Charles Lloyd | News | Saxofon statt Schreibfeder - die berückende Tonpoesie von Charles Lloyd

Saxofon statt Schreibfeder – die berückende Tonpoesie von Charles Lloyd

Nachdem sich Charles Lloyd & The Marvels auf ihren gefeierten ersten beiden Alben mit Gastvokalisten präsentiert hatten, sind sie auf “Tone Poem” erstmals ganz unter sich.
Charles Lloyd - Tone Poem
Charles Lloyd - Tone Poem
11.03.2021
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Einer verschlungenen Improvisationslinie von Charles Lloyd zu folgen, ist als würde man in einer Spirale aus den friedvollen Tiefen der eigenen Seele zu den chaotischen Gefilden jenseits von ihr aufsteigen. Mit seinem Tenorsaxofon möchte Lloyd nach eigenem Bekunden “einen Weckruf ausstoßen und zu Wahrheit und Liebe aufrütteln”. Als zärtlicher Krieger, der sich der Heilung verschrieben hat, lehnt er Trennlinien in seiner Musik ab: “Das würde der Tradition, der ich diene, nicht gerecht werden. Du musst deinen Zaubertrank haben, und diesen Zaubertrank findest du im Klang und im Ton. Ich lebe in Ehrfurcht, trunken von der Musik.”
Seit über fünf Jahren bildet Charles Lloyd mit dem Gitarristen Bill Frisell, dem Pedal-Steel-Gitarristen Greg Leisz, dem Bassist Reuben Rogers und dem Schlagzeuger Eric Harland nun schon die wahrlich traumhafte Band The Marvels. In ihr ist Lloyd zugleich Leader und treuer Diener, der auf seinem Hauptinstrument, dem Tenorsaxofon, in vielfältigen Sprachen spricht, die weder Wörter haben noch brauchen. Auf ihrem Debütalbum “I Long To See You” präsentierten sich Charles Lloyd & The Marvels 2016 dennoch mit den Gastvokalisten Norah Jones und Willie Nelson. Und das Nachfolgealbum “Vanished Gardens” entstand 2018 mit der einzigartigen Lucinda Williams, die in der Hälfte der Stücke zum Zuge kam und auch vier eigene Songs zum Repertoire beisteuerte. Auf “Tone Poem” ist der Saxofonist mit seiner “Wunderband” nun erstmals ohne Gastsänger/innen zu hören.
Auf unnachahmliche Weise verweben Charles Lloyd & The Marvels die verschiedensten Fäden traditioneller amerikanischer Musik – Jazz, Blues, Gospel, Americana, Country und Rock – zu einem mitreißenden und erhebenden musikalischen Hybrid. Den Auftakt machen sie auf “Tone Poem” mit “Peace” und “Ramblin’”, zwei großartigen Stücken aus der Feder von Ornette Coleman. Beide Nummern gehörten bislang nicht zu Lloyds Repertoire, aber die Band hat sie sich auf so natürliche Weise angeeignet, dass es klingt, als spiele sie die Stücke schon seit einer Ewigkeit.  Auf das atemberaubende “Ramblin’” folgt eine zum Heulen schöne Interpretation von Leonard Cohens Anthem”, die reinste Tonpoesie ist.
Danach setzt Charles Lloyd mit zwei Eigenkompositionen seine ganz eigene Duftmarke. Zuerst mit dem unglaublich leichtfüßigen und humorigen “Dismal Swamp”, für das er vom Tenorsax zur Querflöte wechselt. Und dann mit dem wunderbaren  Titelstück “Tone Poem”, dem er hier ein sonnigen karibischen Charme verleiht, der in starkem Kontrast zu der ekstatischen Version steht, die Lloyd 1985 mit Michel Petrucciani, Cecil McBee und Jack DeJohnette für den Konzertfilm “One Night With Blue Note” eingespielt hatte.
Weiter geht es dann mit einer sehr stimmungsvollen Interpretation des Thelonious-Monk-Klassikers “Monk’s Mood” und einer Live-Aufnahme mit dem schmachtenden Bolero “Ay Amor” des kubanischen Sängers, Pianisten und Songwriters Ignacio Jacinto Villa Fernández, der allgemein unter dem Künstlernamen Bola de Nieve (Schneeball) bekannt war. Bevor Lloyd das Programm mit einer weiteren Eigenkomposition, dem inbrünstigen “Prayer”, würdig beschließt, greift er noch einmal zur Querflöte, um mit “Lady Gabor” seinem alten verstorbenen Freund und allerersten Gitarristen Gábor Szabó Tribut zu zollen.
Die Doppel-Vinyl-Ausgabe von “Tone Poem” ist übrigens die erste Neuveröffentlichung, die als Teil der gefeierten audiophilen “Tone Poet”-Serie erscheint, die von Joe Harley (Music Matters) betreut wird. Dem wiederum hatte Charles Lloyd für sein außerordentliches Gespür für die Klangästhetik des LP-Formats bekanntlich einst den Ehrentitel “Tone Poet” verliehen, den Harley heute mit Stolz trägt.
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