische Gitarre spielt, ist er bei den restlichen sechs Titeln auf der elektrischen Gitarre zu hören. Neben für ihn typischen, melodischen Eigenkompositionen interpretiert Muthspiel erstmals auf einem seiner ECM-Alben auch zwei Jazzstandards. “Es ist ein Genuss, einem Trio wie diesem zuzuhören”, befand Ralf Dombrowski in Stereoplay. “Der Gitarrist Wolfgang Muthspiel, der Bassist Scott Colley und der Schlagzeuger Brian Blade gehören nicht nur zu den Weltmeistern ihres Fachs, sondern kennen sich bereits so lange, dass ein Album wie ‘Angular Blues’ klingt, als hätten sich drei Freunde einfach zum intellektuell kammerjazzenden Stelldichein getroffen. Natürlich steckt reichlich Vorbereitung dahinter, bis hin zum perfekt im Tokioer Studio Dede austarierten Sound, dessen Durchsichtigkeit bei gleichzeitiger Präsenz vorbildlich klingt.” Im Portal Kultkomplott schrieb Jörg Konrad: “Ein Album, das den wunderbaren Spagat zwischen melancholisch Bittersüßem und konzentriert bodenständiger Verspieltheit beherrscht. Egal ob er sich dabei der subtilen Stimmungslage seiner akustischen Gitarre widmet, oder, wie im zweiten Teil des Albums, auf seinem elektrischen Instrument brilliert. Muthspiel verbindet auf seinem Instrument Kraft und Freiheit, Poesie und Ästhetik, Wachheit und Innigkeit. Er gestaltet auf ‘Angular Blues’ erstmals als Leader Standards des Jazz nach ganz individuellen Mustern, macht aus Cole Porters ‘Everything I Love’ und dem Dauerbrenner ‘I’ll Remember April’ eigene Stücke, lässt diese in einem vorurteilsfreien, selbstbewussten und respektvollem Glanz erstrahlen. Dabei immer klar in der Aussage und spannend in der Dramaturgie.” Rolf Thomas befand in Jazzthetik: “Das Album ist eine seltene Sternstunde, die schon jetzt zu den besten Aufnahmen des noch jungen Jahres zählt.”
Avishai Cohen’s Big Vicious: “ein Album mit höchstem Suchtpotential”
Mit seiner Band Big Vicious präsentiert der charismatische Trompeter Avishai Cohen auf dem gleichnamigen Album Musik, die sich deutlich von der seiner bisher bei ECM Records veröffentlichten Soloaufnahmen abhebt. Die Band gründete Cohen, kurz nachdem er aus den USA in seine Heimat Israel zurückgegangen war, mit alten Freunden (Gitarrist Uzi Ramirez, Gitarrist/Bassist Yonatan Albalak sowie die Schlagzeuger Aviv Cohen und Ziv Ravitz), um eine von Grund auf neue Musik zu gestalten. Herausgekommen ist eine explosive Mischung aus Elementen von Jazz, Electronica, Ambient-Musik und Psychedelia, aber auch Grooves und Beats aus Rock, Pop, Trip-Hop und mehr. “Bisher kannte und schätzte man ihn als einen sehr ökonomisch und sensibel phrasierenden Vertreter der Miles-Davis-Schule”, schrieb Stefan Hentz in der Zeit, “nun umgibt er sich mit zwei dröhnenden Rockgitarren, von denen eine häufig in das Bassregister herabsteigt, mit elektronischen Klangblasen, mit dem mächtigen Puls von zwei Schlagzeugen, und lässt im Gestus einer Jamsession die Musik seiner Jugend wieder aufleben: Mahavishnu, Beethoven, Massive Attack. Big Vicious ist eine Band alter Freunde, die Cohen wiederbelebte, als er vor acht Jahren von New York zurück nach Tel Aviv zog. Der Trompeter ist in den ausgedehnten Improvisationen des Quintetts der unumstrittene Frontmann, seine Trompete die Sängerin, die dem Ganzen Halt und Kraft gibt.” In Kultur schwelgte Peter Füssl: “Enormer Drive und zarte Melancholie, mitreißende Grooves und effektvolle Überraschungen, ein breites Spektrum an Sound-Farben und Stimmungen (der Leader werkelt auch am Synthie) und ein bestechender Bandsound, auf den Avishai Cohen sein in jeder Lage unter die Haut gehendes Trompetenspiel betten kann – das alles macht ‘Big Vicious’ zu einem Album mit höchstem Suchtpotential. Ist einfach nicht mehr aus dem Player zu kriegen!”
Jon Balke: “solitärer Klangtüftler am Klavier”
Der norwegische Pianist und Keybaoarder Jon Balke ist seit jeher dafür bekannt, in seinen einzigartigen Soloaufnahmen raffiniert die Grenzen zwischen Komposition, Improvisation und Sounddesign zu verwischen. Für sein neues Werk “Discourses” hat er die Methodik weiterentwickelt, die er 2014 auf “Warp” vorgestellt hatte. In den volltönenden Klang seiner Klaviermusik sind “geschichtete Klanglandschaften” aus bearbeitetem Material integriert, die Balke als “verzerrte Spiegelungen und Echos der Welt” beschreibt. Dem aktuellen Projekt liegen einige Gedanken über Sprache und die Vorstellung von Diskurs und Dialog als verblassende Begriffe in einer Zeit konfrontativer Rhetorik zugrunde. “Ruhige, meditative Passagen wechseln sich ab mit zornigen und verzweifelten Ausbrüchen”, schrieb Herbert Heil auf wegotmusic.de. “Jon Balke zeigt auf beeindruckende Weise erneut sein hohes Kreativpotenzial und unterstreicht seinen guten Ruf eine der originellsten Stimmen der kreativen Musik zu sein. Fazit: Jon Balke ist ein solitärer Klangtüftler am Klavier. Dieses außergewöhnliche Album weist ihn als großen Piano-Individualisten aus, der auf jedem Album eine ganz eigene poetische Welt, ja, stets ein neues Universum öffnet.”
Im Deutschlandfunk meinte Michael Engelbrecht: „Die Titel von ‘Discourses’ sind von programmatischer Strenge – ‘The Certainties’, ‘The Suspension’, ‘The Polarities’ usw. – und weisen, Jon Balke zufolge, auf eine immer mehr aus den Fugen geratene politische Rhetorik der Ausgrenzung und Unversöhnlichkeit. Tatsächlich haben die manchmal zögerlichen, eruptiven, Stille überspielenden Intonationen der menschlichen Sprache spezielle Rhythmisierungen des Klavierspiels mit auf den Weg gebracht. Dabei sind diese, von allerlei Geräusch angereicherten, sich gleichsam ‘angreifbar’ machenden, Pianoklänge von jeder epischen Ausschmückung befreit. Dennoch erzeugen all diese prägnanten Stücke, wundersam paradox, einen eleganten, kohärenten Spielfluss." 
Jean-Louis Matinier & Kevin Seddiki: “Duo-Musik von erstaunlicher Klangfülle und großer Variationsbreite”
Bereits seit rund einem Jahrzehnt sind Akkordeonist Jean-Louis Matinier und Gitarrist Kevin Seddiki musikalische Partner. Doch erst jetzt haben mit “Rivages” bei ECM endlich ihr erstes Duo-Album präsentiert. Die Bandbreite des Repertoires erstreckt sich von dem englischen Traditional “Greensleeves” über Gabriel Faurés “Les Berceaux” bis hin zu Kompositionen und Improvisationen der beiden Protagonisten. “Der Titel der 2018 in Lugano entstandenen und nun veröffentlichten Aufnahme, ‘Rivages’, hat Symbolwert”, erläuterte Wolfgang Gratzer im Jazzpodium. “Denn Matinier und Seddiki bewegen sich, stilistisch gesehen, tatsächlich an Ufern, in Übergangsgebieten zwischen komponierter Musik des 19. bzw. 20. Jahrhunderts, Volksmusik-Traditionen und Jazzidiomen. So greifen Notation und Improvisation gleich zu Beginn ineinander, wenn für ‘Schumannsko’ thematische Materialien Robert Schumanns und eine alte bulgarische Melodie verknüpft werden. Oder wenn zwischen weitgehend spontan entstandenen Dialogen in Noten Gabriel Faurés geblättert wird und eine überraschende Lesart von ‘Greensleeves’ entsteht.” Im Bayerischen Rundfunk fragte sich Bernhard Jugel: “Ist das Folklore wegen des tänzerisch hüpfenden 6/8-Takts, Klassik, weil ein Thema von Robert Schumann vorbei schleicht oder Jazz, weil zwischendurch lustvoll improvisiert wird? Die beiden Franzosen Jean-Louis Matinier und Kevin Seddiki lassen sich nicht so leicht in eine bestimmte Schublade stecken. Die 11 Stücke ihres Duo-Albums ‘Rivages’ bieten neben einer erstaunlichen Klangfülle auch eine große Variationsbreite und überzeugen gerade in den eher getragenen Passagen. […] Gut ein Drittel der Stücke auf ‘Rivages’ sind aus gemeinsamen Improvisationen entstanden, andere sind neu arrangierte Eigenkompositionen und ausgewählte Coverversionen, die typisch sind für das breite musikalische Spektrum dieses Duos. Ein Filmmusik-Titel zählt ebenso dazu wie ein rein instrumental interpretiertes Kunstlied des französischen Fin de Siècle-Komponisten Gabriel Fauré oder eine sehr freie Version des englischen Traditionals ‘Greensleeves’. […] ‘Rivages’ heißt Ufer und die Musik auf diesem Album ist tatsächlich ein Aufbruch zu neuen musikalischen Ufern, aber auch ein Wechselbad der Gefühle oder ein Malen mit Tönen – und das alles gleichzeitig. Hoch virtuos und ganz und gar unprätentiös klingt das, und sehr eigenständig.”
Benjamin Moussay: “Pianoerlebnis par excellence”
Nach Aufnahmen als Sideman von Louis Sclavis und Vincent Courtois hat der französische Pianist Benjamin Moussay mit “Promontoire” sein erstes eigenes Album bei ECM vorgelegt, das für ihn zugleich auch das erste Soloklavieralbum seiner Karriere ist. Den improvisatorischen Einfallsreichtum, den er bereits an der Seite von Sclavis unter Beweis stellen konnte, kostet er hier noch viel mehr aus. “Komponierte Vorlagen werden je nach dem Moment unendlich verändert”, erläutert Moussay seine Vorgehensweise. “Wenn ich solo spiele, kenne ich den Ausgangspunkt und das Ziel. Das Mysterium liegt in den Überraschungen während der Reise.” Herausgekommen ist ein nachdenkliches, stimmungsvolles und zutiefst lyrisches Album, das sowohl ein erstaunlich eigenständiges Statement als auch eine vortreffliche Ergänzung der ausgezeichneten Reihe von Klaviersoloalben bei ECM ist. “Ein kleiner Felsgipfel über einem See in den Vogesen, sagt Benjamin Moussay, habe den Namen für das Album geliefert – ein erhöhter Ort in einer Landschaft, der Klarheit und Überblick ermöglicht”, schrieb Hans-Jürgen Linke in der Frankfurter Rundschau. “In der Tat sind Überblick und Klarheit Qualitäten, die diese Klavier-Solo-Einspielung charakterisieren. Die Stücke sind von intensiven emotionalen Farben geprägt, dabei von einer heiklen, girlandenfreien Verknappung. Jedes Stück hat absolut individuelle Gestalt, geprägt von starker Reduktion und einem Formgefühl, das die zeichnerische Seiten, die Landschaftsmalerei in dieser Musik einhegt. […] Komponiertes Material und improvisierte Passagen gehen bei Moussay so organisch ineinander über, dass sich jegliche kategorische Unterscheidung zwischen beiden Modi der Musik-Entstehung erübrigt. Das Album als Ganzes aber macht den Eindruck einer wohldurchdachten Suite von sorgfältig gearbeiteten Miniaturen und dramaturgischen Verläufen, die sich im Überblick zu einem bewegten Ganzen fügen.”
Auf Deutschlandfunk Kultur meinte Matthias Wegner: “Was sich wie ein roter Faden durch die 12 Eigenkompositionen zieht, ist die Reduktion. Diese Reduktion manifestiert sich bei Moussay am stärksten im Titelstück. ‘Promontoire’ ist benannt nach einem kleinen Felsen in den Vogesen. Dieses Titelstück bestand zunächst aus vier Teilen mit verschiedenen Themen, bis es Moussay immer weiter zerlegt und ausgedünnt hat. Wie kann ich das, was ich zu sagen habe, möglichst klar zum Ausdruck bringen? Dieser Ansatz steckt dahinter und charakterisiert sehr gut Moussays Herangehensweise an dieses bemerkenswerte und zugleich wunderschöne Album.”
John Scofield, Steve Swallow & Bill Stewart: “Musik, die niemals alt werden wird”
In den rund 60 Jahren seiner erstaunlichen Karriere machte sich Steve Swallow nicht nur einen Namen als E-Bassist mit einem sofort identifizierbaren, eigenen Stil, sondern auch als gewiefter Komponist mit einer Gabe für einprägsame Melodien und oftmals skurrile Titel. Gitarrist John Scofield hatte als 20-jähriger Berklee-Student das große Glück, von dem dort dozierenden Steve Swallow unter die Fittiche genommen zu werden. Danach haben die beiden bei zahlreichen Gelegenheiten und in den unterschiedlichsten Kontexten immer wieder miteinander gespielt. Auf “Swallow Tales”, Scofields erster Aufnahme als Leader für ECM, hat der Gitarrist dem kompositorischen Talent seines einstigen Förderers endlich Tribut gezollt. Natürlich mit Swallow höchstselbst am E-Bass und Bill Stewart am Schlagzeug. “John Scofield hat Stücke ausgewählt, die Swallows ganzes Schaffen widerspiegeln: ruhige Balladen, tanzende Walzer, quirlige, rockige Nummern”, merkte Johannes Kaiser im Südwestrundfunk an. “Man kann Anklänge an Folkmusic und auch an klassische Musik entdecken. Steve Swallows Songs sind so entspannt, so groovend, so überzeugend lässig interpretiert, dass man sie gerne immer wieder hört. […] John Scofield, Steve Swallow und Bill Stewart haben hier Jazzgeschichte geschrieben. Diese Musik wird nie alt werden.”
In der Schweizer Weltwoche schrieb Peter Rüedi: “So kurz und spontan die Session im Studio war, so lang war die gemeinsame musikalische Erfahrung von Scofield und Swallow, die ihr voranging. So ungemein frisch und inspiriert ist aber auch, was sie ‘nach Art der alten Schule’ aufzeichneten: lebendig und überraschend in der Interaktion, virtuos, aber nie geschwätzig in der solistischen Entfaltung (Scofield ist ein großer Geschichtenerzähler, mit einem zuweilen auch schrägen Sinn für Humor und Witz). Jazz ohne Wennundaber. Nicht von gestern, nicht von morgen. Von heute.”
Marcin Wasilewski Trio feat. Joe Lovano: “Transatlantischer Jazz-Diskurs voller Spannung”
Wenn man wie das Marcin Wasilewski Trio schon seit über 25 Jahren (das Jubiläum wurde 2019 gefeiert) in unveränderter Form zusammenspielt, kann es unglaublich erfrischend und inspirierend sein, sich gelegentlich einen Gast einzuladen. Auf dem Album “Spark Of Life” war dies 2014 der schwedische Tenorsaxophonist Joakim Milder gewesen. Für die Aufnahmen von “Arctic Riff” konnte das dynamische polnische Trio mit Joe Lovano nun einen der ganz großen Namen der US-amerikanischen Jazzszene gewinnen. Das ausgesprochen gut harmonierende Quartett spielte vier neue Stücke des Pianisten und eines des Tenorsaxophonisten ein sowie (in zwei Variationen) Carla Bleys Klassiker “Vashkar” und eine Reihe von kollektiven Improvisationen mit starkem Input aller vier Musiker. “Mit dem kraftvoll-expressiven Tenorsaxophonisten Joe Lovano haben sie einen absoluten Glücksgriff getan”, meinte Peter Füßl in Kultur, “denn der Amerikaner verfügt wie die Polen über ein enorm breites stilistisches Spektrum, kann sich genüsslich an wunderschönen Melodien delektieren, fintenreich mit Ecken und Kanten Versehenem musikalische Brillanz verleihen und in spontanen Improvisationen einen höchst einfallsreichen und wendigen Kommunikationspartner abgeben.” Im Münchner Merkur notierte Reinhold Unger: “Gemeinsam kreieren sie eine ganz auf Klangsensibilität geeichte Improvisationsmusik, die der subtilen Andeutung im Zweifelsfall den Vorzug vor der großen Geste gibt. Der ihrer Musik innewohnenden Kraft lassen die vier nur selten freien Lauf, sie bleibt aber häufig unter der lyrischen Oberfläche spürbar. Das verleiht diesem transatlantischen Jazz-Diskurs eine eigenartige Spannung, die einen umso aufmerksamer darauf achten lässt, wie genau jeder Beteiligte auf die Klangangebote der anderen eingeht. Eine gelungene Balance von Melancholie und gelassener Heiterkeit, die jedes Wiederhören mit der Entdeckung neuer reizvoller Details belohnt.”
Im Norddeutschen Rundfunk wiederum bemerkte Sarah Seidel: „'Arctic Riff' ist das erste gemeinsame Album mit dem amerikanischen Tenorsaxofonisten Joe Lovano – ein Schwergewicht der internationalen Jazzszene und einer der renommiertesten Spieler des amerikanischen Jazz. Er ist hier nicht nur ein Plus, sondern verwebt den Sound seines Saxofons mit dem des Trios zu einem bewegenden, tiefgehenden Klangerlebnis. Ein Aufeinandertreffen zweier Musikergenerationen und -kulturen, das nach mehr verlangt."