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ECM-Jahresrückblick 2015, Teil 1 – Exzellenz in Hülle und Fülle

Zum vierten Mal in Folge wurde Manfred Eicher in der DownBeat Critics Poll zum Produzenten des Jahres und ECM zum Label des Jahres gewählt. Hier erfährt man, warum.
Keith Jarrett
Keith Jarrett© Henry Leutwyler/ECM Records
26.11.2015
Der Jahrgang 2015 dürfte in die Geschichte von ECM Records als einer der besten des Labels eingehen. Selten startete es gleich mit einer solchen Fülle wichtiger Alben (von u.a. Vijay Iyer, Chris Potter und Jack DeJohnette) in ein neues Jahr. 2015 gab es u.a. aufsehenerregende ECM-Debüts von Gitarrist Jakob Bro (“Gefion”), Pianist Tigran Hamasyan (“Luys i Luso”) und Saxophonistin Mette Henriette (“Mette Henriette”), zwei außergewöhnliche Eberhard-Weber-Projekte (“Encore” und “Hommage à Eberhard Weber”), zwei sehr unterschiedliche Alben, die Keith Jarretts 70. Geburtstag markierten (“Creation” und “Samuel Barber/Béla Bartók”), und auch eine bewegende Abschiedsaufnahme von dem Flügelhornisten Kenny Wheeler (“Songs For Quintet”). Kein Wunder also, dass Manfred Eicher 2015 in der DownBeat Critics Poll erneut zum Produzenten des Jahres und ECM wieder zum Label des Jahres gekürt wurde – jeweils zum vierten Mal in Folge! Die markantesten ECM-Alben von 2015 lassen wir in einer dreiteiligen Presseschau noch einmal chronologisch Revue passieren.

Vijay Iyer Trio: Musik mit großem Schattenwurf

Wenige Musiker haben den Jazz in den letzten Jahren so sehr geprägt wie Vijay Iyer. Der Pianist gewann so ziemlich alle Preise, die er gewinnen konnte, und wurde 2013 mit dem sogenannten Genie-Preis der MacArthur-Stiftung ausgezeichnet. 2015 wählten ihn die internationalen Kritiker des DownBeat zum Jazzmusiker des Jahres und sein Trio zur besten Jazzgruppe. Mit “Break Stuff” legte Iyer im Januar sein drittes Album bei ECM vor, das zugleich auch die dritte Einspielung seines Trios mit Bassist Stephan Crump und Schlagzeuger Marcus Gilmore war. “Alle drei wissen, dass Jazz heute nicht mehr nur aus sich selbst leben kann”, meinte Tobias Rapp im Spiegel, “und holen sich Inspiration im HipHop (‘Break Stuff’) oder beim Minimal-Techno-Pionier Robert Hood (‘Hood’), ohne sich diesen Stilen aber an den Hals zu werfen. Es ist immer noch akustischer Klavier-Trio-Jazz. Nur eben von heute.” In der Weltwoche lobte Peter Rüdi: “Iyer ist zwar auch ein sehr dynamischer Klangarchitekt, er baut bei all seiner Vorliebe für eine Ästhetik der Kontraste auch größere Spannungsbögen. Aber selbst auf der pathetischsten Klimax gibt es bei ihm ein Moment der Distanz und Kontrolle, ist er Darsteller und nicht hingerissener Ekstatiker. Eine fabel- und meisterhafte CD. Reich, überraschend. Und auch scheinbar widersprüchlich: Musik mit großem Schattenwurf.”

Chris Potter Underground Orchestra: Frühes Meisterwerk eines noch jungen Jahres                                                                   

Als ausgesprochener Klangarchitekt erwies sich auch der Saxophonist Chris Potter, der für sein neues ECM-Album gleich ganze atemberaubende “Imaginary Cities” entwarf. Sein Underground Orchestra besetzte er dafür mit Gitarrist Adam Rogers, Pianist Craig Taborn, Vibraphonist Steve Nelson den Bassisten Fima Ephron und Scott Colley, Drummer Nate Smith und einem Streichquartett. “Das Resultat überzeugt, weil Chris Potter nicht wie so viele andere Jazzer, die mit Streichern liebäugeln, sie nur als samtenen Soundteppich verwendet oder die Formationen einander gegenüberstellt”, meinte Manfred Papst in der NZZ am Sonntag. “Vielmehr formt er sie alle zu einem spannungsvollen Ganzen, in dem arabische und indische Elemente ebenso anklingen wie – in ‘Shadow Self’, einer von vier weiteren Kompositionen, welche die Suite ergänzen – die Musik Béla Bartóks. Das ist nicht mehr ‘Charlie Parker with Strings’ – ein Album, das Potter bewundert -, sondern etwas Neues, im Wortsinn Unerhörtes.” Rolf Thomas schrieb in Jazz thing: “Gleich zwei Bassisten sorgen für eine starke rhythmische Grundierung, ein Streichquartett, zu dem der Geiger Mark Feldman gehört, sorgt für emotionalen und ästhetischen Überschwang. Ein frühes Meisterwerk eines noch jungen Jahres.”

Kenny Wheeler: Anrührendes Vermächtnis eines wahrhaft großen Musikers

Mit “Songs For Quintet” wollte der Flügelhornist Kenny Wheeler eigentlich sein Comeback bei ECM Records feiern. Was zum Zeitpunkt der Aufnahmen niemand wissen konnte, war, dass sie sein musikalisches Testament werden würden. Denn nur  zwei Wochen nach ihrer Abmischung verstarb der gebürtige Kanadier am 18. September 2014 in London. “Sensibel begleitet von Stan Sulzman (ts), John Paricelli (g), Chris Laurence (b) und Martin France (dr) blies er mit delikatem Flügelhorn-Ton neun Balladen von poetischer Strahlkraft”, urteilte Sven Thielmann in HiFi+Records, “ein anrührendes Vermächtnis eines wahrhaft großen Musikers.” Im BBC Music Magazine merkte Garry Booth an: “Gitarrist Parricelli sticht mit seinem Jim-Hall-ähnlichen, auf elegante Weise sanften Sound hervor; Saxophonist Sulzman mit seiner zarten, aber sicheren Führung der Musik. Doch Wheeler ist immer noch der zurückhaltende Star, und diese Aufnahme, sein  grandioser Schwanengesang, ist dafür bestimmt ein ECM-Klassiker zu sein.” In Jazz Views kam Nick Lea zu diesem Schluss: “Kein Blick zurück bei seiner letzten Aufnahme, sondern ein Quintett-Album von echter Substanz und von dem man sicher sein kann, dass es zu den allerbesten in Kennys diskographischem Nachlass zählen wird.”

Jack DeJohnette: Jazzinnovator im Theater der Klänge

Dass der Schlagzeuger Jack DeJohnette zum kreativen Nukleus der Musiker gehörte, aus dem 1965 in Chicago die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) hervorging, ist wenig bekannt gewesen. Im Jahr des 50. Jubiläums dieser Musikervereinigung wollte er deshalb mit seinem Album “Made In Chicago”, auf dem er Wiedervereinigung mit alten Freunden wie Roscoe Mitchell und Henry Threadgill feiert, genau daran erinnern. “Ob es nun auf blueshafte Expressivität und Spiritualität hinauslief, auf fiebrige Glissandi und glühendheiße Toncluster, auf gespenstische Lyrismen und verstörende Folklorismen – von dieser Altherrenband sollten sich alle nachfolgenden Generationen mehr als eine Scheibe abschneiden”, befand Guido Fischer in der Jazzthetik. “Mit einem Höchstmaß an kreativer Freiheit und auf relativ minimalistischen Themen entrollen die Musiker ein Theater der Klänge”, beobachtete Wolf Kampmann in Eclipsed. “Man fühlt sich in die Loft-Szene der mittleren Siebziger zurückversetzt und doch ist dieses Zusammenspiel hier von beeindruckend aktueller Brisanz. Jack DeJohnette bleibt auch mit 72 einer der ganz großen Innovatoren des Jazz.” 

Jakob Bro Trio: Eigene Sound-Sprache mit meditativem Gundton

Ein ganz großer Wurf gelang dem dänischen Gitarristen Jakob Bro mit seinem ersten eigenen ECM-Album “Gefion”, auf dem er ein besonderes Gespür für Melodien, Klangfarben und Atmosphäre zeigt. “Jakob Bro hat mit dem kalifornischen Kontrabassisten Thomas Morgan und der norwegischen Drummer-Legende Jon Christensen eine Sound-Sprache entwickelt, die sich dem meditativen Grundton sensibel anpasst”, meinte Matthias Inhoffen in Stereoplay. “Bros ballastfreie Gitarrenwolken, Morgans rollender Bass, Christensens sanfter, aber entschiedener Drum-Druck – das bürgt für pure Harmonie.” “'Gefion' ist ein wichtiges Album”, schrieb Evan Haga in der Jazz Times. “Bruchstücke folkiger Melodien offenbaren sich, während die Rhythmusgruppe sie um- und unterwirbelt – Morgan indem er seine eigenen, eines LaFaro würdigen Randbemerkungen einstreut und gelegentlich den Puls vorgibt, Christensen indem er à la Motian mit seinen Besen über die Trommeln wischt. […] Bei Bro werden neue Hörer Bill Frisells schimmernden Ton und strukturelle Vornehmheit wiedererkennen, aber die Vergleiche enden hier. Der jüngere Gitarrist erschafft Atmosphäre mit einer Intensität, die sich der von David Torn annähert.”

Eberhard Weber: Nebulöse Klangwelten von wagnerischer Suggestionskraft

Mit “Résumé” legte Eberhard Weber 2012 ein ungewöhnlich konzipiertes Album vor. Da er  nach einem Schlaganfall selbst nicht mehr Bass spielen kann, griff er auf ausgedehnte Solo-Sequenzen zurück, die bei früheren Auftritten mit der Jan Garbarek Group aufgezeichnet worden waren. Für “Encore” bediente sich Weber derselben Arbeitsmethode. Diesmal stand ihm dabei der niederländische Flügelhornspieler Ack van Rooyen zur Seite, der Weber schon 1973 bei der Aufnahme seines ersten ECM-Albums “The Colours Of Chloë” begleitet hatte. “Auf seiner neuen CD hat er eine Reihe von Bass-Soli aus der Vergangenheit bearbeitet und mit dem Flügelhornspieler Ack van Rooyen in eine neue Form gebracht”, bemerkte Wolf Kampmann in Eclipsed. “Wie Archivmaterial klingt das nicht, denn vor dem Ohr des Hörers entrollen sich nebulöse Klangwelten von wagnerischer Suggestionskraft. Weber beweist uns, dass es egal ist, auf welchem Weg Musik letztlich entsteht, solange eine Geschichte erzählt und mit gestalterischer Kraft umgesetzt wird.”

Cyminology: Musik mit geheimnisvoll-exotischer Aura

Auch auf ihrem dritten Album “Phoenix” verknüpft die Band Cyminology, diesmal verstärkt um  den Bratschisten Martin Stegner von den Berliner Philharmonikern, subtile Melodien und Rhythmen der persischen Lyrik mit kammermusikalischem Jazz. Im Mannheimer Morgen schrieb Georg Spindler über das Album: “Orientalische Melodieschnörkel umranken da pianistische Sehnsuchtsbeschwörungen, die den Geist deutscher Romantik in sich tragen. Vertrackte Rhythmen werden mit leichter Hand jazzig zum Swingen gebracht. Schroffe Dissonanzen schleichen sich in balladeske Volksweisen, die plötzlich eine neutönerische Kunstlied-Anmutung erhalten. All diese Gegensätze scheinen wie auf märchenhafte Weise ausbalanciert. Die auf Persisch gesungenen Texte fügen dem Ganzen eine geheimnisvoll-exotische Aura hinzu. Man lauscht gebannt.” Auch Oliver Hochkeppel von der Süddeutschen Zeitung war ganz Ohr: “Auf Samawaties neuem, dritten ECM-Album ‘Phoenix’ steuert der Bratschist auf einigen Kompositionen eine Art zweite Gesangsstimme bei. Eine zusätzliche Facette zu Samawaties lautmalerischen Gedicht-Vertonungen von Sufi-Meister Hafiz bis zu Forough Farrokhzaad. Und eine Bereicherung der ohnehin betörenden Band.”