Der 1952 in Oslo geborene Ketil Bjørnstad hat in Norwegen nicht nur einen Namen als vielseitiger Musiker und Komponist, sondern auch als fleißiger Buchautor. Rund zwanzig von ihm geschriebene Bücher sind bislang veröffentlicht worden; vor allem Romane, aber auch Sammelbände mit Gedichten oder Essays.
Zu seinen bekanntesten literarischen Werken gehören zweifellos die beiden Romanbiographien des Komponisten Edvard Grieg (1843–1907) und des Malers Edvard Munch (1863–1944). Nachdem beim renommierten Frankfurter Insel-Verlag 1995 bereits “Edvard Munch – Die Geschichte seines Lebens” (ISBN 3–458–16735–8) in deutscher Übersetzung erschien, ist dort seit Februar diesen Jahres auch Bjørnstads letzter Roman “Erlings Fall” (ISBN 3–458–17054–5) lieferbar.
Doch auch Bjørnstads Laufbahn als Musiker ist alles andere als orthodox verlaufen. Der in London, Paris und Oslo als klassischer Musiker geschulte Ketil Bjørnstad debütierte 1969 mit 16 Jahren als Solist des Philharmonischen Orchesters von Oslo mit Bela Bartóks “Piano Concerto No. 3”. Noch im selben Jahr entdeckte der junge Pianist Miles Davis' Album “In A Silent Way”. Diese bahnbrechenden Aufnahmen verleiteten ihn dazu, sich von der klassischen Musik zu verabschieden und mit Feuereifer dem neuen, aufregenden Jazz zuzuwenden.
Ein Aufnahmestudio betrat Ketil Bjørnstad das erste Mal im Jahre 1973 mit einem Quartett, dem auch Bassist Arild Andersen und Schlagzeuger Jon Christensen angehörten. Begeistert verfolgte er natürlich den Werdegang der norwegischen Jazzmusiker, die in den frühen 70er Jahren Platten für das ECM-Label einspielten. Wie
Jan Garbarek und
Terje Rypdal, die norwegischen ECM-Protagonisten, spielte auch Ketil Bjørnstad schon damals keinen Jazz im klassischen Sinne.
“Der Jazz ist eine ganz andere musikalische Disziplin als die Klassik”, meint Ketil Bjørnstad, der in der Band The Sea bemüht ist, seine exzellente Technik an der kurzen Leine zu führen. “Mein kategorischer Imperativ lautet heute: Spiele nicht zuviel! Ich habe als Improvisationsmusiker über viele Jahre hinweg solo gearbeitet und war es von daher gewohnt, die Verantwortung für alle Facetten meiner Musik selbst zu übernehmen, sei es bei der Entwicklung der Melodie in den Improvisationen oder bei der Übernahme der rhythmischen Funktionen. Es war für mich fast schon schockierend, als ich bei den Aufnahmen von `Water Stories' feststellte, daß ich mit weitaus weniger Noten durchaus vergleichbare Ergebnisse erzielte. Aber ich fühle mich in der neuen Rolle, die ich in dem Quartett innehabe, sehr wohl. Wir haben verschiedene Kommunikationsebenen. Manchmal geht es eben mehr darum, ein Gegengewicht oder eine Beziehung zwischen den einzelnen Instrumenten herzustellen, als Soli zu spielen.”
“The River” (ECM 1593), ein 1996 von Ketil Bjørnstad im Duo mit dem Cellisten David Darling eingespieltes Album, rief weltweit ein positives Presseecho hervor. “Ein unvergeßliches Hörerlebnis”, urteilte etwa der Sidney Morning Herald. “Die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation werden bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Was entsteht, hat eine organische Qualität bar jeglichen Kalküls. Den beiden ging es nicht darum, ihr Können als `atemberaubende Soloimprovisatoren' oder `clevere Songwriter' zur Schau zu stellen oder ihr `großartiges Zusammenspiel' zu dokumentieren. Vielmehr wurde die volkommene und direkte emotionale Kommunikation mit dem Hörer gesucht. Vieles von dem, was passiert, läßt sich auf einen simplen Nenner bringen: Eine sublime Melodie wird von einem Instrument intoniert und von dem anderen einfühlsam untermalt.”
Dieser Prozeß wurde auf “Epigraphs” (ECM 1684) noch vollendeter umgesetzt. Das zweite Duo-Album von Bjørnstad und Darling enthält Ad hoc-Darbietungen von geradezu exzeptioneller Subtilität, die teils auf motivischen Vorgaben des Cellisten oder des Pianisten basierten und teils auf Werken der Renaissance-Musik, die beiden Musikern schon seit geraumer Zeit als Inspirationsquelle dient.
“Es gibt einige wenige Platten, die länger dauern als ihre Spielzeit. Sie klingen fort im Kopf, weil ihre Musik unendlich ist”, schrieb Andreas Obst in der FAZ über “Epigraphs”. “Manchmal ist das so, weil die Musik so nahe kommt, daß sie den Hörer unmittelbar berührt, bisweilen liegt es an der Ferne, aus der sie klingt, der Sehnsucht, die sie erzeugt. Das Album `Epigraphs' des norwegischen Pianisten Ketil Bjørnstad und des amerikanischen Cellisten David Darling entfaltet Magie mit den ersten Klaviertönen, die tastend einen Raum beschreiben, der vorher noch nicht da war. Und kaum sind die drei Minuten vorüber, die das Stück dauert, will es scheinen, dieser Raum habe sich vor allem deshalb geöffnet, um zu zeigen, daß dahinter noch viele andere Räume sind… Sowohl das musikalische Material als auch die Zusammenstellung der sechzehn Stücke scheint beherrscht vom Streben Bjørnstads und Darlings, langsam, geheimnisvoll und leidenschaftlich zu sein. Ihre eigenen musikalischen Wurzeln verfangen sich dabei in Vorlagen aus der Renaissance, als Komponieren auch mathematischen Gesetzen gehorchte und Reinheit als objektivierbare Größe galt.”
“Panta rhei – alles fließt. Diese alte griechische Weisheit, nach der das Sein keine unverrückbare Konstante ist, sondern sich ständig in Bewegung befindet, ist im Denken und Fühlen jedes Künstlers präsent, der mit seinem Schaffen die vorgefundene Realität/Materie gestaltet, verändert, in die Zukunft weiterfantasiert”, floß es in Stereoplay wiederum aus Matthias Inhoffens Feder. “Der Norweger Ketil Bjørnstad – Komponist, Pianist, Buchautor – hat zu der Metapher des Fließens noch eine viel konkretere Beziehung. Er nahm für ECM bisher vier brillante, stilistisch einmalige und monumental gut klingende Alben auf, deren Titel allesamt um das Motiv des Wassers kreisten… Mit seiner fünften CD für die Münchner nimmt Bjørnstad erstmals Abschied von dieser Tradition. Dennoch ist auch bei den `Epigraphs' die Musik auf wunderbare Weise im Fluß – weich und formstreng zugleich, mitreißend gerade in ihrer Behutsamkeit. Ein Reigen berückend schöner Kammermusik-Stücke, zum großen Teil inspiriert von den Renaissance-Komponisten William Byrd und Orlando Gibbons.”
Bjørnstad ist auch der Kopf von The Sea, einem Quartett, das er seit nunmehr sechs Jahren leitet und zu dessen Besetzung außer David Darling noch der Gitarrist Terje Rypdal und der Schlagzeuger Jon Christensen gehören. Tatsächlich bildete sich das Duo von Bjørnstad und Darling, um gewisse Charakteristika, die bei den Improvisationen der Gruppe erstmals zum Vorschein gekommen waren, deutlicher herauszukristallisieren.
“Bei The Sea gab es von Anfang an Momente, in denen wir – nach sehr bewegten oder farbschillernden Passagen – vielleicht eine acht- oder sechzehntaktige Phrase von schlichter Reinheit oder Schönheit spielten”, rekapituliert David Darling. “Ohne Effekthascherei, ohne Vibrato auf dem Cello, wirklich Momente reiner Töne, in denen Ketil in völlig reduzierter und einfacher Art Piano spielte. Diese Dynamik hatte etwas Einzigartiges, das wir beide weiter vorantreiben wollten. Außerdem interessierte ich mich schon immer für Adagios oder generell langsam gespielte Musik und hatte bereits früher nach einem Pianisten gesucht, der eine ähnliche Sensibilität besaß. Die Möglichkeit, diese meine Ideen bei Aufnahmen mit Ketil gemeinsam erkunden zu können, war eine wunderbare Gelegenheit.”
Das Album “Water Stories” (ECM 1503), das Bjørnstad mit Rypdal und Christensen (sowie Bassist Bjorn Kjellmyr und Schlagzeuger Per Hillestad) aufnahm, führte 1994, nachdem David Darling dazugestoßen war, zur Gründung von The Sea. Das Quartett avancierte schnell zu einer festen Größe und präsentierte sich auf zahlreichen internationalen Jazzfestivals. Bjørnstad trat aber auch immer wieder mit anderen Formationen auf, die sich im Laufe der Jahre als eigenständige Ableger der Originalbesetzung von The Sea bildeten. Neben dem Duo mit David Darling, das auf den Alben “The River” und “Epigraphs” zuhören ist, gibt es beispielsweise auch ein Duo mit Terje Rypdal. Mit beiden Duos und dem Quartett The Sea war Ketil Bjørnstad vergangenes Jahr auf Welttournee.
Aufsehen erregte Bjørnstad auch mit seinen musikalischen Arbeiten für die beiden letzten Filme des französischen Regisseurs Jean-Luc Godard, die natürlich bei der Zusammenstellung der 5-CD-Box ""Histoire(s) du Cinema" (ECM New Series 1706) nicht unberücksichtigt blieben. Das norwegische Königshaus beauftragte Bjørnstad für den Jahreswechsel 1999/2000 zudem mit der Komposition und Aufführung eines Oratoriums.
“Grace” ist Ketil Bjørnstads jüngstes Werk für ECM. Nach Aussage Bjørnstads soll das Album einerseits die Musik der Zukunft feiern, zugleich aber auch eine Verbeugung vor der bereits existierenden Musik sein. Um diesen Spagat zu bewältigen, lud der der Pianist Künstler mit sehr unterschiedlichem musikalischen Background zu den Aufnahmesessions ein. Die Texte basieren auf der Poesie John Donnes (1572–1631). Donne gilt als der Begründer der “Schule der Metaphysik” in der englischen Lyrik und ist für seine Liebesgedichte, “Heiligen Sonnette” und Predigten bekannt. Die Texte drehen sich vorwiegend um ewige Themen wie das Leben, den Tod und nicht zuletzt die Liebe.
Eingespielt wurde “Grace” mit der aus dem Ensemble Bel Canto bekannten Sängerin Anneli Drecker, dem Bassisten Arild Andersen, Toningenieur Jan Bang (“sound sculpturing”), Percussionist Trilok Gurtu, Saxophonist/Sänger Bendik Hofseth und Gitarrist Eivind Aarset. Ketil Bjørnstad gelang es, diese sehr unterschiedlichen Individualisten zu einer homogenen Band zusammenzuschweißen.