Nitai Hershkovits | News | Einfühlsamer Balanceakt zwischen Jazz, Klassik und zeitgenössischer Musik

Einfühlsamer Balanceakt zwischen Jazz, Klassik und zeitgenössischer Musik

Auf seinem ECM-Solo-Debütalbum “Call On The Old Wise” beweist der israelische Pianist Nitai Hershkovits in 18 größtenteils improvisierten Miniaturen seine Originalität und ein Gespür für eine breite Palette an Klangfarben.
Nitai Hershkovits
Nitai Hershkovits
09.11.2023
Als Mitglied des Quartetts von Saxophonist Oded Tzur war der Pianist Nitai Hershkovits in der jüngeren Vergangenheit auf zwei hochgelobten ECM-Alben zu erleben: “Here Be Dragons” (2020) und “Isabela” (2022).
Nun legt der 45-Jährige mit “Call On The Old Wise” sein erstes eigenes Album bei ECM vor, auf dem er seinen beeindruckenden Einfallsreichtum in einem größtenteils improvisierten Soloprogramm unter Beweis stellt. Die einzigen Ausnahmen bilden die Interpretationen von Duke Elllingtons Ballade "The Single Petal Of A Rose" und “Dream Your Dreams” von der britischen Poetin und Songschreiberin Molly Drake, der Mutter des Singer/Songwriter Nick Drake. Nitais Improvisationen entfalten sich auf diesem Album wie in Echtzeit entstandene Kompositionen. “Es ist, als würde ich mit mehreren Musikperioden gleichzeitig spielen, aber in einer Art Augmented-Reality-Umgebung”, erklärt Hershkovits. “Für mich ist das Album wie eine Reise, bei der man von einem Augenblick auf den anderen mehrere unterschiedliche Erfahrungen macht. Als würde man durch Rahmen springen, die verschiedene Bilder enthalten, oder durch Fenster in verschiedene Welten schauen.”
Das Album ist zum Teil Suzan Cohen gewidmet, bei der Nitai in Jerusalem klassischen Klavierunterricht nahm und die er als seine Mentorin und Freundin bezeichnet. Die Stücke “The Old Wise”, “Of Mentorship”,  “For Suzan” und sogar der Titel des Albums nehmen direkt Bezug auf sie. Seine musikalische Inspiration schöpft Nitai Hershkovits aber auch aus anderen Quellen. Die Bandbreite reicht von seinen umfangreichen Arbeiten im Jazzkontext über experimentelle zeitgenössische Klangprojekte bis hin zu seinem Background in klassischer Musik. Durch die makellose Ausbalancierung dieser Idiome ergibt sich eine einzigartige Fülle von Klangfarben, die ein Beleg dafür ist, dass der Pianist längst eine gänzlich eigenständige Stimme als Improvisator und Formgestalter entwickelt hat.
Bei seinem Improvisationsansatz, so merkt Nitai an, geben Formen und Texturen die Richtung für die Entwicklung des Materials vor: “Ich möchte mich nicht auf eine bestimmte Ton- oder Taktart beschränken, sondern mir die Freiheit belassen, die Dinge in Echtzeit kontinuierlich neu zu bewerten und sie immer wieder aus neuen Perspektiven zu betrachten. Aus diesem Grund habe ich auch versucht, diese Session mit so wenig vorgefassten Ideen wie möglich anzugehen.” Wenn man bedenkt, mit welchem Sinn für Spontaneität Nitai hier zu Werke geht, ist es umso erstaunlicher, wie vollständig geformt sich viele seiner miniaturhaften Entwürfe auf dem Album entfalten. Als Inspirationen, die ihn bei diesem Prozess geleitet haben, nennt der Pianist so scheinbar grundverschiedene Künstler wie Chick Corea und die russischen Komponisten Rachmaninoff und Skrjabin.
Aufgenommen wurde “Call On The Old Wise” im Juni 2022 im Auditorio Stelio Molo in Lugano. Und die spezifischen akustischen Eigenschaften des Studios spielten bei der Entwicklung des musikalischen Stoffs für Nitai eine ebenso große Rolle wie der Austausch mit dem Produzenten Manfred Eicher. “Im Studio werden nur wenige Worte gesprochen”, erzählt Nitai “Mit Manfred ist es so, als wäre ein weiterer Musiker im Raum, der reflektiert, reagiert und die Musik in dem Moment umgestaltet.”
“Call On The Old Wise” ist ein Zeugnis für Nitai Hershkovits’ einzigartigen improvisatorischen Erfindungsreichtum und eine wunderbare Ergänzung der weltweit gefeierten ECM-Serie mit Solo-Klavieraufnahmen.
Nitai Hershkovits kam 1988 als Sohn einer marokkanischen Mutter und eines polnischen Vaters in Israel zur Welt und lernte zunächst Klarinette, bevor er mit 15 Jahren zum Klavier wechselte. Als Teenager setzte er sich intensiv mit Jazz und improvisierter Musik auseinander.
Besondere Faszination übte damals das Album “Tenor Madness” von Sonny Rollins mit John Coltrane auf ihn aus. In dieser Zeit gewann Nitai mehrere Jazzwettbewerbe im Raum Tel Aviv, bevor ihn ein tieferes Interesse für klassische Musik ergriff. An der Musikhochschule in Tel Aviv studierte er sowohl Jazz (u.a. bei den beiden Bassisten Omer Avital und Avishai Cohen sowie bei Posaunist Avi Lebovich) als auch klassisches Klavier (bei Menahem Weisenberg und Amir Pedorovits). Von 2011 bis 2016 war Nitai Mitglied des Trios von Bassist Avishai Cohen. Dann zog er nach New York, wo er in zahlreichen Gruppen spielte. Eine davon war das Quartett von Oded Tzur, dem er noch heute angehört. Erst seit kurzem lebt Nitai Hershkovits wieder in Israel, wo er sich seitdem an verschiedenen musikalischen Projekten beteiligt hat. Mit dem Elektronikmusiker und Produzenten Yuvi Havkin a.k.a. Rejoicer (der auch am “Big Vicious”-Album von Trompeter Avisahi Cohen mitwirkte, das 2020 bei ECM erschien), dem Schlagzeuger Amir Bresler und dem Bassisten Yonatan Albalak unterhält Nitai derzeit außerdem die gemeinsame Band Apifera.
Mehr von Nitai Hershkovits