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Akustisches Powerhouse-Trio aus Norwegen

Das von dem Schlagzeuger Gard Nilssen geleitete Trio Acoustic Unity beeindruckt auf seinem ersten ECM-Album “Elastic Wave” mit geschlossenem, aber gleichzeitig lockerem Zusammenspiel und ungeheuer viel Fantasie.
Gard Nilssen, André Roligheten, Petter Edhl
Gard Nilssen, André Roligheten, Petter Edhl
14.07.2022
Gard Nilssen, der einen sehr eigenständigen neuen Ansatz in Sachen Rhythmus und Freiheit gefunden hat, gilt derzeit als einer der kreativsten improvisierenden Schlagzeuger Europas. Bei ECM war er in den vergangenen Jahren schon auf hochgelobten Alben von Mathias Eick (“Skala”, 2011) und dem Maciej Obara Quartet (“Unloved”, 2017, und “Three Crowns”, 2019) zu erleben. Jetzt präsentiert der Norweger auf “Elastic Wave” sein Powerhouse-Trio Acoustic Unity. Zu den definierenden Attributen dieses Ensembles, das temperamentvolle Hymnen und ergreifende Balladen mit viel Elan und Überzeugung spielt, gehören dynamische Interaktionen, ein Sinn für swingenden Puls und kühne, scharf umrissene Themen.
Die stilistische Flexibilität der Band, zu deren Repertoire alle drei Musiker Kompositionen beisteuern, hat ihre Wurzeln in gemeinsamen Erfahrungen. Nilssen und Saxophonist/Klarinettist André Roligheten wuchsen zusammen in ihrer Heimatstadt Skien in der norwegischen Telemark-Region auf. In einem von Django Bates geleiteten “nordischen Großensemble für junge Musiker” lernten sie 2005 den schwedischen Bassisten Petter Eldh kennen, zu dem sie sofort einen exzellenten Draht fanden. Nach diversen Kollaborationen taten sich Nilssen, Roligheten und Eldh 2014 als Trio zusammen und haben seitdem zahlreiche Tourneen absolviert. “Elastic Wave” ist bereits ihr viertes gemeinsames Album.
In der Musik des Trios strömen viele Einflüsse zusammen. Zu den frühen Vorbildern von André Roligheten gehörten Ornette Coleman, John Coltrane und Archie Shepp, doch sein großer Sound schöpft auch aus einer Vielzahl anderer Quellen. Das Stück “The Other Village”, in dem Roligheten gleichzeitig Tenor- und Sopransaxophon spielt, bezieht seine Impulse zum Beispiel aus einer Erinnerung an das Pfeifen mediterraner Dudelsäcke.
“Influx Delight” hat einen geschmeidig-tänzerischen Schwung, der an Ornette Coleman auf dem Tenorsax erinnert, bewegt sich aber über einen Rhythmus, der Elemente von brasilianischem Samba enthält, oder wie Gard selbst es umschreibt: “in der Art und Weise gehalten ist, wie Charlie Haden und Paul Motian Latin-Musik spielten”. Dieser umfassende Blick auf die moderne Jazzgeschichte ist für das Trio charakteristisch. In “The Room Next To Her” spielt Roligheten sein Basssaxophon mit geradezu ritueller Kraft, während “Dreignau” von seinem eleganten Klarinettenspiel geprägt ist.
Bassist Petter Eldh sollte ECM-Fans schon durch seine Aufnahmen mit Django Bates’ Trio Belovèd (“The Study Of Touch”, 2016) und Kit Downes (“Vermillion”, 2022) bestens bekannt sein. Als Künstler mit einem alles verschlingenden Musikgeschmack, der Idiome von Bebop über Hip-Hop bis hin zu freier Improvisation kanalisiert, erhielt Eldh kürzlich den SWR-Jazzpreis 2022. Die Jury lobte sein “ebenso energetisches wie empathisches Kontrabassspiel”, Attribute, die auch auf “Elastic Waves” durchweg evident sind. Das Album beginnt mit Eldhs Stück “Altaret” (in Deutsch: “Der Altar”). Der Titel ist eine Anspielung auf Gards Osloer Übungsraum, in dem ein Porträt von Coltrane prangt. Es ist ein frei kontrapunktisches Stück, das die Tür zu dem Konzept des Trios von Unabhängigkeit und Zusammengehörigkeit in der Improvisation öffnet.
Gard Nilssen bezeichnet den Einfluss von Tony Williams, Elvin Jones, Ed Blackwell, Roy Haynes und Jack DeJohnette als prägend für seinen eigenen individualistischen Schlagzeugstil. Aber auch Jon Christensens bekannter “Waves of Sound”-Ansatz hat ihn nachhaltig inspiriert. Um der Schlagzeugtradition von ECM Tribut zu zollen, brachte er eines der Becken von Christensen zur “Elastic Wave”-Session mit und integrierte es als zweites Ride-Becken in den Gesamtsound seines Schlagzeugsets. Der Titel des Stücks “Lokket til Jon, og skjerfet til Paul”, das aus Nilssens Feder stammt, spielt auch auf einen Schal an, den Paul Motian einst im Studio La Buissonne zurückgelassen hatte und der hier verwendet wird, um die mitschwingenden Obertöne der Basstrommel abzuschwächen.
Es gibt aber noch weitere Anspielungen in den Titeln: das unbekümmerte und zuversichtliche “Spending Time With Ludvig” hat Gard für seinen kleinen Sohn geschrieben und die hübsche Ballade “Til Liv” widmete André seiner Tochter. Dem Stück “Acoustic Dance Music”, das ebenfalls ein an Ornette Coleman erinnerndes Vollgas-Feeling besitzt, hat Nilssen den Titel als kleinen Protest gegen die sich ausbreitende Welt der elektronischen Tanzmusik gegeben, deren schwere Maschinenbeats er als Totenglocke für die Kreativität empfindet; die Acoustic Unity kontert sie hier mit einem sehr geschmeidigen, lebhaften Sinn für Drive.
Das Album “Elastic Wave” erscheint rechtzeitig vor Gard Nilssens Auftritten beim diesjährigen Jazzfestival Saalfelden, wo der Schlagzeuger als Artist in Residence zwischen dem 19. und 21. August mit Acoustic Unity, seinem großen Ensemble Supersonic Orchestra (dessen Kern ebenfalls das Trio bildet und dessen Material von Nilssen und Roligheten arrangiert wird), Bushman’s Revenge und Cuong Vu auftritt. Mit Acoustic Unity wird er sich am 17. August außerdem im Kölner Stadtgarten präsentieren. Weitere Konzerte mit Acoustic Unity und dem Supersonic Orchestra sind für den Herbst geplant.
Der Ruf von Acoustic Unity ist inzwischen weit über die Grenzen Europas hinausgedrungen. “Wenn Sie mich nach dem Namen einer fantastischen, eingespielten Band fragen, die die meisten US-amerikanischen Jazzhörer noch nicht kennen”, schrieb New-York-Times-Kritiker Nate Chinen in seinem WBGO-Jazzblog, “dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich bei Gard Nilssen und seiner Acoustic Unity lande. Das in Oslo ansässige und von Nilssen, einem hervorragenden Schlagzeuger der dortigen Szene, geleitete akustische Trio versteht es, nahtlos von abstraktem Expressionismus zu hartem, treibendem Swing überzugehen.” Und diese Qualitäten sind auf der vorliegenden Aufnahme auch deutlich zu hören.