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Susanne Abbuehl – Compass

19.04.2006
Susanne Abbuehls “Compass” ist eine Reise auf vielen Ebenen: durch Text und Musik, durch Text als Musik, mit Bildern, die den stark salzigen Geruch von Seeluft und die leuchtenden Farben von Wildblumen heraufbeschwören. Es ist eine Reise, die einen zu entgegengesetzten Polen des Jazz führt – zu Chick Corea und Sun Ra – und, im Windschatten Luciano Berios, auch durch Folksongs, durch die Poesie und Prosa-Dichtungen James Joyces, durch Verse von so unterschiedlichen Wortschmieden wie dem Proto-Modernisten William Carlos Williams und dem Ming-Dynastie-Dichter Feng Meng-Lung. Es ist eine Reise durch subtil wogende Kammermusik, die teils improvisiert ist, teils nicht. Als Kompass und einigender Faktor dient bei dieser Reise Susanne Abbuehls kühle, fast schon reservierte und seltsamerweise zugleich doch hypnotisierende Stimme. Sie singt und spricht und flüstert dem Hörer mit ihrer intimen, “inneren” Stimme direkt ins Ohr; sie singt so, als würde sie laut denken.
Auf ihrem 2001 erschienenen ECM-Debütalbum “April”, für das sie den Edison Music Award erhielt, verriet die schweizerisch-holländische Sängerin bereits einige ihrer persönlichen künstlerischen Vorlieben: das Spektrum umfaßte unter anderem Songs von Carla Bley und indische Musik ebenso wie poetische Werke E.E. Cummings. Das neue Album “Compass”, das unter der Regie von Produzent Manfred Eicher in Oslo aufgenommen wurde, ist kaum weniger vielschichtig und wirkt dennoch einheitlicher. Eine indische Raga findet man auf dem neuen Album zwar nicht, aber immer noch genug Anzeichen, die von Abbuehls fortwährender und fruchtbarer Auseinandersetzung mit der indischen Musik zeugen. Die Band ist mehr zusammengewachsen, die Tonlagen von Susannes Stimme und Christof Mays Klarinette kommen sich oft bemerkenswert nahe, zwei atmende Wesen in einem gedämpften Raum. Wolfert Brederodes geduldiges, elegantes Piano hat zentrale Bedeutung. Der neue Schlagzeuger Lucas Niggli kann auf seine Erfahrungen in der frei improvisierten Musik zurückgreifen, wenn er Bedeutungen und Andeutungen ausmalt oder unterstreicht.

Das Album beginnt mit “Bathyal”, einem Stück, zu dem Susanne Abbuehl sowohl die Musik als auch den Text schrieb. “Dream dancing in the sea” ist Susannes Zusammenfassung der Bewegung dieses Stücks, das “sich gegen den Widerstand des Wassers bewegt”. Der durch u.a. Nina Simone weltbekannt gewordene Song “Black Is The Color Of My True Love’s Hair” wurde von dem aus Kentucky stammenden und 1980 verstorbenen Folksänger John Jacob Niles bereits zwischen 1916 und 1921 geschrieben. Abbuehl lernte das Stück, ebenso wie das traditionelle französische Volkslied “Lo Fiolairé” aus der Auvergne, durch Lucianos Berios Adaptionen für seinen “Folk Songs”-Zyklus kennen. Durch ihre Arrangements verleiht Abbuehl, deren Stimme hier nur von Klarinetten begleiten wird, den beiden Liedern einen sehr viel “folkigeren” Charakter. Zu Abbuehl und May gesellte sich bei dieser Gelegenheit als Gast der bekannte französische Klarinettist Michel Portal.

Der einzige Jazzstandard des Albums ist “Where Flamingos Fly”, ein leider viel zu selten interpretierter Song, der von Abbuehl in einer außergewöhnlich berückenden Zeitlupenversion dargeboten wird. Die Sängerin entdeckte das Stück auf dem 1962 von Ran Blake und Jeanne Lee gemachten Album “The Newest Sound Around” und lernte erst danach Gil Evans' fantastische Version von dessen Album “Out Of The Cool” kennen. Susanne hatte das Privileg bei Jeanne Lee Gesangsunterricht nehmen zu können; die vor fast sechs Jahren in Mexiko gestorbene großartige New-Jazz-Sängerin zählte zu ihren Mentoren.