ECM Sounds | News | 50 Jahre ECM - die ECM-Highlights des Jubiläumsjahrs 2019, Teil 2

50 Jahre ECM – die ECM-Highlights des Jubiläumsjahrs 2019, Teil 2

Obwohl die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum von ECM Records Manfred Eicher und sein Team auf Trab gehalten und um die ganze Welt geführt haben, drosselte das Label seinen produktiven Output in keinster Weise. In dem mittlerweile schon traditionell
ECM Records - Directions in Music and Sound since 1969
ECM Records - Directions in Music and Sound since 1969
11.12.2019
Paul Bley, Gary Peacock & Paul Motian: Musik zwischen berührender Intimität und erfrischender Unvorhersehbarkeit
Anfang der 1960er Jahre unterhielt Paul Bley ein historisches Trio mit Gary Peacock und Paul Motian, das es verstand, frei und doch ungemein melodisch zu spielen. Auf dem Album “Paul Bley With Gary Peacock” brachte das blutjunge ECM-Label 1970 Aufnahmen dieses Trios heraus, die bereits 1963 entstanden waren. 1998 feierten die Musiker auf dem großartigen Album “Not Two, Not One” nach geschlagenen 35 Jahre ihre Reunion als Trio. Ein Jahr später gingen sie dies- und jenseits des Atlantiks auf Tournee, in deren Verlauf die Aufnahmen von “When Will The Blues Leave” mitgeschnitten wurden, die 2019 – zwanzig Jahre später – endlich das Licht der Welt erblickten. “Die drei weißen Nonkonformisten musizieren auf diesem Mitschnitt unaufgeregt, tiefschürfend und mit abgemilderter Radikalität, wobei sich balladeske Introspektion und freigeistige Expressivität die Waage halten”, schrieb Tom Gsteiger im St. Galler Tagblatt. “Bei einigen Nummern handelt es sich unüberhörbar um Metamorphosen von Stücken aus dem ‘Great American Songbook’: Die ursprünglichen Melodien und Harmonien werden vom Trio sublimiert und transzendiert. Schlusspunkt des Albums bildet eine hinreißende Soloversion des Gershwin-Klassikers ‘I Loves You, Porgy’, mit der Bley an sein Soloalbum ‘Axis’ aus dem Jahr 1977 anknüpft.” Im Münchner Merkur notierte Reinhold Unger: “Mal versunken, mal aufbrausend, freigeistig, aber nicht bilderstürmerisch formuliert dieser Dreier auf Augenhöhe seine eigene routinefreie Definition des Piano-Trios. Für diese drei Meister ist nur eine Regel nicht verhandelbar: in jedem Augenblick aufeinander hören und reagieren. […] Musik zwischen berührender Intimität und erfrischender Unvorhersehbarkeit.” Und in Jazzthetik meinte Jan Kobrzinowski: “Hier führt ein famoses Improvisatoren-Trio die Unterschiede zwischen reinem Jazz-Handwerk und der hohen Kunst der Improvisation vor. Beruhigend, dass ein musikalisches Dreiergespräch von solchem Format auch 20 Jahre nach seiner Entstehung noch den Weg zurück ans Tageslicht findet […] Bley, Motian und Peacock reiten von Beginn an auf dem Grat zwischen kontrollierter Kreation und kollektiver Inspiration. […] Die Ballade ‘Dialogue Amour’ verweist darauf, dass dieses Trio just dort weiterarbeitete, wo das von Bill Evans seinerzeit aufgehört hatte, und gleich darauf stellen die drei mit Ornette Colemans Titelstück auf grandiose Weise die Verbindung vom Impressionismus zur Avantgarde her.”
 
Michele Rabbia, Gianluca Petrella & Eivind Aarset: Kammermusik von unaufdringlicher Intensität
Mit “Lost River” haben Schlagzeuger Michele Rabbia, Posaunist Gianluca Petrella und Gitarrist Eivind Aarset nicht nur ein ungemein stimmungsvolles und reich strukturiertes Klangereignis geschaffen, sondern zugleich eine der herausragenden genreübergreifenden Aufnahmen der jüngeren ECM-Geschichte. Die Musik des Trios, das nie zuvor zusammengespielt hatte, nimmt ständig neue Formen an, ist größtenteils spontan improvisiert und offenbart geheimnisvolle Details, die in atemberaubenden Klanglandschaften aufblühen. “'Lost River' handelt vom Unerhörten”, meinte Michael Engelbrecht im Deutschlandfunk. “Jazz ist in Klangspuren erkennbar, im luftig geerdeten Posaunenspiel von Gianluca Petrella, in flüchtigen Webereien des Gitarrenspiels von Eivind Aarset, in der Puls- und Rauschforschung von Michele Rabbias Schlagwerk. ‘Lost River’ betritt auch, in der Art der Einarbeitung elektronischer Schwingungen, ein abenteuerliches Grenzgebiet von freier Improvisation und Ambient Music. Nur selten zeichnet sich ein klar definiertes Führungsinstrument ab, Vorder- und Hintergrund changieren – hat die Posaune gerade noch eine melodische Figur umrissen, kann sie plötzlich pure Textur werden. Das Album setzt eine Tradition fort, an der Manfred Eicher seit 50 Jahren als Produzent mitgewirkt hat, eine Kammermusik unaufdringlicher Intensität, die im Idealfall, und der ist hier realisiert, aus allen Begrenzungen heraus ins Offene treibt. Kammermusik mit Panoramafenster – keine einzige verschenkte Note, und eine perfekte Dramaturgie!” In Jazzthetik schrieb Harry Schmidt: “Dereinst wird ‘Lost River’, das Debütalbum des Trios, das der italienische Schlagzeuger und Perkussionist Michele Rabbia mit seinem zehn Jahre jüngeren Landsmann, dem Posaunisten Gianluca Petrella, und dem norwegischen Gitarristen Eivind Aarset gegründet hat, in einer Reihe mit anderen Meilensteinen des ECM-Katalogs wie Nils Petter Molværs ‘Khmer’ und ‘Dança Das Cabeças’ von Egberto Gismonti stehen. Ähnlich wie dort oder auch bei ‘My Life In The Bush Of Ghosts’, der Zusammenarbeit von Brian Eno mit David Byrne aus dem Jahr 1981, wachsen dem Rezipienten beim Hören der zehn Originals auf ‘Lost River’, deren Titel alle um das Thema Wasser kreisen, neue Ohren gleich büschelweise.”
 
Maria Farantouri & Cihan Türkoğlu: unwiderstehlicher Zauber in orientalischer Farbenpracht
Mit “Beyond The Borders” präsentieren die griechische Sängerin Maria Farantouri und der anatolische Saz-Spieler Cihan Türkoğlu ein faszinierendes gemeinsames Projekt. Der Titel des Albums ist hier zugleich Programm. Denn die bemerkenswerten Künstler/innen, die für “Beyond The Borders” zusammengebracht wurden, interpretieren sowohl traditionelle Musik aus Griechenland, der Türkei, dem Libanon und Armenien als auch Originalkompositionen von Türkoğlu und der griechischen Poetin Agathi Dimitroukas. Im Geiste des Projekts überbrücken die neuen Songs Kulturen und Idiome. “Hier vereinen sich Geschichte und Gegenwart, bekommen unterschiedliche Kulturen einen gemeinsamen Nenner, haben Grenzen allein noch symbolischen Charakter”, merkte Jörg Konrad in Kultkomplott an. “Im Mittelpunkt des neuen Albums ‘Beyond The Borders’ von Maria Farantouri steht das Überwinden von ausgrenzenden Gegensätzen. Die griechische Sängerin vereint in ihrer Person und in ihren Liedern scheinbare Unversöhnlichkeiten und auseinanderstrebende Unstimmigkeiten, sie überbrückt Widerstände, macht Mut für (Mit-)Menschlichkeit, ohne dass es ihr dabei an Haltung und Überzeugungen mangelt. Für ihre stillen Hymnen humaner Gesinnung hat sie im vorliegenden Fall ein länderübergreifendes, zwischen Orient und Okzident angesiedeltes Ensemble zusammengestellt, das sich traditionellen und zeitgenössischen Liedern aus Griechenland, der Türkei, aus dem Libanon und Armenien widmet. Die Stimmung, die dieses kleine aber feine Orchester mit Saz und Kopuz (Cihan Türkoğlu), Cello (Anja Lechner), Kanon (Meri Vardanyan), Ney (Christos Barbas) und Perkussion (Izzet Kizil) vermittelt, ist gekennzeichnet von Stolz und Schwermut, von Freude und Leidenschaft, von Mut zu einfacher Schönheit und kluger Dramaturgie. Auf diese Weise werden geschickt und überzeugend Gegensätze überwunden, bleibt trotzdem das Individuelle autark und das Solidarische exemplarisch.” In Stereo schrieb Sven Thielmann: “Ohne dass Brüche auch nur ansatzweise spürbar würden, stehen auf ‘Beyond The Borders’ traditionelle Stücke unterschiedlicher Epochen und Regionen neben zeitgenössischen Kompositionen des in Athen lebenden Cinan Türkoglu […] dank Maria Farantouris intensive Vortragskunst spürt man jederzeit die Poesie ihrer Worte, die über den flirrenden Klängen der Lauten, zu denen sich die uralte Rohrflöte Ney, die türkische Kastenzither Kanun sowie sanft tuckernde Percussions-Akzente gesellen, einen unwiderstehlichen Zauber in orientalischer Farbenpracht ausstrahlt.”
 
Gianluigi Trovesi & Gianni Coscia:  italienische Sommernachtmusik
Der Schriftsteller und Universalgelehrte Umberto Eco (1932–2016) war sein Leben lang mit dem Akkordeonisten Gianni Coscia befreundet und ein leidenschaftlicher Fan von Coscias Duo mit Gianluigi Trovesi.  Für jedes der drei vorangegangenen ECM-Alben des Duos hatte der Autor von “Der Name der Rose” und “Das Foucaultsche Pendel” Begleittexte verfasst. Auf “La misteriosa musica della Regina Loana” zollen Trovesi und Coscia nun ihrem verstorbenen Freund Tribut, wobei der Titel des Albums von Ecos teils autobiografischem Roman “La misteriosa fiamma della regina Loana” (Die geheimnisvolle Flamme der Königin) ableitet wurde. Und er inspiriert Trovesi und Coscia zu einer eigenen nostalgischen und explorativen Reise, bei der sie auf die im Buch erwähnte Musik verweisen und freie Assoziationen zu seinen philosophischen Themen herstellen. “Federleichte Musik verabreicht das Duo des Klarinettisten Gianluigi Trovesi und des Akkordeonspielers Gianni Coscia”, schrieb Ulrich Steinmetzger in der Leipziger Volkszeitung. “Alles bleibt transparent und wird mit durchtriebener Spielfreude in die Welt geschickt. […] Eine italienische Sommernachtmusik ist das, die Bekanntes sichtet, seziert, verfremdet, neu zusammensetzt und lustvoll arrangiert zu einem klugen Vergnügen. Zwei altersweise Schelme nähern sich dem Material, um sich wieder zu entfernen und es in kleinen oder großen Bögen verschmitzt einzukreisen. Das ergibt einen unbeschwerten und ein wenig ironischen Dialog, in dem geschwatzt und geschwelgt wird, wozu eine Spur Sentimentalität durchaus passt.” In Rondo meinte Werner Stiefele: “In seinem Rückblick auf die 1950er Jahre zitiert Eco gelegentlich Tagesschlager. Genau diese greifen nun der Akkordeonist Gianni Coscia und der Klarinettist Gianluigi Trovesi auf – hochachtungsvoll und bescheiden hinter den Melodien zurücktretend und diese liebevoll und zurückhaltend schmückend. Sie improvisieren wenig, sondern konzentrieren sich darauf, die Songs scheinbar schlicht, wohl aber anspruchsvoll zum Leben zu erwecken. Dabei bläst Trovesi mit klarem, manchmal humorigem, manchmal sentimentalem Ton. Gleich zweimal lassen sie Glenn Millers ‘Moonlight Serenade’ aufblühen, außerdem sind Evergreens wie ‘Basin Street Blues’, ‘As Time Goes By’, ‘Bella Ciao’ (hier ‘Fiscia il vento’ genannt) und ‘Bel ami’ in bezaubernden Versionen zu hören. Radioschlager aus den 1950ern, die Eco in seinem Roman erwähnt hat, sowie eigene Kompositionen des Duos ergänzen das Repertoire. Das alles kommt mit einer Leichtigkeit daher, die einen auf der Terrasse oder dem Balkon an Urlaub, Sommer und einen kühlen, frischen Weißwein im Glas denken lässt.”
 
Marco Ambrosini & Ensemble Supersonus: virtuos zwischen allen Stühlen
Den italienischen Nyckelharpa-Spieler Marco Ambrosini konnte man bei ECM erstmals 2006 auf Rolf Lislevands Album “Nuove Musiche” hören. Auf “Resonances” stellt er nun sein Ensemble Supersonus vor, das dem Hörer eine einzigartige Instrumentenmischung bietet, die hier noch durch den außerweltlichen Obertongesang von Anna-Maria Hefele ergänzt wird. In einem sehr weit gespannten Repertoire – das neben Kompositionen von Biber, Frescobaldi und Hildegard von Bingen auch schwedische Volksweisen, osmanische Hofmusik und Originalstücke der einzelnen Bandmitglieder umfasst – werden Brücken zwischen Kulturen und Traditionen geschlagen. “Schlichtweg sensationell müsste das Debüt von Marco Ambrosinis Ensemble Supersonus genannt warden, klänge dieses marktschreierische Attribut für die zarte, empfindliche Musik darauf nicht viel zu laut und vollmundig”, merkte Harry Schmidt in Jazzthetik an. “Was auf ‘Resonances’ zu hören ist, wirkt gleichermaßen gegenwärtig wie archaisch. Das seit 2014 bestehende Quintett erzielt seine ganz und gar eigenwillige Klangfarbmischung in einer Kombination ungewöhnlicher Instrumente […] Auch ohne Steckdose elektrisierend – man höre nur Eva-Maria Rusches famoses ‘Erimal Nopu’ oder das melismatische ‘Hicaz Hümâyun Saz Semâsi’ des im 18. Jahrhundert lebenden Komponisten Veli Dede. Weitere Highlights sind Bibers ‘Rosenkanz-Sonate Nr. 1’ und Stücke von Frescobaldi und Hildegard von Bingen.” In Stereoplay schrieb Ralf Dombrowski: “Die Musik des Nyckelharpa-Spezialisten und seiner ästhetischen Mitstreiter mit Instrumenten wie Harfe, Maultrommel, Harpsichord oder der Kastenzither Kannel ist so virtuos zwischen allen Stühlen, dass sie sich improvisierten Kontexten ebenso angliedert wie Alter Musik oder dem Barock. Und in Sachen Aufnahmetechnik ist das natürlich auch eine Herausforderung, die Manfred Eicher und sein ECM-Team mit Bravour meistern. Man hört Instrumente und Musik in ihrer Gesamtheit, herausragend in künstlerischer und studiotechnischer Brillanz.”
 
 
Enrico Rava & Joe Lovano Quintet: zwischen eleganter Coolness und kraftvollem Feuer
 
Im November 2018 tat sich Trompeter Enrico Rava, der im August 80 Jahre alt wurde und als Doyen des italienischen Jazz gilt, für eine kurze Tournee mit Joe Lovano zusammen, dem großartigen US-amerikanischen Tenorsaxophonisten sizilianischer Herkunft. Das denkwürdige Konzert, das sie im Rahmen ihrer Minitournee im Auditorium Parco della Musica in Rom gaben, wurde von ECM für das Album “Roma” aufgezeichnet. Zu erleben sind die beiden Meister in dieser Aufnahme mit einem ausgesprochen spritzigen Quintett, das sich aus Pianist Giovanni Guidi, Schlagzeuger Gerald Cleaver und Bassist Dezron Douglas zusammensetzt. “Eine perfekte italienisch-US-amerikanische Verbrüderung in Sachen Jazz”, urteilte Stefan Hentz in Jazzthing. “Im Mittelpunkt stehen dabei Rava und Lovano, zwei mit allen Wassern des Jazz der letzten Jahrzehnte gewaschene Melomanen, die einander bei dem Konzert, das sie im vergangenen November in Rom gaben, anstacheln, anheizen, und ein Feuer entfachen wie es sein soll. […] Es ist eine Freude zu hören, wie sich die beiden umgarnen, wie der eine Motive aus dem Spiel des anderen aufgreift, kommentiert, weiterspinnt. Großer Jazz.” In Kultur meinte Peter Füßl: “Beiden gemeinsam ist das vom kreativen Aspekt her äußerst ergiebige Spannungsverhältnis zwischen einer umfassenden Kenntnis der Jazztradition und dem stets präsenten Wunsch, auf möglichst unausgetretenen Pfaden musikalisches Neuland zu entdecken. Unter solchen Bedingungen fühlt sich aber auch der einfallsreiche und wendige Pianist Giovanni Guidi besonders wohl, der einstmals von Rava einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde und nun mit dem sehr erfahrenen und dynamischen Drummer Gerald Cleaver und dem vielbeschäftigten und in Jazz-Kreisen wegen seiner kraftvollen Virtuosität hoch gehandelten jungen Kontrabassisten Dezron Douglas eine hochkarätige Rhythm Section für dieses Quintett-Projekt zusammengestellt hat. Sie legen eine funkensprühende, facettenreiche und experimentierfreudige Basis für die zwischen eleganter Coolness und kraftvollem Feuer changierenden Flügelhorn-Soli Enrico Ravas, dem man es keineswegs anmerkt, dass er dieser Tage seinen 80. Geburtstag gefeiert hat. Der für seine lyrische Raffinesse bekannte Guidi zeigt sich auch von einer ungewohnt kraftvoll zupackenden Seite, und Joe Lovano schöpft die expressiven Möglichkeiten des Tenorsaxophons auf seine gewohnt beeindruckende Weise voll aus.”
 
 
Avishai Cohen & Yonathan Avishai: sehr individuelle und poetische Vision der Jazzgeschichte
 
“Playing The Room” zeugt von der langen und nicht nur musikalischen Freundschaft, die den Trompeter Avishai Cohen mit dem Pianisten Yonathan Avishai verbindet. Bereits als Teenager in Tel Aviv begannen sie gemeinsam den Jazz zu erkunden. Obwohl sich ihre Wege zwischenzeitlich trennten (Cohen ging nach New York, Avishai nach Frankreich), verloren sie sich nie wirklich aus den Augen und spielten immer mal wieder miteinander. Zuletzt war Yonathan auf Avishais beiden hochgelobten ECM-Alben “Into The Silence” und “Cross My Palm With Silver” zu hören. “Playing The Room” ist ein Dialog zwischen Freunden, die in der Musik Ideen austauschen, individuelle Statements abgeben sowie über die Jazzgeschichte und persönliche Assoziationen reflektieren. “Ein Musterbeispiel für die Magie zwischen zwei offenohrigen Musikern, die einander schätzen und sich ganz auf den Moment einlassen”, bemerkte Stefan Hentz in Jazzthing. “In ihrem Duo lassen sie alles Beiwerk beiseite und konzentrieren sich auf das Wesentliche: auf neun Kompositionen, aus deren Gestalt, aus den Melodien, den Harmonien und den Momenten der Stille sie ihre sehr individuelle und poetische Vision der Jazzgeschichte entwerfen.” In der österreichischen Wochenzeitung Falter kommentierte Klaus Nüchtern: “Der Albumtitel ‘Playing The Room’ ist gut gewählt, denn tatsächlich hat man als Zuhörer den Eindruck, in einem Raum zu sitzen und dieser auch in ihrem Romantizismus stets luziden Musik im Prozess ihres Erspieltwerdens zu lauschen. Dass auch leichtfüßige Coverversionen von so diversen Stücken wie Ornette Colemans ‘Dee Dee’ und Stevie Wonders ‘Sir Duke’ erklingen, trägt zum Reiz dieser intimen Zwiesprache noch bei.” Und in Stereoplay schrieb Ralf Dombrowski: “Beide sind emphatische Erzähler, lieben es, am Detail zu arbeiten, ohne dabei das gestalterische Ganze zu vergessen, und können sich vor allem im Sinne einer musikalischen Gesamtwirkung zurücknehmen. Avishai Cohen hat einen hinreißend anschmiegsamen Trompetenton bei strahlender Klarheit, Yonathan Avishai ist ein pianistisch romantischer Reduktionist in ferner Nachfolge von Fred Hersch. Beide im Duo in Lugano vor den Mikrophonen von ECM ist ein melodischer Genuss, ein wohlwollend ausdrucksstarkes Kammerspiel zweier Musiker, die sich umranken, zuspielen, vertrauen.”
 
 
Louis Sclavis Quartet: subtiles Spiel mit Farben und Nuancen
 
In einer für ihn eher ungewöhnlichen, nämlich klassischen Jazzquartettbesetzung mit Klavier, Bass und Schlagzeug präsentiert sich der Klarinettist Louis Sclavis auf seinem jüngsten ECM-Album “Characters On A Wall”, für das er sich – wie bereits 2002 bei “Napoli’s Walls” – von der interventionistischen Streetart Ernest Pignon-Ernests inspirieren ließ. Das kanonische Quartett-Format scheint gut zum Thema des Albums zu passen, wenn man bedenkt, dass Pignon-Ernest als Klassizist unter den Straßenkünstlern gilt, der technische Beherrschung und kompositorische Eleganz mit einem Gespür für subtile Farbgebung und emotionales Drama ausbalanciert. “Louis Sclavis ist ein Musiker, der das Nicht-Eindeutige, das reizvoll Schillernde beherrscht”, meinte Roland Spiegel im Bayerischen Rundfunk. “Seine Klänge werfen gern Fragen auf, er treibt ein subtiles Spiel mit Farben und Nuancen. Das gelingt ihm auf dieser CD besonders gut. Manchmal mit Tönen, denen ein Minimum an Bewegung genügt – das sind dann oft tiefe Töne, die auch im übertragenen Sinn in Tiefenregionen vordringen. Es sind Klänge, die etwas von einer Filmmusik haben. Und es ist wirklich Musik zu Bildern. Aber zu nicht bewegten Bildern. Louis Sclavis ist fasziniert vom Werk des französischen Künstlers Ernest Pignon-Ernest, der Mauern in Paris, Neapel oder auch Ramallah mit Schwarzweiß-Zeichnungen versah, denen oft eine lebensechte Dramatik innewohnt. […] Die meisten Stücke auf dieser CD sind Kompositionen, zwei sind offenbar freie Improvisationen, nur als ‘Skizzen’ benannt. Und alle entwickeln sie ein Eigenleben, das nicht kalt lassen kann. In einigen wenigen Momenten auch mit schnellen Tönen, in denen das Dramatische offener zutage tritt. Jazz mit ganz eigenen, neuen Horizonten – einer, der sich mit der Welt auseinandersetzt und selber dadurch viel gewinnt.” In der Frankfurter Rundschau schrieb Hans-Jürgen Linke: “Vor allem Sclavis' Bassklarinette ist es, die mit ihren tiefräumigen Nuancen, ihrer klanglichen Weite, ihren spröden und fragilen Obertönen melodische Linien ausspannt und Klangwelten entwirft, die den plastischen Bildwirkungen Pignon-Ernests und seiner vehement behaupteten Unentschiedenheit zwischen Historismus und resoluter Gegenwärtigkeit gewachsen sind. […] Das alles geschieht über weite Strecken mit einer Behutsamkeit in der Artikulation, als habe man es bei dieser Musik mit heikel-fragilen Objekten zu tun, die bei unvorsichtiger Berührung schon zu unstrukturiertem Staub zerfallen könnten. Manchmal aber macht die Band auch die Leinen los und improvisiert sich mit Entschlossenheit über Abgründe hinweg, die gleichwohl im Vorbeitstürmen deutlich wahrnehmbar bleiben.”
 
 
Ethan Iverson Quartet feat. Tom Harrell: Belastungsprobe für Evergreens
 
Seit den 1980er Jahren galt das sogenannte Standards Trio von Keith Jarrett mit Gary Peacock und Jack DeJohnette als der Maßstab schlechthin, wenn es um die kreative Interpretation von Stücken aus dem “Great American Songbook” ging. Jetzt zeigt Pianist Ethan Iverson auf seinem ersten ECM-Soloalbum “Common Practice”, dass er mit einem hochkarätigen Quartett live im legendären Village Vanguard einspielte, dass er die Fackel von Jarrett übernehmen könnte. Gemeinsam mit dem brillanten Tom Harrell (der 2018 von der US-amerikanischen Jazz Journalists Association zum Trompeter des Jahres gekürt wurde), Bassist Ben Street und Drummer Eric McPherson bietet er ein fabelhaftes Programm aus Jazzstandards, unter das er die zwei unwiderstehliche bluesige Eigenkompositionen gemischt hat. “Es gibt keine Zukunft ohne Vergangenheit”, postulierte Peter Rüedi in der Weltwoche. “In der Kunst meint diese Banalität: jede Innovation wächst aus einem Fundus, aus kollektiven und individuellen Erfahrungen. Das voraussetzungslos Neue ist eine Illusion. Kühne Flüge ins Unerhörte heben allemal vom Boden des Überkommenen, Übernommenen ab – und sei’s im Widerspruch dazu. Um etwas zu negieren, muss man es erst einmal zur Kenntnis nehmen. So ist ein Album wie das jüngste, das Ethan Iverson, bis 2017 Pianist des Kulttrios The Bad Plus, im Quartett mit dem fast dreißig Jahre älteren Trompeter Tom Harrell und einer Rhythmusgruppe seiner Generation (dem Bassisten Ben Street und dem Drummer Eric McPherson) im New Yorker Club Village Vanguard aufgenommen hat, trotz seines Repertoires aus fast lauter Standards keineswegs ein antiquarisches oder gar reaktionäres Unternehmen, vielmehr, nicht anders als Keith Jarretts Trio gleichen Namens, zeitgenössischer, aktueller, inspirierter Jazz, der aus der Reibung mit den alten, endlos interpretierten Vorlagen die überraschendsten Funken schlägt. […] Namentlich der Pianist beherrscht die Gratwanderung zwischen kühnen Verschiebungen und schrägen Unterfütterungen der alten Ohrwürmer und deren Beschwörung in Perfektion, und Harrell verbindet wie keiner eine Postbop-Virtuosität mit einer warmen, melodiösen Trompetenkunst im Sinn von ‘songs without words’. Street und McPherson bilden eine ebenso swingende wie überraschende, flexible Rhythmik.” Im Mannheimer Morgen Georg Spindler: “'Common Practice' bietet ausschließlich Blues und Standards, aber Iverson interpretiert sie auf abenteuerliche Weise. Mit Ben Street (Bass) und Eric McPherson (Schlagzeug) unterzieht er die Evergreens einer vor Spannung berstenden Belastungsprobe; Rhythmen werden in kollektivem Austausch durcheinandergewirbelt, Harmonien bis in dissonante Grenzbereiche ausgereizt. […] Dazu spielt Harrell zutiefst anrührende Soli, die in ihrer Fragilität an den späten Chet Baker erinnern. Sein Trompetensound umhüllt die Härte des Metalls mit hauchiger Zartheit. Während Iverson, der Denker, eher ungeahnte harmonische Möglichkeiten auslotet, dringt Harrell zum emotionalen Kern der Stücke vor.”
 
 
Maciej Obara Quartet: von kraftvoll-expressiv bis beseelt-balladesk
 
“Three Crowns”, sein zweites Album für ECM, hat Maciej Obara nach dem Trzy-Korony-Berg (Drei-Kronen-Berg) des südpolnischen Pieninen-Gebirgszugs benannt. Entsprechend ist auch die Performance des Quartetts des polnischen Altsaxophonisten, das hier – aufbauend auf den Erfolg seines ECM-Debüts “Unloved” – neue musikalische Gipfel erklimmt. Neben sechs frischen Eigenkompositionen präsentiert Obara mit Pianist Dominik Wania, Bassist Ole Morten Vågan und Schlagzeuger Gard Nilssen auch faszinierende Interpretationen zweier Werke des polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010). “Den reißenden Strom seiner Improvisationsmusik mit seinen vielen Untiefen, Verengungen und Kaskaden hat Obara nun gleichsam durch Staustufen gebändigt und die aufbrausenden Wellen geglättet”, meinte Martin Laurentius in Jazzthing. “Wie unter einem Mikroskop lassen sich nun viele Details erkennen und analysieren, die zuvor vorbeigerauscht sind: dass Wania beispielsweise seinem Bandleader wagemutig bis in die entlegensten Winkel des harmonischen Raums folgt – vice versa; oder dass Vågan und Nilssen auch gerade dadurch das rhythmische Fundament unter Spannung setzen, weil sie die Dynamik ganz herunterschrauben. Eine Klasse für sich!” In Kultur schrieb Peter Füßl: “Obara legt den zwischen sechs und zehn Minuten langen Stücken zwar klare Strukturen und starke Melodien zugrunde, lässt sich selber und den kongenialen Kollegen aber viel Raum, diese mit individuellen Fähigkeiten, kreativen Ideen und solistischen Highlights aufzuladen und somit auf ein neues musikalisches Level zu heben. Die kraftvoll-expressiven und beseelt-balladesken Altsaxophonimprovisationen korrespondieren auf wundervolle Weise mit den ausdrucksstarken und oftmals auf anziehende Weise versonnen wirkenden Soundlandschaften des Pianisten Dominik Wania […] Dass das exzellente norwegische Rhythmus-Gespann mit dem das musikalische Geschehen erdenden, manchmal aber auch zum Überfliegen einladenden Ole Morten Vågan am Kontrabass und dem gleichermaßen explosiv wie sensibel agierenden Gard Nilssen an den Drums über weite Strecken völlig gleichberechtigt mit Obara und Wania agiert, ist keine große Überraschung, verblüffend ist dennoch, mit wieviel Verve und Einfallsreichtum sie ganz besondere Akzente zu setzen verstehen. Mit diesem Album setzt das Quartett seinem bisherigen Schaffen nicht nur eine, sondern gleich drei Kronen auf. Ein intensives Vergnügen, das mit jedem Durchlauf neuerlich wächst.”
 
 
Kit Downes: ein talentierter Exot
 
Mit “Dreamlife Of Debris” knüpft Kit Downes an sein letztjähriges ECM-Debütalbum an, erweitert und entwickelt aber zugleich die dort begonnenen Prozesse und Kernideen. Während “Obsidian” (fast ausschließlich) ein Kirchenorgel-Soloalbum war, wollte Downes das Instrument diesmal in einem breiteren Kontext präsentieren und auch das Klavier in das größere kompositorische Gesamtbild einbringen. Für das neue Projekt zog der Brite, der 2019 in der DownBeat International Critics Poll zum # 1 Rising Star sowohl in der Klavier- als auch Keyboard-Kategorie gekürt wurde, in erster Linie Musiker heran, mit denen er schon seit langem Verbindungen unterhält: Tenorsaxophonist Tom Challenger, Cellistin Lucy Railton und Schlagzeuger Seb Rochford. Zu einer ersten musikalischen Begegnung kommt es hier indes mit dem norwegischen Gitarristen Stian Westerhus. “Kit Downes verschlägt den Zuhörer in rätselhafte Szenarien”, bemerkte Georg Spindler im Mannheimer Morgen. “Auf der Kirchenorgel, die er ungewöhnlich – leise, schwerelos, nahezu entmaterialisiert – spielt, am Piano, auf dem er rhapsodierende Wellen schlägt, und in der Interaktion mit Saxofon, Cello, E-Gitarre und Schlagzeug lässt er einen spirituellen Klangraum entstehen. Ein Refugium, in dem die Zeit aufgehoben zu sein scheint: Choralartige Akkordfolgen führen zurück in archaische Vergangenheit, meditative Minimal-Music-Muster kreisen um die Ewigkeit, abstrakte, zum Teil elektronische Klang-Collagen weisen in futuristische Fernen. […] Faszinierend.” In Sounds & Books meinte wiederum Sebastian Meißner: “Die Musik von Downes gewinnt durch die Mitstreiter an Raum und Wirkung. Statt dauerpräsent zu sein, kann der Pianist seine Melodien dosieren und effektiver einsetzen. Zudem ist vor allem das Spiel des Tenorsaxophonisten Challenger sowie des Gitarristen Westerhus eine willkommene Bereicherung im Klangkosmos seiner Kompositionen. Das entrückte ‘Circinus’ zum Beispiel entwickelt im Zusammenspiel der drei Melodieinstrumente einen hypnotischen Sog, der nachhallt. Auch ‘Sunflower’ und ‘Twin’ beziehen ihren Reiz aus der intensiven Interaktion der Musiker. Aufgenommen wurde das Album zum einen in der Church of St. John the Baptist in Snape im ländlichen Suffolk und zum anderen in der St. Paul’s Hall, einer umgebauten Kirche der University of Huddersfield. Auch die Wahl dieser historischen Orte trägt zum Zauber der Aufnahmen bei. Denn klanglich haftet den Aufnahmen auch in Bandbesetzung etwas Sakrales an, das über die eigentliche Musik hinausdeutet. Und so ist ‘Dreamlife Of Debris’ alles in allem eine stimmige Weiterentwicklung der auf ‘Obsidian’ gepflanzten Vision von Downes. Die Wertschätzung für diesen talentierten Exoten dürfte also mit dieser Platte weiter steigen.”
 
 
Julia Hülsmann Quartet: Reduktion als Gewinn
 
Auf ihrem siebten ECM-Album “Not Far From Here” stellt Julia Hülsmann eine neue Band vor, deren Rückgrat wieder von Bassist Marc Muellbauer und Schlagzeuger Heinich Köbberling gebildet wird, mit denen die Pianistin nun schon seit siebzehn Jahren eng zusammenarbeitet. Den Platz des britischen Trompeters Tom Arthurs, der auf “In Full View” (2013) und “A Clear Midnight: Kurt Weill And America” (2015) zu hören war, nimmt jetzt der Berliner Tenorsaxophonist Uli Kempendorff ein. Kempendorff, dem Wolf Kampmann in Jazzthetik einmal sowohl “viel Geschmeidigkeit” als auch “viel Widerspenstigkeit” attestierte, versorgt das Gruppen-Konzept mit frischer Energie und neuen Perspektiven, während er gleichzeitig dem ausgeprägten Sinn für Melodien Rechnung trägt, der in Julia Werken von zentraler Bedeutung ist. “Jazz, so traumwandlerisch wie streng”, meinte Tobias Stosiek im Bayerischen Rundfunk. “Julia Hülsmann und ihre Mitspieler erkunden im Album ‘Not Far From Here’ das Missverständnis als Chance und die Reduktion als Gewinn. Das ist nicht nur faszinierend, sondern schlicht und einfach wunderschön […] Nicht weit weg – ‘Not Far From Here’ – das ist Titel und Programm des neuen Albums von Julia Hülsmann. Diesmal mit gleich drei Männern an ihrer Seite: Uli Kempendorff erweitert das schon seit 17 Jahren bestehende Trio um den Bassisten Marc Muellbauer und den Schlagzeuger Heinrich Köbberling. Nicht weit weg – das klingt lapidar, ist aber ziemlich selbstbewusst. Motto einer Künstlerin, die angekommen ist. Die weiß, dass sie keine großen Sprünge machen muss, um den richtigen Ton zu finden. […] auftrumpfend virtuos ist hier nichts. Im Gegenteil: Selbst dort, wo die vier das Tempo anziehen, bleiben die Töne plastisch, hinterlassen Spuren in der Wahrnehmung. Als hätte man eine Zeitlupe vor den Ohren.” Im NDR kürte Mauretta Heinzelmann “Not Far From Here” zum Album der Woche und schrieb: “Mit den ersten Tönen eröffnet sich ein weiter Raum, ruhig und doch sehr energiegeladen, ein Raum, in dem alles möglich scheint. Diese klare Stimmung zeichnet das Album aus, das von einer nachdenklichen Atmosphäre geprägt ist, die doch auch in verspielte Heiterkeit umschlagen kann. Die Kompositionen auf dem Album sind überwiegend von Hülsmann und ihren Bandkollegen, individuell und ausdrucksstark und auf das Wesentliche konzentriert. Kontrastierende Melodien verbinden sich in der Improvisation wie in einer Synthese. Julia Hülsmanns Konzept ist das einer kontinuierlichen Zusammenarbeit: Ihr Trio besteht seit 17 Jahren und hat sich immer wieder erneuert durch das Zusammenspiel mit Gästen und durch die Auseinandersetzung mit verschiedenem Material, z.B. Songs der Beatles. Auf dem neuen Album steht ‘This Is Not America’ im Mittelpunkt. Saxophonist Uli Kempendorff interpretiert David Bowies Song zart und in ausdrucksstarken Statements. Er fügt sich perfekt in die Gruppe ein – mit seiner Sensibilität, seiner offenen Haltung und seiner direkten und authentischen Art, Geschichten zu erzählen. Julia Hülsmann kreiert eine Atmosphäre des gelassenen Vertrauens, das auf einem gegenseitigen intensiven Zuhören basiert. ‘Not Far From Here’ ist ein ganz besonderes ECM-Album in dem Jahr, in dem die Plattenfirma bereits ein halbes Jahrhundert besteht.”
 
 
Keith Jarrett: Klavier- und Improvisations-Virtuose auf dem Gipfel seines Schaffens
 
Seine letzte Solo-Europatournee schloss Keith Jarrett am 16. Juli 2016 in der Münchener Philharmonie mit einem umjubelten Konzert ab. An diesem Abend schienen der Phantasie des großartig improvisierenden Pianisten neue Flügel gewachsen zu sein. Mit der Sicherheit eines erfahrenen Baumeisters erschuf Jarrett aus Formen ad hoc eine Suite, in die er zwischen Stücke von polyrhythmischer und harmonischer Komplexität immer wieder simple Blues-Motive und lyrische, folksongähnliche Elemente einstreute. Nach Meinung vieler Beobachter lieferte der Pianist an diesem Abend, der auf der Doppel-CD “Munich 2016” dokumentiert ist, eine seiner allerbesten Darbietungen ab. “Jede Nuance, jede Feinheit in der Stimmführung seiner teils weitverzweigten Tongebilde ist wahrnehmbar”, meinte Ulrich Habersetzer in Deutschlandfunk Kultur. “Sein ungemein transparenter Sound macht dies möglich. Klavierkönner jedes Genres beneiden Jarrett um dieses einzigartige Gefühl für die Tasten. Auf dem neuen Doppelalbum gibt es viele dieser Jarrett-Markenzeichen zu erleben: Das innige Singen von ad hoc entstandenen Ohrwürmern, lässiges Sich-treiben-lassen, subtil-gesponnene Tongeflechte, wabernde Klangwolken, aber auch komplex-kristalline Tonkaskaden. […] Ein Keith Jarrett in Hochform ist auf dem Album zu hören, der auch die obligatorischen Jazzstandards als Zugabe nicht fehlen lässt. Und auch beim Wiederhören bekommt man eine leichte Gänsehaut, wenn der Meister ganz zum Ende sein ‘Over The Rainbow’ auf die Tasten tupft.” In Fono Forum schrieb Reiner H. Nitschke: “Ein großartig klingender und perfekt gestimmter Steinway leistete seinen Beitrag zu einem Konzertgenuss, den man nun auf zwei CDs nachvollziehen kann. […] Mit dem dritten Stück liefert Jarrett schon sehr früh einen der lyrischen Höhepunkte des Abends. Ohne auf Versatzstücke zurückzugreifen, zaubert er eine berückende Melodie, die die Substanz für einen Standard hat. […] Frappierend die Perfektion von Anschlag und Intonation. Man könnte so stundenlang mitreisen, im Geiste die Spätromantiker aufleben lassen, Schemen des Akkord-Tüftlers Skriabin heraushören […] Kaum hat sich der frenetische Beifall gelegt, rundet Jarrett den Charakter eines berührenden Abends durch drei betörende Zugaben ab.” Und in der Abendzeitung bilanzierte Ssirus W. Pakzad: "An diesem 16. Juli 2016 stürzte Keith Jarrett sich und seine Zuhörer in ein Wechselbad der Gefühle. Auf sanftes Pathos sollte ein übermütiger Blues folgen. Dann wieder: ein ganz in sich gekehrter Keith Jarrett. Dieses Konzert, das mit einer zum Heulen schönen Fassung des Klassikers ‘Over The Rainbow’ endete, wurde zum Glück für die Nachwelt festgehalten. Es zeigt den Klavier- und Improvisations-Virtuosen auf dem Gipfel seines Schaffens.