ECM Sounds | News | Ausgeprägt melodische Themen und improvisatorischer Erfindungsreichtum

Ausgeprägt melodische Themen und improvisatorischer Erfindungsreichtum

In seinem neuen Quartett, mit dem der bald 80-jährige John Surman “Words Unspoken” eingespielt hat, bringt der britische Multiinstrumentalist vier Generationen unter einen Hut.
John Surman, Thomas Strønen, Rob Luft, Rob Waring
John Surman, Thomas Strønen, Rob Luft, Rob Waring
15.02.2024
“Es hat mich schon immer fasziniert, von Leuten zu hören, wie viele verschiedene Bilder und Botschaften ein und dasselbe Musikstück in ihrer Vorstellung heraufbeschwören kann”, sagt der britische Holzbläser John Surman in den Liner Notes zu seinem neuen Quartett-Album “Words Unspoken”. “Die Eindrücke und Geschichten sind nicht selten sehr
unterschiedlich, und dennoch scheinen sie für jeden Einzelnen irgendwie Sinn zu ergeben. Das ist die eine Seite des Titels ‘Words Unspoken’ - die andere aber bezieht sich auf die Art und Weise, wie ich diese Musik mit meinen Spielpartnern als Band angehen wollte. Ich habe ihnen einfach ein paar Ideen unterbreitet, und dann versuchten wir, ohne vorher zu
besprechen, wer welches Element spielen würde und welche Gestalt die Stücke annehmen sollten, die Elemente zusammenzufügen, in dem wir uns einfach nur gegenseitig zuhörten und entsprechend reagierten.”

Surmans offene Kompositionen dienen hier als Rahmenkonzept, das zur musikalischen Debatte anregt, während die Musiker den kollektiven Sound zu neuen Zielen führen und ihn durch eigene markante Statements bereichern. Die Identität des Ensembles baut auf dem Verständnis auf, das Surman und der US-amerikanische Vibraphonist Rob Waring (der, wie
der Bandleader selbst, seit langem in Oslo lebt) untereinander entwickelt haben. Surman (Jahrgang 1944) und Waring (Jahrgang 1956) haben zuvor schon auf Johns Trio-Album “Invisible Threads” (2017) zusammengearbeitet. Der Dritte im Bunde war damals der brasilianische Pianist Nelson Ayres.
Diesmal gesellen sich zu Surman und Waring zwei Musiker, die ECM-Hörern vertraut sein dürften: der britische Gitarrist Rob Luft (Jahrgang 1993), der an der Seite von Elina Duni auf den Alben "Lost Ships" und “A Time To Remember” zu hören war, und der norwegische
Schlagzeuger Thomas Strønen (Jahrgang 1972), zu dessen ECM-Projekten u.a. Alben mit dem Ensemble Time Is A Blind Guide, der Band Food (mit Iain Ballamy), dem Trio Bayou (mit Ayumi Tanaka und Marthe Lea) und Parish (mit Bobo Stenson) zählen. Zuletzt trat Strønen bei ECM als Mitglied von Sinikka Langelands Band auf dem Album “Wind And Sun” (2023) in Erscheinung.

Wie der Opener “Pebble Dance” sofort klar macht, ist das Quartett von "Words Unspoken" eine einfallsreiche und oft aufregende Band. Es fliegt aus dem Startblock mit einem Gestöber von Vibraphontönen, das ein Klima für das wirbelnde und energiegeladene Sopransaxophon erzeugt und eine Atmosphäre der Intensität aufkommen lässt, die von Strønens straffem Schlagzeugspiel und Lufts schimmernder Gitarre angeheizt wird.

Die wechselnden Stimmungen des Albums geben Surman Gelegenheit, mit jedem seiner Instrumente in den Vordergrund zu treten. In “Hawksmoor” beginnt die Musik als leichtfüßiger Tanz für die Bassklarinette und Strønens mit Jazzbesen gespieltes Schlagzeug, bevor sich auf halber Strecke Gitarre und Vibraphon zu ihnen gesellen. Im Titelstück “Unspoken Words” spielt Surman sein wundervolles Baritonsaxophon mit einer
Zärtlichkeit und Eloquenz, die scheinbar nur er diesem sperrigen Instrument entlocken kann. Sein gefühlvoller Monolog entwickelt sich dabei vor dem Hintergrund der komplementären Klangfarben von Luft und Waring.

Surman, der am 30. August 80 Jahre alt wird, ist seit über einem halben Jahrhundert eine vitale Kraft im europäischen Jazz und angrenzenden Genres. Bereits in den 1960er Jahren konnte er sich in von Mike Westbrook und Chris McGregor geleiteten Bands als einzigartiger Solist in Szene setzen. Die schlicht The Trio benannte Band, die er 1969 mit
den beiden US-Amerikanern Barre Phillips (Bass) und Stu Martin (Schlagzeug) gründete, war eine der prägenden Improvisationsgruppen ihrer Zeit. Und in genau dieser Besetzung konnte man John Surman 1976 auch zum ersten Mal auf einem ECM-Album erleben: auf “Mountainscapes” von Barre Phillips. 1979 folgte dann mit “Upon Reflection” Surmans erstes Soloalbum für das Münchener Label.

Seitdem konnte man John Surman bei ECM in den unterschiedlichsten Kontexten erleben. Er machte Soloaufnahmen (darunter die hochgelobten Alben “Private City” und “Road To Saint Ives”) und spielte mit großen Ensembles – u.a. auf “The Brass Project”, beim dem er mit dem kanadischen Komponisten John Warren zusammenarbeitete, beim “Proverbs 
And Songs”-Projekt mit dem Salisbury Festival Chorus und auf “Free And Equal” mit London Brass. Es gab Duo-Einspielungen mit Jack DeJohnette (“The Amazing Adventures of Simon Simon” und “Invisible Nature”) und Howard Moody (“Rain On The Window”) sowie transkulturelle Projekte (Anouar Brahems “Thimar”-Trio mit Dave Holland und John Potters auf Alte Musik ausgerichtetes “Dowland”-Projekt). Surman arbeitete mit dem Streichquartett Trans4fation zusammen (auf “The Spaces In Between” und "Coruscating") und leitete seine eigenen Bands auf Alben wie “Nordic Quartet” (mit Karin Krog, Terje Rypdal und Vigleik Storaas), “Stranger Than Fiction” (mit John Taylor, Chris Laurence und John Marshall) sowie "Brewster’s Rooster" (mit John Abercrombie, Drew Gress und Jack DeJohnette). Darüber hinaus trug er wesentlich zu wichtigen ECM-Projekten von Paul Bley, Miroslav Vitouš, Tomasz Stańko, Misha Alperin und Mick Goodrick bei. Kurzum: eine so üppige Diskographie mit so vielen kreativen Aufnahmen können nur sehr wenige andere Künstler vorweisen.