Nairobi ist ein interessanter Ort, um dort aufzuwachsen. Im Guten wie im Schlechten bin ich die Person, die ich heute bin, sowohl deswegen als auch trotz allem. In Nairobi entscheidet deine Herkunft darüber, wie es dir im Leben ergeht. Welche Schulen du besuchst, welche Möglichkeiten du bekommst, welche Freunde du hast, welche Verbindungen du herstellst und so weiter. Sehr oft schien es, als ob Gelegenheiten nur einer bestimmten Gruppe von Menschen offenstanden, die in bestimmten Stadtvierteln lebten und in bestimmten Kreisen verkehrten. Wenn du ein “einfacher” Junge wie ich warst und nicht aus einer wohlhabenden Familie kamst, musstest du mit Händen und Füßen kämpfen, um voranzukommen. Nur dann konntest du es schaffen, nicht ganz unterzugehen, während den Eliten alles in den Schoß fiel. Das Land war zutiefst von Spaltung und Korruption geprägt; aber es war meine Heimat, ich kannte nichts anderes und ich liebte sie mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten von ganzem Herzen und tue dies immer noch."
Als ich ein Kind war, besaßen wir nicht viel, aber wir hatten immer etwas zu essen auf dem Tisch und jede Nacht einen Platz zum Schlafen. Auch ein winziges batteriebetriebenes Radio war stets vorhanden. Schon als Kind war ich verrückt nach Musik. Ich liebte sie. Ich sehnte mich nach ihr. Ich liebte den Klang lauter Gitarren. Ich liebte es, wie sich eine Stimme veränderte, um zu einer Melodie zu passen. Oft dachte ich mir zu Melodien von Songs, die mir gefielen, eigene Texte aus, da ich damals kein Englisch sprach oder verstand. Ich hörte etwa ein Lied wie “Smells Like Teen Spirit” und erfand irgendein Kauderwelsch, um mitsingen zu können. “Wizelatsa, isedenja, hiwiana, entatena” – ungefähr so klang meine Interpretation dieses ikonischen Songs. Ich war mir damals ziemlich sicher, dass es das war, was Cobain sang. Es gibt eine Anekdote, in der es heißt, dass meine Cousins mir irgendwann, als ich erst sieben Jahre alt war, zum Spaß ein bisschen Alkohol verabreichten. Ich war schnell berauscht und fing an, laut und freudig zu singen. Sie meinen, dass ich an diesem Tag wirklich anfing zu singen und seitdem nicht mehr aufgehört habe.
Obwohl ich die Musik so sehr liebte, verschwendete ich lange Zeit keinen Gedanken daran, eine musikalische Laufbahn einzuschlagen. In meiner Familie ermutigte einen niemand zu einer künstlerischen Karriere, weil keiner sie für möglich hielt. Mehr noch: allein die Idee war bei den meisten verpönt. Ich war dazu ausersehen, Anwalt oder Arzt zu werden – ich sollte einen Job ergreifen, der in unserer Kultur und in meiner Familie Akzeptanz hatte. Aber das sollte sich ändern. Ich war von der Musik besessen. Mit einer produktiven Hartnäckigkeit schrieb ich Lieder. Wo und wann immer ich mich alleine wähnte, sang ich; auf dem Weg zur Schule, wenn ich Einkaufen ging, vor dem Schlafengehen, am frühen Morgen… Langsam aber sicher wurde die Musik ein integraler Bestandteil meiner Person – es gab keine Möglichkeit, sie zu ignorieren
Mein erstes Lied schrieb ich mit acht Jahren. Es handelte von einem Hundewelpen namens Ramona. Das zweite widmete ich Hanah, die in der Grundschule neben mir saß. Danach verlor ich die Übersicht, weil ich während meiner gesamten Grundschulzeit ziemlich regelmäßig Lieder schrieb. Die meisten Songs waren schrecklich, aber als ich in die Highschool kam, fingen sie an besser zu werden – zumindest dachte ich das. Sie hatten Charaktere und durchgängige Themen, und so langsam identifizierte ich mich mit den Songs und den Geschichten, die sie erzählten. Ich habe in dieser Zeit viel geschrieben, ich belohnte mich mit den Songs fürs Lernen. Wenn ich für eine Klassenarbeit lernen musste und dazu nicht gerade in der Stimmung war, versprach ich mir selbst, dass ich ein Lied schreiben dürfte, wenn ich eine gewisse Anzahl von Kapiteln gelernt hatte. Es war ein lustiges Spiel, das mir dabei half, bei meinen Prüfungen zu glänzen.
Mein damaliger Musikgeschmack war im Rock verwurzelt. Als Jugendlicher hörte ich im Radio Rockmusik; zu meinen Favoriten gehörten Bands wie Nirvana, Radiohead, Oasis und Death Cab For Cutie. Auch die Songs, die ich damals selbst schrieb, gingen in Richtung Rockmusik. Aber ich spielte überhaupt kein Instrument – nicht etwa aus Mangel an Interesse, sondern weil ich mir zu diesem Zeitpunkt einfach keine Instrumente leisten konnte. Es gab andere Prioritäten; meine Mutter konnte uns entweder für den nächsten Monat etwas zu essen kaufen oder uns verhungern lassen und mir eine Gitarre und ein paar Stunden Unterricht finanzieren. Die meisten Schlachten sollte der Rock’n’Roll gewinnen – diese aber nicht. Instrumente zu spielen war immer mit Wohlstand verbunden. Nur die reichen Kinder konnten sich einen solchen Luxus leisten. Rückblickend scheint mir das eine traurige Realität, denn Musik ist eine Sprache, die alle Barrieren überwinden sollte.
Das war jedoch kein Problem für mich, oder vielleicht war es eines, aber ich empfand es nie so. Ich schrieb Unmengen. Ich schrieb in meinem Kopf Melodien und brachte sie dann zu Papier. Manchmal existierten sie nur in meinem Kopf bis sie verpufften und durch neue ersetzt wurden. Manchmal wandte ich mich an Musiker und bat sie, mir zu helfen, die Songs zu instrumentieren. Mir gefiel das, ich liebte die Songs, die ich schrieb. Die meisten waren tatsächlich sehr schlecht, aber ich liebte sie aus ganzem Herzen – sie waren schließlich mein Eigentum. Ich dachte mir: “Ich besitze nicht viel auf dieser Welt, es gibt kaum etwas, das ich als mein Eigen bezeichnen könnte, aber ich habe diese Lieder, sie gehören mir.”
Meine musikalische Reise nahm eine rasante Wendung, als ich mich allmählich mit meiner Stimme und meiner Art zu schreiben vertraut machte. Ein unvergessliches Schlüsselerlebnis hatte ich in der Highschool. Ich war 17 Jahre alt; es war irgendwann Mitte März. Ich erinnere mich so genau an diesen Moment, weil es zu dieser Zeit Unruhen an einer lokalen Universität gab, bei denen ein Student ums Leben kam. Sehr traurige Zeiten. Aber um aufs Thema zurückzukommen: ich verwickelt mich mit einem Mitschüler in eine Debatte. Wir standen direkt vor dem Schuleingangstor, wo sich die Schüler oft trafen, um Streetfood zu kaufen. Ich weiß nicht mehr, wie die Diskussion begann, aber in der einen Minute sprachen wir über die Unruhen an der Universität und in der nächsten über Guns N’ Roses, die Rockband.
Mein Klassenkamerad war der absurden Meinung, dass “Knockin’ On Heaven’s Door” in Wahrheit gar kein Song von Guns N’ Roses sei, sondern ursprünglich von einem Typen namens Bob Dylan geschrieben worden war. “Von wem?”, erwiderte ich. “Ich garantiere dir, dass es ein Guns N’ Roses-Song ist.” Ich hielt unerschütterlich an meinem Standpunkt fest, aber er tat das auch. “Nee, Alter, der Song stammt wirklich von diesem Folksänger namens Bob Dylan”, sagte er. Seine Überzeugtheit war mir ein Rätsel, also wettete ich mit ihm um 100 Kenia-Schillinge. Hundert Schillinge später fand ich heraus, dass ich falsch gelegen hatte. Aber so entdeckte ich immerhin Bob Dylan.
Ich war schwer neugierig und vertiefte mich schnell in “The Freewheelin’ Bob Dylan”. Ich erinnere mich noch daran, dass ich damals Schwierigkeiten hatte, das Gehörte zu verstehen. Es war ein Trip in eine andere Welt. Ich hatte noch nie zuvor Musik gehört, die so geschrieben oder gesungen wurde. Ich war erstaunt, wie ungeschliffen und auf das Wesentliche reduziert die Platte war. Nachdem ich diese Entdeckung gemacht hatte, stellte ich fest, dass es auch andere – alte und zeitgenössische – Musiker vom gleichen Schlag gab. Ich konsumierte rasch und begierig all die Musik mit einer ähnlichen Färbung, die ich finden konnte. Es gab Zeiten, in denen ich auf dem Weg zur Schule einen Umweg machte und das Geld, das ich für das Mittagessen und die Busfahrt erhalten hatte, in einem Internetcafé ausgab, um dort nach dieser Musik zu suchen und sie mir mit Feuereifer anzuhören. So verguckte ich mich in die Musik von Songwritern wie Neil Young, Ray Lamontagne, Damien Rice, Ryan Adams und vielen anderen. Durch ein Komplott des Universums befinde ich mich jetzt genau hier auf meiner musikalischen Reise; aber seid gewarnt, ich bin ein neugieriger und wandernder Geist und kann deshalb kann nicht sagen, wohin diese Expedition noch führen wird.
Ah, Amerika – das Land, in dem Milch und Honig fließt, das Land der sternenbedeckten und gestreiften Fee des Westens, wie ich selbst es gerne nenne. Hier befinde ich mich jetzt. In Minneapolis, einer der kältesten Städte des Landes. Ich wusste, dass ich zu Hause in Kenia keine Musik hätte machen können, vor allem nicht die Art von Musik, die ich spielen wollte. Also richtete ich meinen Blick nach Amerika. Ich suchte mehrmals nach Möglichkeiten und bewarb mich um Jobs, die mich hierher führen sollten, aber es klappte nie, bis es eines Tages schließlich doch funktionierte. Ich kann mich nicht an das Gefühl erinnern, das ich damals verspürte, ob es Aufregung oder Angst oder eine Kombination aus beidem war. Manchmal möchte man etwas so unbedingt, und wenn es dann eintrifft, verspürt man vorübergehend ein Gefühl der Taubheit, da man sich nicht sicher ist, worauf man sich eingelassen hat. Ich hatte definitiv keine Ahnung, was mich erwartete. Ich war auf dem Weg nach Amerika, um eine Musikkarriere einzuschlagen; was allein schon einschüchternd klingt, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich keine Kontakte hatte und weder ein Instrument besaß noch spielen konnte. Was ich hatte, war nur ein dummer Traum, ein Buch mit Liedern und eine Flut von Melodien, die darum kämpften, meinen Kopf zu verlassen. Ja ja, das war ziemlich idiotisch. Ich hatte allerdings auch Verwandte, die über die Staaten verstreut lebten. Ich entschied mich schließlich dafür, mich in Bob Dylans Heimatstaat Minnesota niederzulassen. Ich fühlte mich zu diesem Ort hingezogen, aus dem dieser berüchtigte Folk-Sänger stammte, der sich erst in einen Rockstar und dann in ein kulturelles Phänomen verwandelt hatte, und zu dem ich aufschaute. Und dorthin machte ich mich auf; der MSP-Flughafen erwartete mich.
Ich kam mitten im tiefsten Winter an. Es war Februar, und ich denke, es wäre irreführend, wenn ich sagen würde, dass es kalt war. Kälte hatte ich schon vorher kennengelernt. Zu Hause in Kenia fallen die Temperaturen im Juni und Juli drastisch; dann wird es nass, düster und kalt. Das war kalt; aber was mich Mitte Februar erwartete, als ich in Minneapolis landete, war schon nicht mehr kalt. Es war ungeheuerlich. Ich dachte, das muss ein schlechter Witz sein. Das Universum fand es scheinbar urkomisch, das Wetter so beißend zu machen, dass du dir fast ein halbes Jahr lang den Arsch abfrorst. Aber warum?? Das fehlgeleitete Verhalten der Natur verärgert mich damals, aber dann kam der Frühling und alles war wunderschön und ich fühlte mich erleichtert. Allerdings nur vorübergehend, denn wie ich feststellen musste, kehrt der Winter immer zurück.
Sobald man mit dem Wetter seinen Frieden geschlossen hat, ist Minneapolis ein liebenswürdiger Ort. Ich kann mir nicht vorstellen, was für eine Art Songwriter ich geworden wäre, wenn es mich an einen anderen Ort verschlagen hätte. Ich liebe diese Stadt sehr und verdanke ihr so viel. Als ich hier ankam, hatte ich ganz andere unmittelbare Ziele; ich wollte eine Band gründen und mit ihr auf Tour gehen. Da ich kein Instrument spielte, brauchte ich eine Band. Irgendwann verfolgte ich aktiv die Idee, eine Rockband mit einem Opernsänger zu gründen. Ich wollte etwas anderes machen, etwas Interessantes. Aber da ich niemanden kannte, war das ein unmögliches Unterfangen. Als mir dämmert, dass ich mit der Gründung einer Band kein Glück haben würde, griff ich mir eine alte Yamaha-Gitarre, die im Haus meiner Tante, bei der ich damals wohnte, herumlag. Die ersten Lieder, die ich zu spielen lernte, waren – in genau dieser Reihenfolge – “Knockin’ On Heaven’s Door”, “Blowin’ In The Wind” und “Heart Of Gold”. Allzu viele Lieder habe ich nicht gelernt. Ich wollte nur ein paar Akkorde draufhaben, um meine Worte und Melodien in eine Akkordfolge zu bringen und mich selbst begleiten zu können. Ich fing an, regelmäßiger auf der Gitarre herumzuwursteln; ich ließ meine Finger von hier nach da über die Saiten gleiten und war fasziniert von den Klängen, die ich erzeugte. Ich hatte wenig Ahnung von Akkorden oder Musiktheorie, ich spielte einfach nur herum und hatte ab und an das Glück, einen Klang zu finden, der zu einer der in mir gereiften Melodien passte. Aber mein Liederstapel wuchs langsam an. Irgendwann saß ich dann im Keller meiner Tante und dachte: “So, jetzt hast du all diese Lieder, aber was jetzt? Was dachtest du, was passieren würde?” Die lähmende Stimme des Selbstzweifels war immer präsent, aber es gab nicht viel anderes zu tun als weiterzumachen.
Es begann eine turbulente Reise. Ich fing an, mich nach Auftrittsmöglichkeiten umzusehen, um den Leuten meine Lieder zu präsentieren. In Songwriterzirkeln, bei “open mic”-Veranstaltungen, in Cafés – ich nahm jede Gelegenheit wahr, die ich finden oder mir vorstellen konnte.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis meine Familie mit dem Fuß aufstampfte und mich drängte, mich an einer Schule einzuschreiben. Es waren schon zwei Jahre verstrichen und mit der Musik war ich nicht wirklich vom Fleck weggekommen. Zwei Jahre sind nicht genug Zeit, um sich zu einem auftretenden Musiker zu mausern, und noch viel weniger, um aus dem Nichts eine Musikkarriere zu starten. Aber meine Familie begann die Geduld zu verlieren. Daheim in Kenia entwickelten sich die Dinge nicht zum Besseren und ich brauchte ein regelmäßiges Einkommen, um helfen zu können. Deshalb schrieb ich mich sehr widerwillig an einer Schule ein. Ich wollte Musiktherapie studieren. Etwas mit einer besseren Arbeitsperspektive. “Nun, es geht dabei immer noch um Musik”, versuchte ich mich zu beruhigen.
Nach zwei Semerstern lud mich ein Freund zu einem Konzert ein. “Das wird dir gefallen”, sagte er. Es war ein Songwriter aus Seattle, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte: sein Name ist Noah Gundersen. Es war tatsächlich die erste Show, für die ich Eintritt gezahlt habe. Während des gesamten Konzerts wurde ich von vielen verschiedenen Emotionen bombardiert. Was ich erlebte, lässt sich am ehesten als eine spirituelle Erfahrung beschreiben. Ich erinnere mich, dass ich am Ende rausging und dachte: “Zur Hölle mit allem anderen, das ist es, was ich tun werde.” Ich warf die Schule am nächsten Tag hin und stürzte mich wieder auf die zermürbenden “open mic”-Veranstaltungen und andere Auftrittsmöglichkeiten in der Stadt. Ich war entschlossen, begierig und inspiriert. Irgendwas wird schon klappen, es muss klappen. Und so kam es dann auch, nachdem ich ein paar Coverversionen ins Internet gestellt hatte, kreuz und quer in Minneapolis aufgetreten war und eine etwas holprige EP auf eigene Faust herausgebracht hatte. Mein Name machte die Runde und ein lokaler öffentlich-rechtlicher Radiosender namens The Current nahm meine Musik ins Programm und begann sie regelmäßig zu spielen. Als The Current Geburtstag feierte, trat ich bei der Party im Mainroom an der First Avenue auf. Nicht lang danach, flatterten mir die Auftrittsangebote ins Haus. Und jetzt sind wir hier, nicht allzu weit von meinem Ausgangspunkt entfernt, aber auch nicht zu nah dran. Einfach irgendwo auf dem Weg. Ich weiß selbst nicht wo und will es auch gar nicht wissen. Aber wenn ihr mir auf den Fersen bleibt, werden wir diese unergründlichen Pfade gemeinsam befahren.
Stand Januar 2019