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Michael Brecker – Pilgrimage

16.05.2007
Der im Januar 2007 verstorbene Michael Brecker gilt nach John Coltrane als einer der einflußreichsten Tenorsaxophonisten der letzten 50 Jahre. Und dies obwohl er in seiner rund drei Jahrzehnte umspannenden Karriere vergleichsweise wenige Soloalben aufgenommen hat. Den Großteil seiner professionellen Laufbahn verbrachte Brecker damit, andere Künstler zu begleiten; seine Diskographie als Sideman umfaßt deshalb mehrere hundert Alben.
Seit bei Michael Brecker 2005 die Knochenmarkserkrankung MDS – eine Krankheit, die meist innerhalb von sechs bis dreißig Monaten zum Tod führt – diagnostiziert wurde, rechnete eigentlich niemand mehr mit einem neuen Album des Saxophonisten. Da sich kein geeigneter Spender fand, wurden Brecker 2005 versuchsweise Stammzellen seiner Tochter transplantiert. Die Besserung, die sich in den nächsten Monaten einstellte, war leider nur vorübergehend. Immerhin erlaubte sie dem Saxophonisten wieder öffentlich aufzutreten und als musikalisches Vermächtnis ein letztes Album einzuspielen.  
 
Dieses letzte Album, das Brecker mit Herbie Hancock, Pat Metheny, Jack DeJohnette, Brad Mehldau und John Patitucci realisierte, trägt den Titel “Pilgrimage” und enthält erstmals ausschließlich Kompositionen des großartigen Tenorsaxophonisten. Das Album ist das Dokument von Breckers letzter musikalischer Reise, die den Protagonisten mehrfach an den Rand der totalen physischen Erschöpfung brachte. Nur seinem bis zuletzt nicht zu brechenden Willen war es zu verdanken, daß dieses Projekt überhaupt beendet werden konnte. Und das leidenschaftliche Feuer, das bei diesen letzten Aufnahmen in Michael Brecker brannte, ist auf “Pilgrimage” in jedem Moment zu spüren.
 
“Mike hat uns mit diesem Album eine der fantastischsten Einspielungen seines Lebens hinterlassen”, meint Pat Metheny, der mit Brecker seit 1980 – als sie gemeinsam das legendäre Metheny-Album “80/81” für ECM einspielten – eng befreundet war. “Mikes Bemühung, uns allen eine letzte Botschaft zu übermitteln – und um genau dies, eine Botschaft, handelt es sich -, wird als einer der großen Schlußakkorde in die moderne Musikgeschichte eingehen. Was während dieser wenigen Tage im August im Studio passiert ist, kann man unmöglich beschreiben. Es war eines der erstaunlichsten, überwältigendsten, unglaublichsten Dinge, die ich – und alle anderen, die dabei waren – je erlebt haben.”
 
Die Aufnahmen entstanden in den kurzen Zeitspannen, in denen Michael Brecker die Kraft hatte zu spielen. Die Beteiligten wußten nie, wie es am darauffolgenden Tag aussehen würde. Und unmittelbar nach Fertigstellung der Aufnahmen begann sich der Gesundheitszustand des Saxophonisten wieder dramatisch zu verschlechtern. Allen widrigen Umständen zum Trotz wuchs Michael Brecker während der Sessions über sich hinaus und spielte gelegentlich kraftvoller und vor allem sublimer denn je zuvor. Auch die neun Kompositionen, die er für “Pilgrimage” schrieb, zeichnen das Bild eines Künstlers im Zenit seines Könnens und besitzen manchmal geradezu transzendentale Qualitäten. 
 
Etwa das Stück “Tumbleweed”, eine mittelschnelle Nummer mit einem unterschwelligen melodischen und perkussiven Vorwärtsdrang. Das improvisatorische Vamp gegen Ende des Stücks – ein rasanter, brennender Part, der ein ganz eigenes Leben hat und unglaublich muskulös ist – dürfte den Hörern ebensolche Schauer den Rücken hinabjagen wie all jenen, die in diesem einzigartigen Augenblick mit Brecker im Studio waren. Der Titel des ruhigen und ergreifenden “When Can I Kiss You Again?” ist auf eine Frage zurückzuführen, die Breckers heranwachsender Sohn Sam stellte, als Familie und Freunden während eines Krankenhausaufenthalts des Saxophonisten jeglicher körperlicher Kontakt untersagt war. “Loose Threads” spielte Brecker das erste Mal bei Auftritten mit dem Quintett, mit dem er 2001 das Live-Album “Directions In Music” machte. Herbie Hancock und John Patitucci, zwei seiner damaligen Partner, waren nun auch bei der Aufnahme dieser Nummer mit von der Partie. Das Titelstück war die letzte Nummer, die Brecker für “Pilgrimage” und überhaupt aufnahm. Sie bildet nun auch den krönenden Abschluß eines durch und durch brillanten Albums.
 
Schon während der ungemein inspirierten Sessions unterhielten sich die Musiker immer wieder über die spirituelle Dimension der Darbietungen. “Jeder liebt und respektiert Mike ungeheuer”, sagte beispielsweise Jack DeJohnette. “Bei allem, was wir hier gerade tun, spürt man eine feierliche Stimmung. Jeder feuert jeden an – nicht nur musikalisch, sondern auch persönlich und spirituell.”

“Michael hat jetzt als Komponist und Musiker eine neue Klasse erreicht”, meinte wiederum Herbie Hancock, der seit den 80er Jahren mit Brecker zusammenarbeitete. “Trotz seiner Krankheit, oder vielleicht auch gerade wegen ihr, gelingt es ihm, neue Gipfel zu erklimmen und nach vorne zu schreiten. Die beste Art, ein Gift zu nehmen, ist, wenn man es in eine Medizin verwandelt. Er erlebt gerade etwas sehr Destruktives und wandelt es in etwas extrem Konstruktives um.”
 
Mit seinem Sinn für kreativen Optimismus und mit seiner Menschlichkeit hat Michael Brecker sogar das Leben von Menschen beeinflußt, die ihn überhaupt nicht persönlich kannten. Obwohl er sich bewußt war, daß die Wahrscheinlichkeit noch rechtzeitig einen passenden Stammzellenspender für ihn selbst zu finden, verschwindend gering war, entschied er sich dafür in die Offensive zu gehen und damit vielleicht wenigstens anderen Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, zu helfen. In Breckers Namen wurden bei Festivals in der ganzen Welt Stammzellenspender gesucht. Durch die von der Brecker-Stiftung “Time Is Of The Essence Fund” bei Festivals gmachten Tests konnten bis heute schon fünfzehn passende Spender gefunden werden. 
 
“Michael hat eine sehr klare Vision, so sehr, daß es schwierig ist, zu definieren, wo genau der Mensch endet und die Musik anfängt”, sagte Brad Mehldau während der “Pilgrimage”-Sessions. “Diese Musik klingt einfach vollkommen nach ihm, harmonisch, melodisch und rhythmisch. Aber sie ist gleichzeitig auch dicht und drängend. Diese Musik ist meines Erachtens ein einziges, riesiges kreatives Statement.”

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