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Louis Sclavis – L’Imparfait Des Langues

31.01.2007
Das neueste Album von Louis Sclavis hat eine nicht alltägliche Geschichte. Der französische Saxophonist, Klarinettist, Komponist und Improvisator erhielt einen Kompositionsauftrag für ein neues Projekt, das er im April 2005 beim Festival Le Printemps des Arts in Monte Carlo/Monaco erstmals präsentieren sollte. Da er sich selbst in seiner Funktion als Komponist eine Herausforderung bieten, unvorhersehbare Elemente in das Improvisationsspiel einbauen und eine “neue Syntax” in seine musikalische Sprache bringen wollte, entschied Sclavis für das Projekt ein brandneues Ensemble mit jungen Musikern zu bilden. Den damals gerade einmal 23 Jahre alten, aber ungemein stürmischen Altsaxophonisten Marc Baron lud Sclavis auf einen heißen Tip des Cellisten Vincent Courtois, der gerade die Zusammenarbeit mit Baron begonnen hatte, zu diesem Projekt ein. Keyboarder Paul Brousseau war erst wenige Woche vorher zu Sclavis' Gruppe Big Napoli (einer erweiterten Ausgabe des Ensembles, das für ECM das Album “Napoli’s Walls” eingespielt hatte) gestoßen und tastete sich noch in die Sclavis’sche Klangwelt. Mit Maxim Delpierre hatte Sclavis zuvor ein einziges Mal gejammt, als Gast des Trios des Gitarristen. “Gerade weil ich mir nicht sicher war, ob ich ich seine Spielweise integrieren könnte, wollte ich es versuchen”, meint Sclavis. “Er hat eine sehr ungewöhnliche Art, Gitarre zu spielen…” Das französische Magazin Jazzman hörte aus Delpierres Gitarrenspiel beispielsweise die Einflüsse von Sonny Sharrock, Glenn Branca und Sonic Youth heraus – rasante, satte Gitarrensounds sind ein Bestandteil seiner Ausdruckspalette.
“Mit Ausnahme des Schlagzeugers François Merville, mit dem ich oft zusammengearbeitet habe, waren dies nicht nur Spieler, die mir ziemlich unbekannt waren, sondern es war auch so, daß diese Musiker meine Werke nicht en detail kannten”, berichtet Louis Sclavis. “Sie alle arbeiten in den unterschiedlichsten Kontexten, das Spektrum reicht von experimenteller Musik bis zu Rock. Keiner von ihnen ist ein ‘reinblütiger’ Jazzer – aber das bin ich letzten Endes ja auch nicht.” Innerhalb von zehn Tagen entwarf Sclavis seine Kompositionen für “L’Imparfait Des Langues” und ließ reichlich Raum für Improvisationen. Dann begann er mit seiner neuen Crew ernsthaft zu proben. “Einige der grundlegenden musikalischen Ideen waren sehr simpel, manchmal hatte ich nur eine acht- oder sechzehntaktige Phrase für zwei Instrumentalstimmen skizziert”, erläutert Sclavis. “Beim Schreiben der Musik für dieses Ensemble interessierten mich Klänge und Strukturen mindestens genauso sehr wie Melodien… Wie auch immer, uns wurde ziemlich schnell klar, daß diese Gruppe von Spielern etwas Besonderes war.”

Dann starb am Tag vor dem Konzert (am 6. April 2005) im Alter von 81 Jahren Prinz Rainier III. von Monaco, der das kleine Fürstentum seit 1949 regiert hatte. Die Nation verfiel der Trauer und das Konzert wurde abgesagt. Sclavis, der darauf brannte sein Projekt öffentlich vorzustellen, ging deshalb mit seiner neuen Band kurzerhand in die Studios la Buissonne in Pernes-les-Fontaines und nahm die Musik für dieses Album in nur einem Tag auf. Man kann dies an der Frische der Einspielung auch deutlich erkennen.

Das Festival in Monte Carlo wurde für April 2006 neu angesetzt. Die Gruppe hat mittlerweile schon etliche Auftritte absolviert und Sclavis schreibt ständig neues Material für das Ensemble. “Das Level der Begeisterung ist in diesem Ensemble sehr hoch. Ich glaube, daß man dies auch auf der CD hören kann. Das sind Jungs, die wirklich spielen wollen. In kleinen Clubs, auf Konzerten, bei Festivals – ganz egal… wir spielen überall”, sagt Sclavis voller Enthusiasmus. “Und die Musik ändert sich ständig… Paul Brousseau bringt mit seinen Sounds und Samples jedesmal neue Klangfarben ins Spiel, und wir improvisieren immer mehr. Dieses Quintett hat meines Erachtens eine Menge Entwicklungspotential, so daß wir ruhig noch ein paar Jährchen zusammenspielen können.”

Marc Baron wurde 1981 in Paris geboren und improvisiert schon seit seinem zehnten Lebensjahr auf dem Saxophon. Zur Zeit ist er Mitglied in zwei Bands von Vincent Courtois: im Quartett What DoYou Mean By Silence? und im Sextett Rose Minvelle. Baron widmet sich aber nicht nur der freien Improvisation, sondern spielt auch zeitgenössische Kompositionen. Er arbeitet regelmäßig mit dem Komponisten Bernard Cavana zusammen und macht Performances mit Tänzern, Videokünstlern und Theatergruppen. In den letzten Jahren hat er außerdem mit Sylvain Kassap, Sylvie Courvoisier, Seijiro Murayama und Thierry Madiot gespielt.

Maxime Delpierre kam 1975 in Nantes zur Welt und wurde durch Rock- und Popaufnahmen von Bands wie The Ventures, Pink Floyd und Jimi Hendrix Experience zum Gitarrespielen animiert. Nach einem kurzen Seitensprung zum klassischen Piano studierte er Jazzgitarre und vertiefte sich in die Musik von Charlie Parker, Miles Davis und Ornette Coleman. Seit 1993 lebt er in Paris, wo er sich zunächst mit dem Interpretieren von Bebopnummern und Jazzstandards profilierte. Ende der 90er Jahre lernte er u.a. Médéric Collignon, Sunny Murray und Mark Turner kennen und spielte mit ihnen zusammen. Momentan leitet er zwei eigene Bands: das Trio Mutatis Mutandis und das Trio Limousine.

Der 1976 in Poitiers geborene Paul Brousseau ist ein autodidaktischer Multiinstrumentalist, zu dessen Instrumentarium Piano, diverse Synthesizer und andere Keyboards, Gitarre, Baß und Percussion zählen. So wie er im fliegenden Wechsel von einem Instrument zu einem anderen übergeht, versteht er es auch von einem Genre zu einem anderen umzuschalten. Bevor er von Sclavis entdeckt wurde, spielte dieser Klang- und Ambientzauberer mit dem Gitarristen Marc Ducret zusammen.

Schlagzeuger François Merville studierte klassische Perkussion sowie Piano und arbeitete unter der Leitung von Pierre Boulez mit dem Ensemble Intercontemporain. 1993 verschrieb er sich ganz und gar dem Jazz und spielte seitdem unter anderem in diversen Ensembles von Louis Sclavis, aber auch mit Ray Anderson, Michel Portal, Martial Solal, Dave Douglas und Django Bates. Merville hat auch ein eigenes Quartett.

Louis Sclavis, 1953 in Lyon geboren, gibt dem europäischen Jazz nun schon seit rund drei Jahrzehnten immer wieder neue Impulse. Bei ECM veröffentlichte er bislang die Alben “Rouge” (ECM 1485 ÷ 1991), “Acoustic Quartet” (ECM 1526 /1993), “Les Violences De Rameau” (ECM 1588 ÷ 1995/96), “L’Affrontement Des Prétendants” (ECM 1705 ÷ 1999), “Dans La Nuit” (ECM 1805 ÷ 2000) und “Napoli’s Walls” (ECM 1857 ÷ 2002). Sclavis ist nie eingleisig gefahren und betrieb oft mehrere Projekte zur gleichen Zeit. Wenn er heute nicht mit dem Quintett von “L’Imparfait Des Langues” auftritt, kann man ihn beispielsweise mit der Gruppe Big Napoli oder im seit über zehn Jahren existierenden Trio mit Aldo Romano und Henri Texier erleben. Konzerte gibt er auch noch mit dem “Dans La Nuit”-Ensemble, das Musik zu den Stummfilmen von Charles Vanel spielt.