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Tord Gustavsen Trio: Melodien und Improvisationen, die einem inneren Drang folgen

Auf “Opening” stellt das Tord Gustavsen Trio mit Steinar Raknes seinen neuen hervorragenden Bassisten vor, der dem Ensemble völlig neue Möglichkeiten eröffnet.
Tord Gustavsen Trio
Tord Gustavsen Trio
07.04.2022
Auf seinem neuen Album “Opening” entwickelt Tord Gustavsen einige der Merkmale und Stile weiter, mit denen er sich schon in seinen früheren Werken auseinandergesetzt hat. Zur gleichen Zeit führt er in das Repertoire seines Trios aber auch ein breiteres Spektrum an Geschmeidigkeit und einen verwandelten Sinn für Zusammenspiel ein. “Opening” ist das erste Album des Tord Gustavsen Trios mit Steinar Raknes am Bass. Der Neuling fühlt sich an der Seite seiner Kollegen hörbar wohl und fügt sich schnell zwischen Tord Gustavsens raffinierten Akkordstudien und Jarle Vespestads delikatem Spiel mit Trommelstöcken und Jazzbesen ein.
Ganz im Einklang mit dem Titel des Albums zeichnet sich die Musik durch eine besonders auffällige Offenheit aus, die von weitläufigen Improvisationen geprägt ist und von einer Tendenz, Geheimnisse und Melodien in ihrem eigenen Tempo zu offenbaren. “Der Drang, etwas zu sagen, sei es abstrakt oder lyrisch, muss aus dem Inneren komme”, erklärt Gustavsen. “Während der Aufnahme des Albums erschien es mir besser, zuerst zu atmen, die Klanglandschaft auf organischere Weise zu öffnen und die Melodie eintreten zu lassen, wenn sie sich auf natürliche Art ergibt.”
Für den Stimmungswandel auf “Opening” mag es mehrere Gründe geben – die Änderung der Besetzung ist sicherlich einer davon. Bassist Steinar Raknes sorgt für einen entschiedenen Kontrapunkt in der Musik. “Er ist ein extrovertierter Bassist, der gerne im Mittelpunkt steht, aber er ist auch ein unglaublich unterstützender und bescheidener Begleiter”, sagt Tord Gustavsen. “Das ermöglicht ihm, sehr schnell zwischen den Rollen zu wechseln, die er im Hintergrund, im Kollektiv und als Solist einnimmt.” Als ideales Gegengewicht zu den variablen Basslinien fungiert vermittelnd das fein ziselierte perkussive Spiel von Jarle Vespestad, der seine Mitmusiker abwechselnd durch gleichmäßig pulsierende Rhythmen und Rubato-Passagen anführt.
Mehr denn je zuvor befasst sich Tord Gustavsen hier mit winzigen Fragmenten, kurzen Akkordketten sowie knappen Motivandeutungen und entwickelt das Material geduldig: “Das ist etwas, das ich bei Solokonzerten oft gemacht habe. Themen tauchen einfach aus der Dunkelheit auf und verschwinden wieder in einer schattenhaften Unterströmung…”
“The Circle”, das erste Stück des Albums, knüpft in gewisser Weise dort an, wo das vorangegangene Trio-Album “The Other Side” aufgehört hat: mit einem einfach ausgestalteten hymnischen Refrain. “Ich saß am Klavier, als mir die ersten vier Takte einfach in den Sinn kamen. Die restliche Struktur habe ich dann gezielt ausgearbeitet und entwickelt. Aber ich stelle immer öfter fest, dass sich die besten Stücke, die ich im Laufe der Jahre geschrieben habe, im Grunde genommen einfach wie von selbst ergaben, mir wie Geschenke in den Schoß fielen. Ich habe dann die Aufgabe, diesem Geschenk eine Form zu geben, es wachsen zu lassen und es in ein komplettes Stück zu verwandeln.”
Das Trio wartet in “Opening” und “Findings” in spontanen Momenten mit dichtem Rubato-Spiel auf. Letzteres Stück endet dabei mit einem instrumentalen Zitat des schwedischen Volksliedes “Visa från Rättvik”. “Hier zeigt sich, dass ich die mustergültigen Arrangements gehört habe, die der 1968 verstorbene Jan Johansson, der zufälligerweise auch einer der größten schwedischen Jazzpianisten war, von schwedischen Volksliedern gefertigt hat [Johanssen schrieb zudem das ungemein populäre Titellied für die Pippi-Langstrumpf-Fernsehserie]. Ich habe viele seiner Arrangements auswendig gelernt, nur so zum Üben, und dieser Einfluss ist hier deutlich herauszuhören.” Beide Nummern gehören – so wie auch das Gegenstück “Findings II” – zu den am freiesten improvisierten Stücken der gesamten Aufnahme. “Es macht mir wirklich Spaß, diese Miniaturen zu konstruieren – das ist etwas, das wir bei Live-Auftritten oft tun. Es geht darum, eine Form zu schaffen, und nicht darum, in einer freien Improvisation all das zu zeigen, was man kann.”
Mit jedem Song verlagert das Trio den Fokus. In “The Longing” präsentiert es die reduzierte, geradezu skelettartige Form einer Komposition, während es in “Sheperd Song” die Melodie behutsam entwirrt und in “Helensburgh Tango” das tänzerische Element subtil dekonstruiert – “bis zu dem Punkt, dass es schon fast nicht mehr als Tango durchgeht”. “Re-Opening” wiederum hat, wie die meisten Songs dieses Albums, bereits vorher festgelegte Harmoniewechsel und allgemeine Formen. “Aber wann wir von einem Akkord oder Abschnitt zum nächsten übergehen, wurde nicht im Vorhinein festgelegt, sondern von uns spontan gemeinsam entschieden.”
“Stream” erweist sich in seiner Form und der Art der Interpretation als eine “klassische” Klaviertrio-Ballade. “Obwohl es scheinbar kontraintuitiv ist, verdichtete sich unser Zusammenspiel im Studio während Steinars Solo am stärksten, bevor wir zu einem kollektiven Crescendo übergingen – beides waren spontane Entscheidungen, die ein anderes Licht auf das Stück werfen.” Darauf folgt mit “Ritual” eine Nummer, bei der Steinar mit gitarrenähnlichen, verzerrten hohen Tönen die Führung übernimmt und Gustavsen für die tieferen Frequenzen zuständig ist. Dabei wird auch auf subtile Weise Elektronik eingesetzt.
Das Trio schließt den Kreis mit dem einen Sujet, das sich wie ein roter Faden durch Tord Gustavsens gesamtes ECM-Œuvre zieht: mit norwegischen Volksweisen. Zuerst wird “Fløytelåt” (die Flöte) von dem Komponisten Gveirr Tveitt interpretiert und danach zum Abschluss Egil Hovlands “Vær sterk, min sjel” aus dem “Norsk Salmebok”, dem offiziellen norwegischen Kirchengesangsbuch. Anstatt sich sofort auf die Melodie zu stürzen, gehen Gustavsen und seine Begleiter das Material wieder sehr offen an und tauschen die strikte Gliederung der Lieder gegen umsichtige und unangestrengte Improvisationen ein.
Die Vinyl-Ausgabe des Albums wird voraussichtlich im Herbst 2022 erhältlich sein.
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