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Die ECM Highlights 2010 – Der Jahresrückblick Teil 2

Die ECM Highlights 2010 Cover Collage puristisch
Die ECM Highlights 2010 Cover Collage puristisch
10.12.2010
Auch im Jahr 1 nach dem 40-jährigen Jubiläum, sorgten Manfred Eicher und ECM international für Schlagzeilen. Und dies nicht nur durch aufsehenerregende neue Produktionen von etablierten und aufstrebenden Künstlern wie Keith Jarrett, Paul Motian, Charles Lloyd, Manu Katché, Ketil Bjørnstad, Roscoe Mitchell, Tord Gustavsen, Trygve Seim, Anat Fort und Nik Bärtsch. Im April erhielt Eicher den “Lifetime Achievement Award” des amerikanischen Jazzmagazins DownBeat, mit dem zuvor vor allem hinter den Kulissen wirkende Legenden wie George Wein, Leonard Feather, Orrin Keepnews, Norman Granz, Rudy Van Gelder und Bruce Lundvall ausgezeichnet worden waren. Zwei Monate später kürte die aus internationalen Kritikern bestehende Jury des renommierten Magazins den ECM-Labelchef zum Produzenten und ECM zum Plattenlabel des Jahres. Sowohl Manfred Eicher als auch seinem Label gelang damit ein lupenreiner Hattrick, da sie diese Ehrungen in den beiden vorausgegangenen Jahren ebenfalls eingestrichen hatten.

Tord Gustavsen: Entrückter Fantast mit neuer Band

Nach drei höchst erfolgreichen Trio-Alben, die zu den populärsten ECM-Einspielungen der letzten zehn Jahre zählen, stellte der norwegische Pianist Tord Gustavsen Anfang 2010 auf “Restored, Returned” eine neukonfigurierte Band vor. Vor allem durch das Saxophone Tore Brunborgs erschlossen sich ihm neue Klangnuancen. “Es ist faszinierend, mit welch einfachen Mitteln die Musiker um Tord Gustavsen eine musikalische Stimmung erschaffen, die den Hörer förmlich in die Klänge hineinzieht”, schrieb Mario-Felix Vogt in Fono Forum. “Bei diesem musikalischen Konzept ist nicht nur von Bedeutung, was und wie gespielt wird, sondern auch, wann nicht gespielt wird, die Musiker der Stille Raum geben.” In der Jazzthetik meinte Wolf Kampmann: “Gustavsen ist ein entrückter Fantast, der musikalische Traumwelten entwirft, die berühren, weil sie Bedürfnisse erfüllen, die in jedem Menschen ruhen… Geschichten so zu erzählen, dass noch genug Raum für die Imagination des Zuhörers bleibt, ist die große Begabung des schlaksigen Norwegers.”

Paul Motian / Jason Moran / Chris Potter: Hingebungsvoller Slow-Motian-Jazz

Ob ein Album das Zeug zum “Klassiker” hat, zeigt sich in der Regel erst nach geraumer Zeit. Selten passiert es, dass man schon nach dem ersten Hören denkt, auf einen künftigen Klassiker gestoßen zu sein. Paul Motians “Lost In A Dream” ist aber ein solches Album. Zu diesem Urteil kam SZ-Kritiker Norbert Dömling, der “Lost In A Dream” ein Meisterwerk nannte: “Als, vor 50 Jahren, Schlagzeuger Paul Motian zum ersten Mal mit dem Pianisten Bill Evans und dem Bassisten Scott La Faro spielte, tat sich im Jazz eine neue Welt auf: fein, melodisch, fast erhaben. Paul Motian hat das musikalische Ideal, das hinter dem Trio stand, nie aufgegeben. Jetzt hat der mittlerweile 78 Lenze zählende Ausnahmedrummer im selben Club, in dem damals die Aufnahmen mit Evans entstanden, das Album ‘Lost In Dreams’ eingespielt. Dabei sind Chris Potter, gegenwärtig wohl der technisch versierteste und ausdrucksstärkste Saxophonist, und der mindestens genauso einfallsreiche, elastisch virtuose, aber auch gekonnt sperrig spielende Pianist Jason Moran.” Matthias Imhoffen kürte das Album in Audio zur Jazz-CD des Monats und meinte: “Hier gibt es keine Eitelkeiten, keine Hahnenkämpfe, keine Geschwätzigkeit, nur die Hingabe an die Musik im delikaten Kammer-Jazz-Environment…”

Manu Katché: Mit elegantem Schwung in die dritte Runde

Es gibt wohl kaum einen Schlagzeuger, der all die üblen Klischees und Witze, die über seinesgleichen in Umlauf sind, so elegant und locker ad absurdum zu führen versteht wie Manu Katché. Auch auf seinem dritten ECM-Album “Third Round” gibt er sich keine Blöße. “Katché präsentiert sich einmal mehr als versierter Komponist, der seinen Musikern intuitiv die passenden Arrangements liefert und diese dann dezent aus dem Hintergrund steuert”, merkte Tom Fuchs in Fono Forum an. “[Saxophonist Tore] Brunborg und die Trompeterin Kami Lyle erweisen sich als unaufdringliche Solisten, Jason Rebello, Jacob Young und Pino Palladino komplettieren an Klavier, Gitarre und Bass die Band zur kompakten Combo, die sich im Entwickeln lyrischer Momente eher hervortut als mit der Betonung profunder Grooves.” Und in Jazzthetik resümiert Franz X.A. Zipperer: “Manu Katché beweist durch die Dramaturgie auf ‘Third Round’ einmal mehr, dass er – wie kaum ein anderer Schlagzeuger – das formale Hirn eines klassisch geschulten Künstlers, das herz eines Jazzers, das pulsierende Blut eines Popmusikers und die Seele schwarzafrikanischer Klänge in sich vereint und auf unaufdringliche Weise massiv zur Geltung bringt.”

Ketil Bjørnstad / Tore Brunborg / Jon Christensen: Berückender denn je zuvor

Solche Geniestreiche gelingen wohl nur improvisationserfahrenen Jazzmusikern. Bevor Ketil Bjørnstad, Jon Christensen und Tore Brunborg ins Studio gingen, um “Remembrance” aufzunehmen, hatten sie in dieser Konstellation noch nie zusammengespielt. Dennoch benötigten sie nur eine Aufnahmesession für ein ganzes Album von zauberhafter Schönheit und beeindruckender Geschlossenheit. “Dieses Trio zelebriert ganz wundervoll seine melancholisch verhangene, eingängige und austarierte Musik”, schwärmte Ulrich Steinmetzger in Jazzthing. “Wie immer gilt: Wo Bjørnstad draufsteht, ist auch Bjørnstad drin. Immer wieder aber setzt er seine schwelgerische Musik in neue Band-Kontexte um – und selten waren dabei die Ergebnisse so berückend wie diesmal.” Im JazzPodium meinte Heribert Ickerott: “Bjørnstads Musik folgt einer eigenen Ästhetik, klar und fließend, sanft und zurückhaltend, transparent und warm leuchtend. An was auch immer sich der 58-jährige Romancier, Lyriker und Pianist erinnert, seine Erinnerungen in 11 Teilen leuchten milde und bevorzugen mollgesättigte Adagio-Stimmungen.

Food: Loungig erdenferner Klangausflug

Seit sich der britischen Saxophonist Iain Ballamy 1998 mit Thomas Strønen, Arve Henriksen und Mats Eilertsen zusammentat, versorgten sie das Jazzpublikum unter dem Bandnamen Food mit musikalischer Nahrung für Herz, Hirn und Ohren. Vor drei Jahren schrumpfte das Quartett dann zum Duo. Für Food-Auftritte und -Alben luden Ballamy und Schlagzeuger Strønen seitdem stets illustre Gastmusiker ein. Auf “Quiet Inlet” sind es der Trompeter Nils Petter Molvær und der österreichische Gitarrist/Elektroniker Christian Fennesz. Laut Jazzthetik-Rezensent Ulrich Kriest “klingt Food mit Ballamys lyrisch-getragenem Ton vor Strønens verschwenderisch ausgebreiteter Palette an perkussiven Interventionen genau so, wie man sich ein ideales ‘ECM-Album’ anno 2010 vom Sound her vorstellt: modern, aber zugänglich (in Ballamys Spiel dürfen sich auch Garbarek-Fans zu Hause fühlen).” In Jazzthing kam Ralf Dombrowski zu dem Schluss, “Quiet Inlet” sei ein “loungig erdenferner Ausflug in die Hörgefilde intellektuellen Sphärenklangs, quasi ‘Space Night’ für Fortgeschrittene.”

Keith Jarrett / Charlie Haden: Das perfekte Paar

Dass Keith Jarrett und Charlie Haden geschlagene dreißig Jahre lang getrennte Wege gegangen waren, mochte man angesichts ihres traumwandlerischen Zusammenspiels auf “Jasmine” kaum glauben. Aber es ist tatsächlich so: Ihre letzte musikalische Begegnung hatte 1976 stattgefunden. Seitdem immens weitergereift, streiften sie nun auf “Jasmine” alles Überflüssige ab, um sich auf die musikalische Essenz der gespielten Songs zu konzentrieren. “Für den Hörer”, so Ralf Dombrowski in SONO, “ist diese selbstverordnete Reduktion der Mittel ein Gewinn. Kompakt und klar schöpft Jarrett aus seinem Reservoir der gestalterischen Erfahrungen, bringt Phrasen auf den Punkt, spitzt Motive zu. Volltönend und pointiert kontert Haden, mit spartanischen Linien, ein Rhapsode mit dem Hang zum versteckten, hintergründigen Witz. So entsteht eine gute Stunde Musik ohne Anspruch auf Höchstleistung, die aber gerade dadurch immense Kraft gewinnt. Ein reifes Statement zweier Jazz-Eminenzen, das man keinem jungen Hüpfer glauben würde.” In Stereoplay befand Werner Stiefele: “Sie sind ein perfektes Paar. Keith Jarrett zelebriert langsam und würdevoll Melodien, und Charlie Haden grundiert mit wenigen, effektiv gesetzten Basstönen. Es ist, als philosophierten sie gemeinsam, illustrierten ihre Gedanken mit Anekdoten und verschmitzt eingestreuten Witzen.”

Anat Fort Trio: Maßstab in der Flut neuer Pianotrios

Seit die israelische Pianistin Anat Fort 2007 mit Unterstützung der Routiniers Paul Motian, Perry Robinson und Ed Schuller bei ECM debütierte, wird sie als eine der ganz großen Entdeckungen des Jazz der letzten Jahre gefeiert. Nun legte sie ihr zweites Album “And If” mit ihrem eigentlichen Trio vor, mit dem sie seit zehn Jahren in New York zusammenspielt. “Acht Eigenkompositionen der Bandleaderin, umgeben von zwei Variationen eines Widmungsstücks an Paul Motian, aufgenommen im kristallklaren Sound von Jan Erik Kongshaugs Osloer Rainbow Studio und hingebreitet in Noblesse, die nie etwas Plüschiges bekommt”, referiert Ulrich Steinmetzger im JazzPodium. “Diese Musik ist uneingeschränkt zu feiern. Sie hat nichts Beflissenes, irisiert in bezaubernder Schönheit und bewahrt sich unbedingt die Stilsicherheit, nicht ins Banale zu kippen. Das ist ein elegantes Spiel mit Nuancen, Tempoverlagerungen und Pausen. Weniger ist mehr, viel mehr, wenn es in dieser Weise beseelt wird. Die Einspielung setzt völlig unaufgeregt und souverän einen Maßstab in der Flut der neuen Pianotrios.”

Nik Bärtsch’s Ronin: Melodik statt Motivsplitter

Schon im Titel von Nik Bärtschs drittem ECM-Albums “Llyrìa“ scheint anzuklingen, dass der Pianist mit seiner Band Ronin nun einen neuen, lyrischeren Weg einschlagen möchte. Und tatsächlich eröffnen feine komponierte Übergänge ihm in beinahe allen Stücken erfrischende melodische Möglichkeiten. Dies bemerkte auch Alex Rühle, der in seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung schrieb: “Der Schweizer Pianist Nik Bärtsch und der wirklich fantastische Schlagzeuger Kaspar Rast arbeiten seit 25 Jahren gemeinsam an einer Musik, die Bärtsch einmal als Zen-Funk definierte, eine Musik, die sich nicht primär an Melodien entlang entwickelt, sondern einen Rhythmus in die Mitte eines leeren Raumes stellt und den erstmal aus sich selbst heraus pulsieren lässt. Es ist, als höre sich dieser Rhythmus selbst bei der Arbeit zu, als triebe er, Fraktalen gleich, aus seinem Kraftzentrum heraus Motivsplitter voran. Während sie aber in den ersten Alben eine Art extrem saubere Grundlagenarbeit leisteten, scheinen sie diesmal herausfinden zu wollen, wieviel Melodik solche Klarheit verträgt. Großartig, weiter so.”

Charles Lloyd Quartet: Souveräne Formsprache voller Energie

Als “Meisterwerk des romantischen Jazz” bezeichnete Werner Stiefele in Stereoplay Charles Lloyds neues Album “Mirrors”: “Nur wenige Saxofonisten vereinen so viele emotionale Facetten in einer einzigen Melodie wie Charles Lloyd. Seine Töne können zerbrechen, drücken und pressen, suchen oder fest dastehen, greinen, enteilen oder den Raum dominieren. Sein neues Quartett um den Pianisten Jason Moran zieht bei zwölf ausdrucksstarken Nummern kongenial mit. Diese Vier konzentrieren alles auf seinen Kern; selbst jede Zierfigur verstärkt hier den Ausdruck und ist keinesfalls überflüssig.” Die Kollegen von Fono Forum schrieben: “Eine souveräne Formsprache voller Energie kennzeichnet jede Session von Charles Lloyd. Seine fantasievollen Erkundungen, die er auf Alt- und Tenorsax zelebriert, erzählen von der Spiritualität seiner Musik und ihrer einfallsreichen Umsetzung, in die auch Klänge anderer Kulturen einfließen. Mit der aktuellen Besetzung […] streift Lloyd durch Spirituals wie ‘Go Down, Moses’, offenbart sein Blues-Feeling in ‘Desolation Sound’ und verlagert den Beach-Boys-Hit ‘Caroline, No’ in das Spannungsfeld des modernen Jazz.”

Roscoe Mitchell And The Note Factory: Kompromisslose Klangforschungstour


Auch mit 70 Jahren denkt der Saxophonist, Komponist und Improvisationspionier Roscoe Mitchell nicht daran, sich auf eingefahrene musikalische Gleise zu begeben. Mit seinem Ensemble Note Factory verwischt er auf dem Album “Far Side” die Demarkationslinien zwischen Komposition und Improvisation. Im JazzPodium meinte Klaus Hübner dazu: “‘Far Side’ bietet eine kompromisslose Forschungstour der verschiedenen Ebenen und Grade des Sounds von Roscoe Mitchell, den er seit den Tagen mit dem Art Ensemble Of Chicago und dem Transatlantic Art Ensemble (mit Evan Parker) verfeinerte. Kratzte die Grobschlächtigkeit des Art Ensemble Of Chicago noch an den Grundmauern des freien Jazz und der Improvisation, reklamierte Roscoe Mitchell später für sich einen lyrisch-prosaischen Anspruch. Die dreißig Minuten lange Suite ‘Far Side/Cards/Far Side’ spiegelt diese Entwicklung wider. An die Kandare genommen und entfesselt – Mitchells zügellose bis gelenkte Improvisation findet insbesondere in diesem Live-Mitschnitt vom März 2007 beim Burghausen Jazzfestival ihr Echo.”

Trygve Seim / Andreas Utnem: Improvisierte Kirchenmusik

Der oft mit Jan Garbarek verglichene Trygve Seim liebt neue musikalische Herausforderungen. Vor 13 Jahren begann er eine Zusammenarbeit mit dem Kirchenmusiker und Pianisten Andreas Utnem, die nun erstmals auf dem Album “Purcor” dokumentiert wurde. Die Leipziger Volkszeitung stimmte ein Loblied auf den norwegischen Saxophonisten und sein neues Album an: “Man sage bitte nicht immer Garbarek, wenn dieser Saxofonist aus Oslo zu seinen Gesängen anhebt. Viel zu sehr hat er sich als unikärer Komponist profiliert, hat seinen Ton in konsequenter Reduktion individualisiert, hat gänzlich unaufgeregt eine neue Sinnlichkeit des hohen Nordens in wundervollen Melodieschleifen eingefangen, die neben jedem Kitschverdacht schwerelos segeln. Er kennt seine Wurzeln und greift weit darüber hinaus. Immer neu und auch diesmal wieder anders. Und er hat keine Eile dabei, das macht seine Musik so weise und ohne Verfallsdatum unanfechtbar. Mit Pianist [Andreas] Utnem zog er sich in eine Kirche zurück, öffnete Horizonte, schwelgte, schwebte und zelebrierte schlicht schöne Musik ohne Wenn und Aber.”