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Auf der Suche nach der Poesie hinter den Noten

Auf seinem vierten Album für ECM stellt der niederländische Pianist Wolfert Brederode mit “Ruins And Remains” eine außergewöhnliche Suite für Klavier, Streichquartett und Schlagzeug vor.
ECM Sounds
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22.09.2022
Nach seinen beiden gefeierten Quartett-Alben “Currents” (2007) und “Post-Scriptum” (2011) sowie dem Trio-Album “Black Ice” (2016), präsentiert Wolfert Brederode diesmal ein ganz anderes und sehr spezielles Projekt. Entstanden war die Suite “Ruins And Remains” ursprünglich als Auftragskomposition zum 100. Jahrestages der Beendigung des Ersten Weltkriegs. Seine Uraufführung erlebte das Opus am 11. November 2018, dem sogenannten Armistice Day. Für den Komponisten hatte die Arbeit zu diesem Zeitpunkt allerdings schon eine umfassendere und persönlichere Bedeutung erlangt. “Auf mehreren Ebenen hat die Musik mit Trauer und Verlust zu tun und damit zu lernen, wieder aufzustehen”, sagt Brederode. Die Musik hat eine verletzliche, aber widerstandsfähige Qualität, da sie über ihrem emotionalen Terrain schwebt, mit Stimmungen, die abwechselnd düster und vorsichtig hoffnungsvoll sind.
Die an diesem Projekt beteiligten Musiker/innnen sind seit ihrer Studienzeit am Königlichen Konservatorium von Den Haag miteinander befreundet. Das Matangi Quartett, das schon oft mit Wolfert Brederode bei Aufführungen seiner Theatermusik zusammengearbeitet hat, genießt inzwischen den Ruf, eines der vielseitigsten Streichquartette der Niederlande zu sein. Sein Repertoire reicht von Barockmusik über zeitgenössische Kompositionen bis hin zu Jazz und darüber hinaus. (Zuletzt hat es mit Aufnahmen von Schnittke, Silvestrov und Schostakowitsch auf sich aufmerksam gemacht.) 2014 nahm das Matangi Quartet neben Stücken von Louis Andriessen und Chick Corea auch Musik von Brederode für eines seiner eigenen Alben auf. Mit dem während das “Ruins And Remains”-Projekt voranschritt, haben die Musiker/innen des Matangi Quartet immer mehr Freiheiten in ihm gefunden und sich auch aktiv an den improvisierten Teilen beteiligt.
Schlagzeuger Joost Lijbaart arbeitet mit Brederode schon seit 2004 genreübergreifend zusammen – sie spielen seit zehn Jahren zusammen im Jazzquartett des Saxophonisten Yuri Honing und unterhalten ein improvisierendes Duo, bei dem sie danach streben, die individuellen Identitäten in einem einzigen Klang zu vereinen, “so als ob man gemeinsam ein präpariertes Klavier spielen würde” und nicht reine Schlagzeug- und Klavierduette. Dieses Einfühlungsvermögen findet ein Echo in der Art, wie er die Musik von “Ruins And Remains” angeht.
“Mein Ziel ist immer, dass die Musik eine einheitliche Sache ist”, sagt Wolfert Brederode. “Ich liebe es, in den Klang des Streichquartetts einzutauchen und so zu spielen, als wäre ich ein Teil davon. Ich denke, mit dem Quartett und mit Joost haben wir gemeinsam einen besonderen Klang gefunden, der auf seine Art und Weise leise radikal ist.” Die Musik des “Ruins And Remains”-Projekts unterzieht sich seit ihrer Erstaufführung einem ständigen Wandel. Der Gedanke der Veränderung ist integraler Bestandteil der Suite: “Es ist für mich ‘eine sich entwickelnde Suite’. Das gibt mir die Freiheit, Stücke zu ändern und hinzuzufügen, solange wir sie spielen.”
Beschleunigt wurde dieser Prozess während der Aufnahme im Bremer Sendesaal. Die Geigerin Maria-Paula Majoor merkt an, dass “der Klang im Saal einem den Raum gibt, die Poesie hinter den Noten zu finden”, und fügt dann hinzu, dass “‘Ruins And Remains’ sein Leben als extrovertiertes und rhythmisches Jazzstück begonnen hatte und im Laufe der Aufnahme in etwas anderes verwandelt wurde. Wir haben die Seele der Musik verändert.”
In der Zusammenarbeit mit Produzent Manfred Eicher “wurden in der Suite neue Wege gefunden”, so Brederode. Die Übergänge zwischen geschriebenem und improvisiertem Material verwischten immer mehr: “Wir haben uns alle auf die Verschmelzung von Klängen konzentriert und sehr viel an der Dynamik gearbeitet.”
Das Ergebnis ist ein berührendes Album von großer Subtilität, das sowohl strukturell sondierend als auch zutiefst lyrisch ist.