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Meisterwerk mit Verspätung – neues Coltrane-Album erschienen

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Einspielung veröffentlicht Impulse! mit “Both Directions At Once” ein verschollenes Studioalbum von John Coltranes legendärem Quartett.
John Coltrane - Both Directions At Once: The Lost Album
John Coltrane - Both Directions At Once: The Lost Album
28.06.2018
Von den Betreibern des Impulse!-Labels könnte das Weiße Haus so einiges über das Nicht-Leaken lernen. Denn obwohl das Label seit Monaten an einem wirklich sensationellen Projekt arbeitete, sickerte davon vorab nichts an die Öffentlichkeit durch. Bis die New York Times am 7. Juni als weltweit erstes Medium die Katze endlich aus dem Sack lassen durfte: Impulse! hatte bisher unveröffentlichte Studioaufnahmen von John Coltrane und seinem legendären Quartett mit McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones entdeckt und diese unter dem Titel “Both Directions At Once: The Lost Album” heimlich, still und leise für eine weltweite Veröffentlichung vorbereitet. Coltranes Zeitgenosse Sonny Rollins verglich den Fund sogleich mit der Entdeckung einer “neuen Kammer in einer der Großen Pyramiden von Gizeh”!
“Wenn man das John Coltrane Quartet in den frühen bis Mittsechzigern live hörte, lief man Gefahr, sein gesamtes Verständnis von dem, was eine Performance ist, neu überdenken zu müssen”, schrieb Giovanni Russonello in seinem NYT-Artikel. “Das war eine bahnbrechende Band, ein beinah schon körperliches Geschöpf, mit einem Versprechen, das weit über die Musik hinauszugehen schien.” Russonello wies zudem darauf hin, dass Coltrane in den Jahren vor seinem epochalen Meisterwerk “A Love Supreme” mit seinem klassischen Quartett acht Alben für Impulse! eingespielt hatte, aber nur bei zweien davon – “Coltrane” und “Crescent” – sei es ihm gelungen, die Live-Ethik der Band auch im Studio zur Geltung zu bringen. Mit “Both Directions At Once: The Lost Album” wird nun endlich ein drittes Studioalbum veröffentlicht, auf dem das Quartett in derselben Weise agierte wie bei seinen atemberaubenden Live-Auftritten.
Das Album ist gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Mitgeschnitten wurde es am 6. März 1963 (einen Tag bevor am selben Ort der Klassiker “John Coltrane & Johnny Hartman” entstand) in Rudy Van Gelders Studio bei einer einzigen Session, bei der die Musiker einige der Stücke gleich mehrfach – auf unterschiedliche Art und in unterschiedlichen Konfigurationen – einspielten. Coltrane bemühte sich hier unermüdlich um kreatives Gleichgewicht. So entwickelte er einerseits neue eigene Melodien, formulierte andererseits aber auch bekannte Standards neu. Einige Stücke spielte er zunächst auf dem Tenorsax und dann auf dem Sopransax. Außerdem bediente er sich älterer Techniken wie den Arpeggio-Läufen seiner “sheets of sound”, experimentierte aber darüber hinaus auch mit falschen Fingersätzen und anderen neueren Klängen.
Zu den absoluten Höhenpunkten des Repertoires gehören natürlich die beiden nie zuvor gehörten Originale, die Coltrane auf dem Sopransax einspielte: das bluesige “Untitled Original 11383” und “Untitled Original 11386”, das für das Quartett einen bedeutenden Strukturwandel markierte, da es zwischen den Soli immer wieder auf das Thema zurückkommt, was für das Ensemble damals nicht typisch war. Neben diesen beiden Originalen ist “One Up, One Down” hier erstmals in einer Studioaufnahme zu hören, bei der sich Coltrane einen faszinierenden Schlagabtausch mit Elvin Jones liefert. “Impressions”, eine der bekanntesten und meist aufgenommenen Kompositionen Coltranes, wurde wiederum im ungewöhnlichen klavierlosen Trio-Format aufgenommen. Bei dieser Session entstand auch Coltranes erste Aufnahme des Standards “Nature Boy”, den er 1965 für das Album “The John Coltrane Quartet Plays” erneut einspielen sollte. Die zweite Fremdkomposition des Albums ist “Vilia”, eine Melodie aus Franz Lehárs Operette “Die lustige Witwe”. Die auf dem Sopransax eingespielte Version der Deluxe Edition ist der einzige Track dieser Session, der bereits früher einmal veröffentlicht wurde.
Dass die verloren geglaubten Aufnahmen jetzt das Licht der Welt erblicken, ist einzig der Tatsache zu verdanken, dass Coltrane ein sogenanntes Referenzband der Session nach Hause mitgenommen hatte. Die eigentlichen Masterbänder verschwanden spurlos in den 1970ern, nachdem ABC den Impulse!-Katalog übernommen hatte und in seinen Archiven Platz schaffen wollte. Das Referenzband, das glücklicherweise in einem ausgezeichneten Zustand war, fand sich im Nachlass von Coltranes erster Frau Naima.
Auch in Deutschland hat das am 29.9. weltweit erscheinende Album bereits ein großes Presse-Echo ausgelöst, so berichteten z.B. die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine und Die Welt über den Sensationsfund. “Both Directions At Once” erscheint neben den digitalen auch in gleich vier verschiedenen, von seinem Sohn Ravi Coltrane kuratierten physischen Versionen: einer CD + LP-Standard-Variante mit sieben Tracks sowie einer CD + LP-Deluxe-Edition mit sieben zusätzlichen Alternate Takes. Ein ausführliches Essay des Coltrane-Spezialisten Ashley Kahn findet sich in allen Formaten. Die Textbeileger der 180gr-LP bzw. Doppel-LP lassen sich zu einem Poster entfalten, auf dem Chuck Stewarts berühmtes Coltrane-Foto prangt.
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