Wenn es einen Preis für künstlerische Produktivität gäbe, dann wäre
Ketil Bjørnstad sicher einer der heißesten Anwärter auf diese Auszeichnung. Seit über 30 Jahren ist er nicht nur als Pianist und Komponist im Bereich des Jazz und der Klassik aktiv, sondern schreibt auch unermüdlich hochgelobte Romane, Lyrik und Biographien. Woher, wird sich da wohl mancher fragen, nimmt der mittlerweile 55jährige Norweger eigentlich die Energie für einen solchen Schöpfungsreichtum?
Mit “Devotions” legt Ketil Bjørnstad nun schon wieder ein neues Album vor. Es ist das jüngste einer beeindruckenden Serie ungemein eleganter Klangpoesien, die der Pianist 1993 mit dem ECM-Album “Water Stories” begann und dann mit “The Sea” (1995), “The River” (1997), “The Sea II” (1998), “Epigraphs” (2000), “Grace”(2001), “Before The Light” (2002), “The Nest” (2003), “Seafarer’s Tale” (2004), “Floating” (2005) und der epischen Solo-Piano-Dreifachbox “Rainbow Sessions” (2006) bis in die Gegenwart fortsetzte.
“Devotions” ist in gewisser Weise auch ein direkter Nachfolger des 2005 erschienenen Albums “Floating”, auf dem Bjørnstad erstmals in der “klassischen” Jazz-Trio-Besetzung (Piano, Baß, Schlagzeug) zu hören war. Damals begleiteten ihn Palle Danielsson und die aus New York stammende Marilyn Mazur, diesmal sind es der norwegische Bassist Arild Andersen und der dänische Schlagzeuger Alex Riel. Durch den Österreicher Wolfgang Puschnig, der hier Baßklarinette und Flöten spielt, wurde das Trio zum Quartett aufgestockt. “Es hat mir Spaß gemacht, ‘Floating’ einzuspielen. Und es wäre ein Leichtes gewesen, noch zwei oder gar drei weitere Alben im Trio aufzunehmen”, sagt der Pianist. “Aber durch die Hinzunahme von Wolfgang Puschnigs Instrumenten erweitert sich das Klangspektrum, und seit ‘Floating’ achte ich noch mehr auf die Melodie und denke darüber nach, welche Klangmöglichkeiten ich habe. Es ging mir darum, eine Balance zwischen einer intimen Herangehensweise und den Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Außerdem wollte ich ausprobieren, was ich in melodischer Hinsicht noch unternehmen kann.”
Wie so viele von Bjørnstads Werken klingt auch “Devotions” wie der Soundtrack zu einem Film, der erst noch gedreht werden muß. Die Musik beschwört durch die eng verwobenen Elemente der Komposition und Improvisation ausdrucksvolle Bilder herauf: Beispiele dafür sind etwa “White (The Innocence)”, “Red (The Passion)” und “Black (The Sorrow)” – zu denen Bjørnstad durch Edvard Munchs Gemälde “Der Tanz des Lebens” inspiriert wurde – und Stücke wie “The Moon Arising” und “The Tree In The Courtyard”, das einende Thema des Albums, das von bitter-süßen Erinnerungen an Orte und Assoziationen an vergangene Zeiten handelt.
“Für mich ist es mehr wie eine Kurzgeschichte, wobei einem die einzelnen Titel einen kleinen Hinweis auf den Handlungsablauf geben”, erläutert Bjørnstad. “Die eigene Wohnung, die zum privaten Konzertsaal wird – man hört in dieser Wohnung oder in jenem Haus Musik. Ich erinnere mich noch an meine alte Wohnung in Oslo, wo ich Platten von einigen sehr wichtigen Musikern hörte. Und wenn ich diese Musik heute höre, habe ich dabei noch immer die Dächer und den Himmel vor Augen, den ich damals dort sah, wenn ich aus dem Fenster blickte. Und ich erinnere mich daran, wie wichtig diese kleine Wohnung für mich und meine Musik war. Man spielt nachts Musik und dann beginnt es zu tagen und auf einmal klingt die Musik anders. Mich fasziniert auch der Gedanke, daß die Menschen in einer Großstadt oft Seite an Seite wohnen, ohne überhaupt irgendetwas über den anderen zu wissen.”
Erst im Laufe der Jahre, so Bjørnstad, sei ihm bewußt geworden, wie wichtig für seine Musik die Melodie, ihre Variation und ihre Entwicklung seien. “Mir ist klar geworden, was ich tun kann und was nicht, und so konzentriere ich mich auf das, was ich tun kann”, sagt er. “Ich habe gerne einen klaren melodischen Inhalt, nicht nur bei den Themen, sondern auch beim Improvisieren. Was sich in den letzten Jahren außerdem entwickelt hat, ist eine bewußtere Zusammenarbeit mit dem Toningenieur Jan Erik Kongshaug in seinem berühmten Rainbow-Studio hier in Oslo. Ich spüre, daß er die Fähigkeit besitzt, etwas aufzunehmen, was dem perfekten Pianoklang nahe kommt. Ich weiß einfach, daß die Dinge, die ich spiele, auch gehört werden, die Dynamik und die Obertöne gehen nicht verloren. Da kann man es wagen, weniger Töne zu spielen.”
Im Aufnahmestudio definiert Bjørnstad seine Musik. “Für mich ist die Situation im Studio sehr wichtig. Ich weiß, daß viele meiner Musikerkollegen erst Konzerte geben und danach sagen: ‘Okay, wir gehen jetzt ins Studio und nehmen auf.’ Ich fange lieber im Studio an, wenn die Musik sehr frisch und unverbraucht ist, anstatt zur Vorbereitung erst auf eine vielwöchige Tournee und dann ins Studio zu gehen. Denn ich glaube, daß man so das erste magische Gefühl für die Musik verliert. Ich gehe mit neuem Material ins Studio und alles ist noch ganz frisch, sehr aktuell und extrem verletztlich. Da die Studiotermine für mich so ungeheuer wichtig sind, bereite ich mich intensiv auf sie vor.”
Die Einfachheit und Reinheit der Kompositionen, die Bjørnstad für “Devotions” geschrieben hat, ist beeindruckend. Nicht minder die Art, wie die Musiker spontan auf sie reagiert haben. Puschnigs Baßklarinette und Flöten verleihen Bjørnstads Musik ätherische, schwebende Qualitäten und sorgten dafür, daß der Pianist ein neues Kapitel in der Geschichte seiner musikalischen Odyssee aufschlagen konnte. Bassist Arild Andersen und Schlagzeuger Alex Riel gestalten die Musik aus ihrem Inneren heraus mit. Andersens eindringlicher gestrichener Kontrabaß gibt drei Titeln eine leichte “Ambient”-Schattierung. “Wir erlebten so viele Überraschungen, als wir die Musik kreierten”, sinniert Bjørnstad. “Es ist aufregend, wenn man zu viert im Studio ist und alle voller Energie neue Dinge ausprobieren und die Musik voranbringen wollen.”
Aber daß “Devotions” so rundum gelungen ist, ist letztendlich auf die Handschrift, die Intensität und die Transparenz von Bjørnstads Piano zurückzuführen. Irgendwie schafft er es, jenen Hauch von Zeitlosigkeit zu kreieren, den man stets in seinen besten Werken finden kann. In dieser Musik steckt hart errungene musikalische Weisheit, die Bjørnstad auf kleinem Raum in ausdrucksvolle Emotionen kondensiert. So wie er in seine literarischen Werke die Freude der Musik einfließen läßt, so besitzt seine Musik auch etwas von der Qualität des schriftstellerischeren Geschichtenerzählers. Nicht zuletzt dadurch ist sie so einmalig.