Auch mit 90 Jahren lässt sich der Bandoneónist Dino Saluzzi noch auf musikalische Abenteuer ein. Sein neues Album “El Viejo Caminante” hat er im Trio mit zwei Gitarristen eingespielt: seinem Sohn José María Saluzzi und dem Norweger Jacob Young.
José María Saluzzi / Dino Saluzzi / Jacob Young (c) Geir Bjarne Listhaug
11.07.2025
Das einzigartig stimmungsvolle Bandoneón von Dino Saluzzi wird auf “El Viejo Caminante” (“Der alte Wandersmann”) sanft von zwei Gitarren umspielt. Auf dem neuen Album, das voller musikalischer Tiefe und großem Charme ist, wird der Argentinier von seinem Sohn und langjährigen Spielpartner José María Saluzzi sowie dem Norweger Jacob Young unterstützt. “Es erfüllt mich mit Freude”, sagt Dino Saluzzi, den die klangliche Mischung aus Josés klassischer Gitarre und Jacobs Telecaster sowie akustischer Stahlsaitengitarre schier entzückt. “Jacob und José sind ein sehr gutes Team. Sie haben unterschiedliche Sounds und Vorstellungen, aber wenn es um das künstlerische Ergebnis geht, passiert etwas Wunderbares.” Saluzzi, der im Mai 90 Jahre alt geworden ist, hat nichts von seinem jugendlichen Enthusiasmus für künstlerische Zusammenarbeiten oder das Überschreiten stilistischer Grenzen verloren. “Ich bin immer bestrebt, mit neuen Ideen, die außerhalb meines normalen Elements liegen, in Kontakt zu treten”, sagt er. Nach wie vor sucht er nach Kontexten, die, wie er es ausdrückt, “Potenzial für musikalisches und menschliches Wachstum” bieten.
Die Verbindung zu Jacob Young knüpfte er, als dieser 2022 mit José Saluzzi Duo-Konzerte in Argentinien gab. Bei einem Auftritt der beiden in Buenos Aires saß Dino im Publikum. Nach dem Konzert fragte er Jacob, ob dieser im darauffolgenden Jahr für ein Trio-Aufnahmeprojekt zurückkehren würde. Young fühlte sich geehrt, von dem großen Bandoneónisten zum Zusammenspiel eingeladen zu werden. Und er freute sich doppelt, als dieser ihn bat, eigenes Material für die Aufnahme beizusteuern. Young zeichnete auf dem Album gleich für drei Stücke verantwortlich, darunter das musikalische Porträt “Dino Is Here”, das eine Hommage an den Bandoneón-Meister ist und in die Rubato-Welt des Tangos eintaucht. In dieser ist die Auffassung des Pulses dehnbar und die Stimmungen haben oft eine größere Nähe zur Kammermusik als zum Jazz. Im zentralen modalen Teil des Stücks dienen die Gitarren als vielschichtiges rhythmisches Fundament, “um Dino Raum zu geben, darüber zu kommentieren und frei zu sein”.
Unter Dino Saluzzis eigenen Kompositionen befinden sich einige Überarbeitungen früherer Werke. Wer die ECM-Geschichte des Argentiniers seit ihren Anfängen im Jahr 1982 verfolgt hat, erinnert sich vielleicht noch an “Tiempos De Ausencias”. Das Stück stammt von dem 1986 entstandenen Album “Volver”, Saluzzis temperamentvoller Zusammenarbeit mit dem italienischen Trompeter Enrico Rava. “Y Amo A Su Hermano Hasta El Final” war hingegen Teil des Repertoires eines kurzlebigen Trios, das Saluzzi 1990 mit dem Saxofonisten Charlie Mariano und dem Pianisten Wolfgang Dauner unterhielt. Und obwohl es verlockend ist, sich Dino als den alten Wandersmann des Titelstücks vorzustellen – nicht zuletzt, weil er es hier solo spielt -, so ist “El Viejo Caminante” doch eine alte, klassische Saluzzi-Nummer. Es ist eine lebhafte Charakterstudie, die der Bandoneon-Meister schon vor langer Zeit entwarf und zum ersten Mal spielte.
Saluzzi betrachtet das neue Album als eine Sammlung von Musik aus verschiedenen Zeiten und Orten, die Elemente des Tango, der argentinischen Volksmusik und des Jazz aufgreift und aus diesen Anspielungen etwas Neues erschafft. Der Bezug zum Jazz ist diesmal durch die Interpretation zweier Standards – “Someday My Prince Will Come” und “My One and Only Love” – sowie Karin Krogs “Northern Sun” sogar noch konkreter als sonst. Mit seinem breit gefächerten Repertoire, der Auswahl der Kompositionen und dem ungewöhnlichen Ensembleklang wirkt “El Viejo Caminante”, wie José Saluzzi bemerkt, “besonders und sehr organisch”. Ein Stück von José, “La Ciudad De Los Aires Buenos”, lädt den Hörer in die spezielle Klangwelt des Albums ein und wirkt wie eine Ouvertüre, die einen Einblick in die Regionen bietet, die im Folgenden erkundet werden.
Das von Dino Saluzzi geschriebene Stück “Buenos Aires 1950” ist ein Rückblick in die Zeit, als der 14-jährige Dino sein erstes eigenes Trio gründete und zugleich Mitglied des Orquesta de Radio El Mundo war. “Dieses Bandoneón begleitet mich schon seit Jahren. Manchmal rührt es mich zu Tränen, manchmal spricht es zu mir, aber es erzählt mir nie alles”, verriet Saluzzi dem Publikum bei einem Trio-Konzert kurz vor der Aufnahme des Albums. In dieser speziellen Konstellation schmücken die beiden Gitarristen die Erinnerungsfragmente aus und entwickeln die Geschichte weiter, die einerseits nostalgisch ist, aber auch dauerhafte Lehren für die Gegenwart bietet.
Dino Saluzzi zählt seit mehr als einem halben Jahrhundert zu den wichtigsten Figuren der zeitgenössischen südamerikanischen Musik. Er wurde 1935 in Campo Santo im Norden Argentiniens geboren und leitete bereits im Alter von 14 Jahren seine erste eigene Band, das Trio Carnival. Während seines Studiums in Buenos Aires begann er, professionell zu spielen. Seine ECM-Diskografie startete er 1982 mit dem Soloalbum “Kultrum”, auf dem der Bandoneónist seine hohe Kunst des musikalischen Geschichtenerzählens auf spontane und zugleich beispielhafte Weise demonstrierte. Das Album war zudem die erste von vielen “imaginären Rückkehren” in die Städte und Dörfer seiner Kindheit. Seit Anfang der 1980er Jahre hat Saluzzi mit zahlreichen europäischen und amerikanischen Jazzmusikern zusammengearbeitet – auf Initiative von ECM unter anderem mit Charlie Haden, Palle Mikkelborg und Pierre Favre (“Once Upon A Time – Far Away In The South”, 1985), mit Enrico Rava (“Volver”, 1986), mit Tomasz Stańko und John Surman (auf Stańkos Album “From The Green Hill”, 1998) sowie mit mehreren Mitgliedern der Saluzzi-Familie und dem Perkussionisten U.T. Gandhi auf “Juan Condori” (2005).
Auch mit der deutschen Cellistin Anja Lechner ist Dino Saluzzi durch eine langjährige Zusammenarbeit verbunden, die 1996 begann. Ihre erste gemeinsame Aufnahme entstand mit dem Rosamunde Quartett (“Kultrum”, 1998). Es folgten Alben in verschiedenen Formationen, vom Duo (“Ojos Negros”, 2006) über das Trio (“Navidad De Los Andes”, 2011) bis hin zum Orchester (“El Encuentro”, 2009). Dino Saluzzi ist mit der Cellistin auch in der ECM-Dokumentation “Sounds And Silence – Travels With Manfred Eicher” (2011) zu sehen.´
José María Saluzzi, geboren 1975, machte seine ersten Aufnahmen mit Dino im Alter von 15 Jahren auf dem ECM-Album “Mojotoro” (1992), auf dem er Schlagzeug spielte. Als Gitarrist mit einem eigenen Sound trat er später auf den Alben “Cité de la Musique” (1997) und “Responsorium” (2003) hervor, auf denen die Saluzzis von Marc Johnson bzw. Palle Danielsson unterstützt wurden. José ist seit langem ein wichtiges Mitglied der Saluzzi-Familienband und steuerte sowohl eigene Kompositionen als auch seine Gitarrenkünste zu Alben wie “Juan Condori” (2005) und “El Valle De La Infancia” (2014) bei.
Jacob Young, 1970 im norwegischen Lillehammer geboren, wurde von seinem amerikanischen Vater in den Jazz eingeführt und begann im Alter von 12 Jahren, Gitarre zu spielen. Nach seinem Musikstudium an der Universität Oslo besuchte er die New School for Jazz and Contemporary Music in New York, wo er unter anderem von Jim Hall und John Abercrombie unterrichtet wurde. Bei ECM hat Young bisher vier Soloalben veröffentlicht: “Evening Falls” (2002), “Sideways” (2007), “Forever Young” (2014) und zuletzt “Eventually” (2023). Außerdem ist er auf dem Album “Third Round” (2010) des Schlagzeugers Manu Katché zu hören.
“El Viejo Caminante” wurde im April 2023 im Saluzzi Music Studio in Buenos Aires aufgenommen.